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Puschkins Hase

"In Zusammenhang mit dem Hasen ist die Koitus-Symbolik sehr verbreitet. Es gibt zahlreiche Rätsel, in denen der Hase das männliche und der Kohl das weibliche Prinzip verkörpert. Wenn der Hase Kohl frisst, glauben Sie bloß nicht, das sei bloß so - das ist ein ernsthafter erotischer Akt. Letztlich bezieht sich das nicht nur auf den Hasen, sondern auch auf seine Körperteile ... Die Eier zum Beispiel. Bei den Deutschen war es üblich, zu Ostern gefärbte Eier zu suchen. Und wer brachte sie? Völlig richtig - der Hase!"

Rosemarie Tietze | 17.04.2001
    Bei den Slawen also kein Osterhase, dafür war das Tier sowohl Fruchtbarkeitssymbol als auch Vorbote drohenden Unheils. Es konnte sogar der Teufel in ihm stecken, wie die Petersburger Volkskundlerin Natalija Gerassimowa weiter ausführt: Dass schwangere Frauen bloß kein Hasenfleisch aßen, Gott behüte! Und sprang einem unterwegs ein Hase über den Weg, tat man gut daran, die Reise abzubrechen ...

    In Rußland ist einem Hasen unlängst eine wissenschaftliche Konferenz gewidmet worden. Einem Hasen, der am 24. Dezember angehoppelt kam. Was nicht auf Weihnachten verweist, denn die orthodoxe Kirche feiert das Fest erst im Januar. Sondern auf den historischen 24. oder, nach alter russischer Zeitrechnung, 12. Dezember des Jahres 1825. An diesem Tag hatte Alexander Puschkin auf seinem Gut Michailowskoje, wo er seit über einem Jahr, von aller Welt abgeschnitten, in der Verbannung saß, die Einsamkeit satt. Er schwang sich in den Schlitten, um sich verbotenerweise ins zwei Tagereisen entfernte Petersburg kutschieren zu lassen. Unweit der Gutsausfahrt kreuzte jedoch das Schicksal in Gestalt eines Hasen seinen Weg. Der abergläubische Puschkin nahm das böse Omen ernst und kehrte um. Wozu er auch allen Grund hatte, aber das konnte er an jenem Reisemorgen nicht wissen.

    "Es ist dies die Geschichte, wie Puschkin dem Gulag entging, weil er auf den Hasen gehört hat. Hätte er nicht auf ihn gehört, wäre auch er am 14. Dezember auf dem Senatsplatz gelandet und mit den Freunden zumindest nach Sibirien gekommen."

    Auf dem Petersburger Senatsplatz brach nämlich zwei Tage später der Dekabristenaufstand aus, die erste Revolution der russischen Geschichte. Viele von Puschkins Freunden waren beteiligt, und da der Dichter, wie er selbst einmal dem Zaren sagte, schon aus Freundschaft mitgemacht hätte, wäre sein Schicksal im sibirischen Bergwerk besiegelt gewesen. Dabei hatte er in seiner Klause Michailowskoje gerade 1825 jene Reife erlangt, die ihn, den von Gott und der Welt vergessenen Verbannten, in den dichterischen Olymp katapultieren sollte.

    1825 wurde er zum Genie der Weltliteratur, doch außer ihm selbst wusste das niemand. Die Wahl treffen, ob er schreiben sollte oder Revolutionär sein, das allerdings konnte er.

    Den Schriftsteller Andrej Bitow hat die Geschichte von Puschkins Hasen fasziniert, seit er mit zwölf in der Schule ein Referat über Puschkin halten musste. Der Hase geistert vielfach durch Bitows Prosa. Schon in sowjetischer Zeit verfolgte Bitow den Plan, dem Schicksalstier ein Denkmal zu setzen. Damals nahm ihn keiner ernst, wenn er unter Kollegen für das Hasendenkmal warb:

    "Ich hatte zwar die Idee, aber wenn ich mit der Spendenliste rumging, glaubten alle, ich würde für Wodka sammeln."

    Seit sich Russland nun ständig vor schicksalsträchtige Entscheidungen gestellt sieht, erschien das Hasendenkmal mit einemmal als gar nicht so abstruse Idee, symbolisiert es doch nach Bitows Vorstellung die für Russland neue FREIHEIT DER WAHL. Nun fand Bitow Mitstreiter und trieb im Land der Monumentaldenkmäler sogar Geld auf für das Antidenkmal.

    Ende 2000 ist es soweit: Ein Eisenbahnwaggon voller Künstler, Kritiker, Journalisten und Wissenschaftler macht sich auf aus Moskau ins Gebiet Pskow, zu den Puschkin-Wallfahrtsorten. Nachts gibt es im Schlafwagen ein großes Hallo, als ein Reisender ohne Fahrkarte entdeckt wird - Schwarzfahrer heißen auf russisch nämlich "Hasen". Am Morgen des 24. stapft dann eine große Festgemeinde durch den Wald des tiefverschneiten Michailowskoje, um am originalen Schauplatz den 175. Jahrestag des Hasensprungs zu begehen. An einer Lichtung, wo der Blick sich auf einen Teich und lieblich geschwungene Hügelzüge öffnet, hängen an den Bäumen Losungstransparente im bekannten Sowjetrot, "Ruhm dem Hasen" zum Beispiel. In der Mitte das Denkmal, historischen Werstpfählen nachgebildet, wie sie zur Zarenzeit als Entfernungsmaß an Landstraßen standen; obendrauf ein kleiner Bronzehase. Da in Russland ja nie alles glatt geht, ist der Sockel nicht rechtzeitig antransportiert worden. Aber man weiß zu improvisieren, so wird noch am Morgen der Einweihung ein Ersatz-Werstpfahl aus Holz gezimmert.

    AutorinAls das Denkmal enthüllt worden ist, legt Georgi Wassilewitsch, Direktor des Museums Michailowskoje, unter dem Klicken der Reporterkameras und umdrängt von Fernsehteams als Dankesgabe vor dem Hasen einen Kohlkopf nieder. Mitarbeiter des Museums bringen kunstvoll verzierte Mohrrübengebinde und schlichte Tannenkränze mit Schleifen; "Für den Hasen - das dankbare Russland" steht darauf oder "Für die Rettung unseres Vaters und Wohltäters - von den Puschkinisten". Andrej Bitow aber ist selig

    "Das muss ins Guiness-Buch der Rekorde: Unmittelbar vor der Wiederkehr von Christi Geburt ist das letzte Denkmal des zweiten Jahrtausends eingeweiht worden - und zwar gleichzeitig eingeweiht und errichtet, sowas hat die Geschichte noch nicht gesehen. Ich gratuliere allen zu dieser wahrhaft häsischen Schnelligkeit. Eine solche Freude, was soll ich da noch sagen. Ich bin zufrieden!"

    Als nächstes folgt im Festprogramm eine Vernissage der Petersburger Künstlergruppe Mitki; versteht sich, dass alle Kunstobjekte um den Hasen kreisen. Auf der großen Wiese in Michailowskoje werden Feuerwerksraketen abgeschossen und Luftballons fliegen gelassen. Ein Bankett schließt den Tag des Hasen ab.

    Ein Ereignis mit soviel Bezügen zu Geschichte und Gegenwart verlangt natürlich nach Interpretation. Die haben am Tag davor die literaturwissenschaftlichen, folkloristischen und landeskundlich-historischen Beiträge auf der Konferenz geliefert. Maria Virolainen, Star der russischen Puschkinistik, verteidigt den Hasen gegen die platte Deutung, er sei lediglich eine von Puschkin erfundene Legende:

    "Ob das Schicksal gleich die Gestalt des Hasen angenommen hat oder post factum, ist unwichtig: Die Dimensionen von Leben und Legende sind bei Puschkin in ihrem Bezug stets frei, sie kennen keine gegenseitige Fixierung symbolischer oder zeichenhafter Art."

    Igor Sotow wiederum, Literaturredakteur der angesehenen Zeitung "Nesawissimaja gaseta", sieht im Hasen vor allem die Chance für ein neues Puschkin-Bild:

    "Ein neuer Puschkin-Mythos, aber viel angenehmer als der frühere in sowjetischer Zeit. Auf der Ebene des Hasen rückt Puschkin wieder näher ans Volk, an Feld und Wald. Ein hübscher, warmer Mythos - schön und flauschig wie ein Hase."

    Die Puschkinistin Irina Surat findet, das Hasenereignis berge ungeahnte Potentiale für die Zukunft:

    "Diese Aktion wird noch zur Herausbildung der nationalen Idee beitragen. Dabei sollte man die Losung ausgeben, dass es nützlich wäre, allerorts Hasen zu züchten. Damit sie überall rumrennen, sagen wir, im Kreml, und zum Beispiel Putin oder überhaupt den Großen und Kleinen dieser Welt oft über den Weg laufen und sie davon abhalten, unbedachte Entscheidungen zu treffen."

    Während Bitow selbst mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Puschkin-Zeit aufwartet:

    "Ein Hase lief Napoleon über den Weg, als der nach Russland unterwegs war. Das Pferd scheute, Napoleon fiel von seiner ganzen Höhe herab und plumpste zu Boden, zog aber keine Schlüsse daraus und ritt weiter. Wozu das geführt hat, wissen wir seit der Schulbank. Puschkin war ja ein in jeder Hinsicht feinfühligeres Wesen. Interessant ist aber, ob er diese Geschichte mit Napoleon kannte - eine Geschichte seiner Zeit, sicher kannte er sie. Und da langlebige Hasen bis zu fünfzehn Jahre alt werden, hätte es derselbe Hase sein können. Wirklich, lachen Sie nicht, ganz im Ernst - als junger Rekrut widerstand er als erster Napoleon, und dann, grauhaarig, als Veteran der Schlacht von Borodino, fand er noch die Kraft und lief rechtzeitig Puschkin über den Weg.