Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Puschkins märchenhafte Siedlung

Alexander Puschkin besingt in seinem Poem "Die Fontäne von Bachtschissarai" die Krim, jene von Schwarzem und Asowschem Meer umgebene Halbinsel. Aus Petersburg verbannt, war es eine ganz fremde Welt, die er da erblickte. Die Pracht von einst ist allerdings dahin und Bachtschissarai mit seinem Palast nur noch eine ärmliche Tatarensiedlung.

Von Dietrich Möller | 16.09.2007
    "Gelobtes Land! Wie wunderbar
    Ist dein Gesicht, so voller Leben;
    Das Wasser deiner Flüsse klar,
    Wie funkelnd das Rubin der Reben,
    Welch ein Genuß, sich sattzusehn
    Am Erntesegen deiner Felder,
    Den Schluchten und den Bergeshöhn..."


    Alexander Puschkin besingt in seinem Poem "Die Fontäne von Bachtschissarai" die Krim, jene von Schwarzem und Asowschem Meer umgebene Halbinsel. Aus Petersburg verbannt, war es eine ganz fremde Welt, die er da erblickte. Erst vierzig Jahre zuvor - anno 1783 - war sie unter die Herrschaft der russischen Zaren gelangt; eine fremdartige Welt, geprägt von skythischer und griechischer Geschichte, von römischer und osmanischer und genuesischer, vor allem aber von der tatarischen. Über drei Jahrhunderte lang war die Krim ein Chanat der Tataren gewesen, hervorgegangen aus der Goldenen Horde, jenes riesigen, weit nach Europa reichenden mongolischen Reiches. Und das Herz des Chanats war eben jenes Bachtschissarai gewesen.

    Ein Name wie eine Verheißung, viel klingender als Sewastopol oder Simferopol, die jungen russischen Stadtgründungen südlich und nördlich von Bachtschissarai. Und übersetzt versprach er in der Tat einen "Palast in Gärten", im fruchtbaren, üppig grünen Tal des Flüßchens Tschuruk-Su.

    War es zu Puschkins Zeiten, wie es heute ist? Auf dem kleinen, lehmig gelben und staubigen Platz vor dem Komplex, in dem einst der Chan residierte, haben zehn, zwölf Tatarinnen unbestimmbaren Alters provisorische Stände aufgebaut oder einfach Tücher auf dem Boden ausgebreitet, um Gebackenes feilzubieten. "Bachlawa", rufen sie, "Bachlawa" - ein in Öl gegarter Blätterteig mit einer Füllung aus Honig und gehackten Nüssen. Im Angebot sind freilich auch die von Russen und Ukrainern geschätzten Sonnenblumenkerne und Piroggen, dazu ein paar billige Andenken.

    Der Weg durch den kleinen Ort hierher ließ so wenig einen "Palast" erwarten wie dieser Platz: Die Häuser entlang einer zerklüfteten Straße sind eher Katen, und kaum eines hat an seiner Vorderfront eine andere Öffnung als nur die Haustür; man verschließt sich fremden Blicken, so will es die muslimische Tradition der Tataren. Hier nun ist es ein unabhängig von diesem Brauch errichteter hoher Bretterzaun mit einer schmalen Pforte, der die Sicht auf den Palast verwehrt. Aber warum? Weil er ein Museum ist? Wäre es nicht einer dreihundertjährigen Geschichte und ebenso der Gegenwart gemäßer, böten die Marktfrauen bis in den Hof vor dem Palast ihr Gebackenes feil?

    Jener Hof ist größer als der Platz draußen, er ist schmucklos, nur ein paar alte Bäume werfen ihre Schatten auf die Fassade des Eingangsbereichs. Sie ist ein merkwürdiger Bau, orientalische Elemente mischen sich mit denen italienischer Palazzi, hier und da finden sich gar solche des Barock. Olga, unsere Fremdenführerin, erklärt auf ihre Weise, was wir sehen werden:

    "Also jetzt sind wir vor dem Schloss; begann man im Jahre 1503 zu bauen. Das Schloss kannte in seiner Geschichte 47 Chane. Natürlich, jeder, der auf den Thron kam, wollte etwas nach seinem Geschmack hier haben. Und dann wurde das Schloß umgebaut, dann wurden verschiedene Flügel angebaut. Und eigentlich, man hat es sehr lange gebaut, fast das ganze 16. Jahrhundert. Das Schloß ist im Stil, ja orientalischer Stil, aber im Innern wie in einem Zelt. Die Tataren haben keine Möbel gekannt. Sie haben auf dem Boden, auf den Teppichen, Kissen geschlafen und gesessen; gestorben genauso. Das ganze Leben auf dem Boden, auf den Teppichen. Die Tataren waren doch Nomaden, die haben gar keine Architekten gehabt, und da haben sie Baumeister eingeladen..."

    Manche dieser "Einladungen" hatte freilich ihre eigene Form:

    "Ein russischer Zar - Iwan III. - wollte Kathedralen im Kreml im Stil der Renaissance umbauen lassen. Er schickte einige Adelige als Botschafter nach Italien, mit gutem Geld, mit dem da ein Meister angeworben werden sollte. Sie engagierten einen Meister namens Alevis. Sie reisten über die Krim zurück, und da war gerade das Schloss im Bau. Der Baumeister wurde angehalten, praktisch verhaftet. Er sollte erst hier etwas bauen. Und erst nach drei Jahren wurde Alevis freigelassen."

    Na ja, ungefähr so war es. Man schrieb das Jahr 1503, und jener Meister Aleviso de Nueva war überhaupt der erste Architekt des Palastes, womit sich die italienischen Elemente erklären. Und nicht erst nach drei, sondern doch schon nach anderthalb Jahren, als der Hauptteil des Baus vollendet war, durfte er nach Moskau weiterreisen.

    Durch den Eingangsbereich gelangt man in einen kleinen, lauschigen Innenhof. Olga zeigt nach links:

    "Da vorne vor uns ist eine uralte Tür mit Eisen beschlagen, 16. Jahrhundert, der Eingang für die ausländischen Botschafter. Da durften sie rein; es war auch üblich, dass
    die Botschafter zahlreiche Geschenke mitbrachten. Und da, wo wir stehen, ist solch ein Platz, wo die Geschenke ausgebreitet wurden. Und jemand vom Chan kam raus und begutachtete. Wenn sie gut genug waren, durfte der Botschafter rein.

    Das Portal um diese schöne Tür ist auch alt, aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts, und obwohl da die arabischen Schriften sind, die den Chan verehren, ist da das Portal mit schöner Stuckarbeit im Stil der Renaissance..."

    In Stein geschlagene Ranken aus Blättern und Blüten - die Handschrift Alevisos, ebenso wie die Grundform des hinter dem Portal liegenden und trotz der bunten venezianischen Fenster etwas düsteren Saals, wo ehedem der Diwan, der Staatsrat tagte und auch Gericht gehalten wurde.

    Olga führt uns aus dem Saal in einen nächsten Hof mit einem Brunnen und weiter in einen von hohen Mauern umgebenen Garten und damit in den einst streng verbotenen Teil des Palastes, den Haremskomplex. Ehedem bestand er aus vier Gebäuden mit 73 Zimmern, heute ist nur noch eines mit vier Räumen erhalten. Sie sind eher klein und ihre Ausstattung - eine Bank, ein niedriges Tischchen und Hocker, dazu bescheidene Teppiche - haben nichts gemein mit den schwülen oder märchenhaften Interieurs, die uns zuweilen von Malern und Bühnenbildnern dargeboten werden. Aber es mag ja auch hier alles etwas aufwendiger gewesen sein - damals, als der Chan neben seinen vom Koran genehmigten vier Ehefrauen bis zu 200 Sklavinnen als Kurtisanen hielt.

    Puschkin allerdings folgte keinem jener überkommenen Klischees:

    "Man sieht sie ohne Unterlaß
    In gleicher Langeweile trauern.
    Sie leben hinter Kerkermauern
    Wie Blumen hinter Treibhausglas.
    Die Tage, Monate und Jahre
    Vergehn in ew'gem Einerlei.
    Der Jugendschönheit wandelbare
    Gestalt verändert sich dabei,
    Mit ihr die Neigung des Despoten. -
    Nur selten wird der Dulderin
    Hier eine Abwechslung geboten:
    Die Trägheit ist hier Königin."


    Ja, an diesem Ort will Puschkin zitiert sein, auch die auf seine Verse komponierte Ballettmusik, denn hier ereignete sich, was ihn überhaupt zu seinem Gedicht inspiriert hatte - hier und ein paar Schritte weiter in einem nächsten Innenhof, gleich hinter der allein dem Chan vorbehaltenen kleinen Moschee mit dem "goldenen Brunnen".

    In Olgas Worten trug es sich so zu:

    "Aber da ist der Tränenbrunnen, der viel mehr bekannt ist.... Der Tränenbrunnen war eigentlich am Anfang ein Grabmal, nämlich das Grabmal am Mausoleum der Lieblingsfrau des Chans, namens Diljara Biketsch. Sie war eine Sklavin, die in den Harem verkauft wurde. Der Chan war schon etwa fünfzig Jahre alt, das Mädchen blutjung, vielleicht 16, 17 Jahre, aber bildhübsch war sie auch. Der Chan hat sich verliebt, er hat sie geheiratet... Und dann hat er mit ihr sehr glücklich gelebt, sein Glück aber hat nicht lange gedauert. Nach einem Jahr war das Mädchen gestorben. Sie wurde von einer ... eifersüchtigen Konkubine, die früher vom Chan bevorzugt wurde, mit dem Messer gestochen. Und dann ließ der Chan ... ein Mausoleum bauen, ein Grabmal, wo jeder sofort verstand, wie traurig der Chan geblieben war."

    Ein Grabmal aus einer hohen rechteckigen weißen Marmorplatte, in deren Mitte ein schmalerer grauer Streifen eher eine in den Stein gekleidete Quelle zu sein scheint als der Auslauf eines Brunnens. Aus einer aus dem Marmor geschlagenen fünfblätterigen Blume tropft stetig Wasser in eine Schale darunter und von da in zwei kleinere zu ihrer Linken und Rechten, und dies wiederholt sich in zwei ebenso arrangierten Stufen, bis das Wasser am Fuße des Brunnens versickert. Es steht für die Tränen der Trauer, und die Schalen sind Allegorien für das von Tränen übervolle Herz.

    Eine anrührende Symbolik um eine traurig-schöne Geschichte, der Puschkin also sein Poem widmete, sein erstes großes:

    "Seit jener Zeit steht die Fontäne,
    Von Marmorplatten eingefasst,
    Zum Angedenken an die schöne
    Gefangene von Girejs Palast...
    Die Aufschrift ist verblasst.
    Doch hinter der Beschriftung steigen
    Die Wasser von dem Brunnengrund
    Und tropfen, ohne je zu schweigen
    Wie Tränen in das Beckenrund.

    So tut sich in der Mutter Tränen
    Ihr Schmerz um ein Verlornes kund."


    In einem späteren Gedicht, das er dem Poem anfügte, bekannte er:

    "Zwei Rosen hab ich dir gebracht,
    Du wunderbarste der Fontänen,
    Von Liebe flüsternd Tag und Nacht,
    Versiegst du nie gleich Dichtertränen."


    Und seither liegen in der oberen Schale eine rote und eine gelbe Rose, doch nicht nur für die, derer hier gedacht wird, sondern - so sagt man - für alle damals in den Harem gesperrten Frauen und Mädchen: Die rote für die dunkelhaarigen aus dem Süden, die gelbe für die blonden aus dem Norden.

    Puschkin machte übrigens die schöne Diljara Biketsch aus Georgien zu einem Fürstenkind namens Maria, die der Chan Girej von einem Raubzug nach Polen hierher verschleppte, während ihre Mörderin Sarema blieb, was sie war - eine Kaukasierin. Und ein Urteil fällte er weder über die eine noch die andere, sein Mitgefühl galt beider Frauen wie auch deren Schicksalsgenossinnen Los.

    Gegen Ende seines Gedichts löst er sich von dem, was einst geschah, und läßt Leser und Hörer an seinem Besuch in Bachtschissarai teilnehmen, wie es sich ihm im Jahre 1820 darbot.

    "Ich irrte in den Korridoren
    Umher und dort, wo der Tatar,
    Der Völker Geißel, nach den Kriegen
    Und räuberischen Beutezügen
    In Wohlleben versunken war.
    Den Luxus von dereinst beweist
    Das Gold, das in den leeren Räumen
    An Türen und an Wänden gleißt.
    Die Brunnen plätschern, Rosen säumen
    Die Wege, und es beugt sich fast
    Der Rebstock unter seiner Last.
    Ich sah die Gitter, hinter denen
    Dereinst vor langer Zeit den schönen
    Gefangenen, die hier gelitten,
    Die Bernsteinperlen mit der Spur
    Von Tränen durch die Finger glitten
    An ihres Rosenkranzes Schnur.
    Ich sah des Chans Begräbnisstätte.
    Auf weißem Marmor ruht
    Aus gleichem Stein ein Turbanhut.
    Ich hatte das Gefühl, als hätte
    Dies alles schicksalhaften Sinn.
    Die Pracht von einst ist ganz dahin.
    Der Chan, der Harem sind verschwunden;
    Es walten Stille, Traurigkeit..."


    Die Pracht von einst ist in der Tat dahin, und Gold gleißt kaum noch irgendwo. Als gut 30 Jahre vor Puschkin Katharina die Große die ihrem Reich gerade eingegliederte Krim besuchen wollte, geschah halt, was sich noch bis in unsere Tage zu Inspektionsreisen Regierender wiederholen sollte: Eilfertig wurde verändert, abgerissen, umgebaut und getüncht, um der Zarin ein ihr wohlgefälliges Bild zu bieten. Der das weiland ins Werk setzte, war übrigens jener Fürst Potemkin, dem ja auch nachgesagt wird, er habe durch allerhand Kulissenschiebereien wohlhabende Dörfer an Katharinas Weg in den Süden gezaubert. Jedenfalls ließ er Bachtschissarai umgestalten, wie er sich, wie man sich in Petersburg einen orientalischen Palast eben vorstellte. Die Zarin soll sich höchst entzückt gezeigt haben. Drei Jahrzehnte später aber war der Platz verlottert; Verfall und Brand und Diebstahl taten ein übriges, dass heute nur noch etwa ein Drittel der ursprünglichen Anlage erhalten ist, gepflegt freilich als Museum, was gewiß auch Puschkin zu danken ist. Eine Büste des Dichters ruht auf einer marmornen Säule gleich neben dem von ihm besungenen Grabmal.

    Draußen vor dem Palast preisen Tatarinnen immer noch ihr Gebackenes an:"Bachlawa, Bachlawa!" Sie werden es bis in den späten Nachmittag tun, bis der letzte Bus mit Touristen den Ort verlassen hat.

    Und Bachtschissarai nur noch die staubige, ärmliche Tatarensiedlung ist. Mit einem märchenhaften, verheißungsvollen Namen.

    Puschkin besuchte 1820 Bachtschissarai; das Gedicht schrieb er - im Stile Byrons - 1822, veröffentlicht wurde es weitere zwei Jahre später, als er selbst es schon als "Schund" bezeichnete. Indessen war es das erste, das ihm mit dreitausend Rubel eine höchst ansehnliche Summe eintrug. Verleger und Publikum waren halt anderer Meinung.
    Die Musik für ein Ballett auf Puschkins Poem schrieb Boris Assafjew. Es wurde im September 1934 vom Kirow-Ballett im damaligen Leningrad uraufgeführt.