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Push

"Als ich zwölf war, bin ich sitzengeblieben, weil mein Vater mir ein Baby gemacht hat. Ein Jahr bin ich nich zur Schule gegangen. Daß jetzt mein zweites Baby. Meine erste Tochter ist mongoloid, sie ist zurückgeblieben. Bin auch schon inner zweiten Klasse sitzengeblieben, da war ich sieben, weil ich nich lesen konnt (und immer noch inne Hose gemacht hab). Ich müsst inner elften sein und inne zwölfte kommen, damit ich n Abschluss machen kann. Bin ich aber nich. Ich bin inner neunten."

Walter van Rossurn |
    So lernen wir sie kennen: Precious Jones - stammelnd, auf Worten kauend, nicht gerade güldene Prosa, die da glänzt, nur verbaler Schweiß. "Worte sind auch gut - und was einer sagt", hat vor einigen Jahrzehnten ein entfernter Verwandter von ihr entdeckt: Franz Biberkopf in Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz". Seitdem hat die Menschheit enorme Fortschritte gemacht: Atompilze gezüchtet, endlich Männer auf den Mond gebombt und sonst noch gerottet und gerodet, was das Zeug hält. Seien wir ehrlich, eine Precious Jones hält uns nur auf. Wir müssen sie wohl leider abbuchen. Doch der Wohlstand war nie ganz billig. Insofern leuchtet ein, daß Precious Jones hinter den "natürlichen" Mauern lebt, die der Markt zieht, in einem Ghetto namens Harlem, schwarze Menschenhalde der Hochglanzzitadelle Manhattan, New York, USA.

    Aber wer im Himmel oder auf Erden hat dieses Mädchen da raus gelassen, damit sie uns Wehrlose mit ihren Stammeleien heimsucht? Darauf waren wir nicht gefaßt - auf dieses 170 Pfund schwere schwarze Monstrum, 16 Jahre alt, vom Vater zum zweiten Mal geschwängert, dann und wann auch stumme Dienerin der verwesungsduftenden mütterlichen Triebe. Precious Jones, die sich meist mit Fäusten ausdrückt und den Rest in die Hose macht, Precious beschreibt sich später erstaunlicherweise als "invisible" - unsichtbar. Doch man ahnt warum: Die Masse ihres Fleisches beherbergt niemanden, und nirgends in der Welt hallt ihr Name wider.

    Gewiß, der irdischen Gemeinheiten gibt es unersättlich viele. Aber da wir entschlossen die Welt nicht verändern wollen, warum sollen wir uns dann dieses besonders ekligen Falls erbarmen? Precious Jones enthebt uns der Antwort. Dieses unappetitliche Mädchen betört uns mit bloß einer Bewegung: Push - drücke, presse, stemm Dich dagegen. Und was so herausgedrückt wird, hat mit Heilung und Rettungsquatsch nichts zu tun. Es ist allein der Geburtsvorgang, durch den wir sichtbar werden, Menschen, das heißt Lebewesen, die hochentwickelt nur ahnen, daß sie nicht zu retten sind, doch: leben.

    "Push" preßt das Leben in die Welt. Precious Jones ist zwölf, und nachdem ihre Mutter sie, die Hochschwangere, mit der Bratpfanne verprügelt hat, vernimmt sie den Schlachtruf - "Push" - zum ersten Mal: aus dem Munde des Notarztes, der sie hält und versorgt, während sie ihr erstes Kind auf den schmierigen Küchenboden preßt.

    "Ich hatte einen megadicken Krach mit meiner Verlegerin, die wollte dem Buch den Titel ‘Das Leben der Precious Jones’ geben", erzählt Sapphire in New York. "Mir ging es aber nicht um ihr ganzes Leben, sondern darum, von ein paar Jahren in ihrem Leben zu erzählen, um die Leser an dieser unglaublichen Energie teilhaben zu lassen, an dieser - buchstäblichen - Geburtsarbeit, wenn ein Baby rauskommt, und mit der Precious sich selbst auf die Welt bringt. Deshalb nenne ich es ‘Push’."

    Von den Jahren dieser Geburt erzählt der Roman, doch nicht um uns am Ende mit wundersamer Rettung zu beglücken. Precious wird nicht Angela Davis noch Heilige, die geläutert in der Glut des Guten glimmt. Wir wissen nicht einmal, ob sie den Schutzhafen der Normalität sucht und findet gar. Ein vergiftetes Leben verwehrt die blasse Folklore des Einfach-Reinen. Wo weit hinter dem stummen Schmerz, den der stinkende Vaterschwanz erzeugt, eine Ahnung von Lust aufsteigt, da vermischt sich die Welt zu irrer Undeutlichkeit. Precious gebiert nicht Lichtermeere, sondern nur sich: ein Menschlein, das sich das Glück nimmt oder borgt, wo es gerade zu haben ist. Kurz, sie macht sich sichtbar.

    "Der Prozeß ist wichtiger als das Produkt", so Sapphire. "Und man darf nicht vergessen, in unserer Kapital-Gesellschaft ist das Produkt wichtiger als der Prozeß. ‘Push’ erinnert an eine andere Geschichte, die wir in unserer Zivilisation immer mehr vergessen, nämlich daß der Prozeß wichtiger ist als das Produkt. Ich war entschlossen einen realistischen Roman zu schreiben. Und ich war entschlossen zu zeigen, daß das Leben wert ist, gelebt zu werden, auch wenn es kurz ist, auch wenn du fett und häßlich bist, auch wenn du arm bist. Es geht nicht darum, daß jeder als Filmstar endet. Das ist unsere Variante von Faschismus in den USA: Wenn die Individuen nicht verheißen, Produkte zu werden, wenn sie unfähig sind, dann haben diese Wesen keinen Wert, kein Recht zu leben."

    Damit in Precious Jones ein Wort klingen kann, muß sie in sich den Echoraum der Sprache errichten, muß sie lesen und schreiben lernen, muß sie sich mit Worten sehen. Die Welt ist Verhandlungssache - Worte auch. Man kann ihnen nur trauen, wenn man sie lebt. Wie die Sprache lebt und zur Stimme unseres Lebens wird, hat vielleicht nie jemand bewegender und beunruhigender gezeigt als Precious Jones - wenn ihre ekstatische Hingabe an das Wort auf das rätselhafte Schimmern der Dinge stößt, langsam, bitter und widerständig. Im Lärm ihrer phonetischen Fehlzündungen, im schweißüberströmten Gebinde der Silben, in den Krämpfen des Unaussprechlichen, scheint die Geburt der Welt selbst sich zu ereignen. Vielleicht ist das aberwitzige Abenteuer, sich mit Worten selbst ins Leben zu stottern, die schönste Geschichte, die man über die Wonnen irdischer Mühsal erzählen kann. Und wie kühn muß eine Schriftstellerin sein, um die Schönheit der Sprache im Mund eines beinahe zum Vieh verrohten Mädchens zu entdecken. Wie kühn - und wie klug, die Schönheit mit Brüchigkeit zu schlagen. Übrigens ist keineswegs der ganze Roman aus der sprachsuchenden Ich-Perspektive geschrieben. Unauffällig wechseln verschiedene Erzählperspektiven einander ab. Und Gunter Blank hat dem vielschichtigen amerikanischen Original abgelauscht, was irgend möglich war.

    Sapphire hat uns eine groteske Heilige beschert: So häßlich, so gequält, so hoffnungslos, und doch entgeht sie den Zeremonien unserer eventuellen Güte. Schlimmer noch: diese stammelnde Fleischwalze braucht uns nicht und sucht uns deshalb heim. Erschüttert glauben wir, sie heimlich zu lieben. In Wahrheit beunruhigt sie uns. Sapphires Roman, der dem Gang eines schweren Mädchens Rhythmus gibt und dem Zungenkrampf seiner Sprache Halt, diese scheinbar pur lokale Geschichte aus dem Schattenreich der Geschichtsverlierer handelt am Ende von uns.

    "Die supereleganten Frauenzeitungen waren fasziniert, und ich habe Faxe von weiblichen Filmstars bekommen, die zutiefst bewegt sind von Precious Jones", so Sapphire über die Resonanz auf "Push". "Ich glaube, die Leute verstehen auf einmal, tief im Inneren, wieviel es gekostet hat, wieviel sie dadagegen arbeiten, um nicht als so eine Figur zu enden. Ich glaube, die Frauen spüren auch, wie sehr die Gesellschaft auf Schönheit pocht und was passiert, wenn du nicht mehr schön bist. Wir fühlen, wie wir selbst von Unsichtbarkeit bedroht sind."

    In Harlem, in der Bronx und an tausend anderen Orten der "brave new world" formuliert sich in apokalyptischer Deutlichkeit, was wir sonst nicht ahnen dürfen: Unsere Gesellschaft liebt die Menschen nicht. Sie haßt das nutzlos rohe Leben. In schweren Sinngewölben und auf mächtigen Kontrolltürmen mißhandeln wir das Leben als lösbare Aufgabe. Das irre Funktionieren polemisert gegen Vergeblichkeit und macht nieder, was nicht funktioniert.

    Ein Roman, der uns mit dem menschlichen Elend und schreienden Unrecht in Harlem konfrontieren wollte, der hielte unserer Art der Realitätsbilanz nicht stand, wäre menschlich nur, aber "realistisch" nicht. Denn weit sind wir gekommen in der Kunst, das Heer der Unbrauchbaren nicht mal mehr in der Verlustspalte aufzufahren. Sapphire verschmäht gelassen, unserer Grabeskälte ein paar Gerechtigkeitshappen abzuverlangen. Mitten im Abbuchunsgebiet unseres Wirtschaftens läßt sie uns etwas viel Schlimmeres entdecken: Precious Jones - tief versunken in die unlösbare Aufgabe ihres Lebens - gebiert sich, wird sichtbar bloß. Bitter fühlen wir nicht nur ihr Menschenrecht. Es kam nicht vor im irren Tumult der zu lösenden Welt. Wir auch nicht. Wir haben uns längst selber ins Unsichtbare verklappt. Uns aus den Augen verloren.

    Sapphire weiß, wovon sie schreibt, auch wenn sie in "Push" nicht ihre Geschichte erzählt. Sie wurde 1950 in Kalifornien geboren. Beide Eltern dienten in der Army. Die Tochter diente der väterlichen Lust, die die Mutter schützte. Später hat sie ihren bürgerlichen Namen aufgegeben, wurde Sapphire und lernte Tanz. In ihren Texten entdecken wir beste literarische Choreographie: die Sinnlichkeit des Körpers, die Energie der Bewegungen. Sie hat in allen möglichen Jobs gearbeitet und sich nebenher zur Lehrerin ausbilden lassen. Ganz allmählich und ohne literarische Ambition hat sie zu schreiben begonnen und viele Jahre in Harlem gelebt - genau in dem Haus, in dem auch Precious Jones wohnt. Als Lehrerin hat sie Hunderte wie Precious Jones kennengelernt und Hunderte, die niemals sichtbar wurden. Sapphire sagt heute, sie habe von diesen Mädchen viel mehr gelernt, als die je von ihr hätten lernen können. Diese heiter gelöste Schriftstellerin ist so wenig kokett, daß man ihr beinahe glauben möchte. Indes, in ihrem ersten Buch "American Dreams" aus dem Jahre 1994, einer Mischung aus Slam-Poetry und Kurzprosa, verrät sie, wie der Push-Strom in sie fuhr und zu ihr führte:

    "Einmal als ich ein kleines Mädchen war, das auf einem Militärgelände lebte/ war ich in der Turnhalle & der General kam rein & der General ist wie Gott oder der Präsident, wenn man glaubt (...) Alle standen auf - außer mir Die Aufseherin sah mich an & zischelte ‘Steh auf für den General!’ Ich sagte: ‘Mein Vater ist in der Armee, nicht ich' & ich blieb sitzen & 38 Jahre lang des Bockens & Fliegens des Grinsens & Kriechens & Bettelns da war eine stumme Zehnjährige in mir die sitzen geblieben war. Sie vielleicht ist der wahre amerikanische Traum.