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Putins versprochene Reformen

Wladimir Putin hat vor der Wahl viel versprochen - vor allen Dingen Reformen und mehr Demokratie. Seine Kritiker glauben nicht, dass das "System-Putin" demokratischer werden wird.

Von Gesine Dornblüth | 05.05.2012
    Eine Einfallstraße in Moskau. Ununterbrochen rauscht der Strom der Autos. Normalerweise. Doch nun ist die Straße gesperrt, alle Autos sind rechts ran gefahren. Ein Polizeiwagen braust heran. Kurz darauf rasen schwarze gepanzerte Limousinen Richtung Stadtzentrum.

    In einem der Autos sitzt Wladimir Putin, 59 Jahre, Premierminister Russlands. Dieses Schauspiel wiederholt sich mehrmals täglich. Doch dieser Abend ist ein besonderer. Es ist der 4. März. Putin ist auf dem Weg zu seinen Anhängern auf dem Manege-Platz am Kreml. Sein Wahlsieg steht fest. Am 7. Mai wird er auf den Präsidentensessel zurückkehren. Den Posten hatte er vorübergehend für Dmitrij Medwedew geräumt; die Macht abgegeben hatte er nie.

    Mit einer Träne im Auge schwört Putin am Wahlabend die Menschenmenge auf seine dritte Präsidentschaft ein:

    "Danke allen, die Ja gesagt haben zu einem mächtigen Russland. Ich habe euch gefragt: Werden wir siegen? Wir haben gesiegt! Wir haben heute gesiegt. Und zwar haben wir dank der überwäl¬tigenden Mehrheit unserer Wähler einen sauberen Sieg erlangt. Wir werden ehrlich und angestrengt arbeiten. Wir werden Erfolg haben. Und wir rufen alle auf, sich um die Interessen unseres Volkes und unseres Vaterlandes zu vereinen. Ich habe euch ver¬sprochen, dass wir siegen werden. Wir haben gesiegt. Ruhm sei Russland!"

    63,3 Prozent der Wähler hatten für Putin gestimmt. Ganz sauber war der Sieg allerdings nicht. Unabhängige Beobachter dokumentierten eine Vielzahl von Manipulationen am Wahltag. Und sie bewerteten den Wahlkampf als unfair. Das Putin-Lager hatte die sogenannten administrativen Ressourcen genutzt, um Druck auf Staatsbedienstete auszuüben. Außerdem wusste es das staatsnahe Fernsehen hinter sich.

    Es war vielleicht der am mühsamsten errungene Sieg in Putins Leben. Vor der diesjährigen Präsidentenwahl hatte es ernst zu nehmende Proteste gegen ihn gegeben, vor allem in Moskau, aber auch in vielen anderen Städten. Dementsprechend intensiv musste das Putin-Lager mobilisieren. Doch wer hat Putin gewählt, und warum?

    Vor zwölf Jahren, als er den altersschwachen, angeschlagenen Boris Jelzin ablöste und zum ersten Mal Präsident wurde, stimmten überwiegend Frauen mittleren Alters für Putin, Geringverdiener ohne höhere Bildung, Rentner. Sie dachten über den damals 47-Jährigen, dass nur er Ordnung im Land schaffen könne. Putin galt im Jahr 2000 als "starker Mann", als eine Art "Retter" der Russen. Damals erhielt er 53 Prozent der Stimmen.

    Putin löste die Erwartungen seiner Anhänger ein. Er stellte ein paar Oligarchen kalt. Superreiche wie Boris Beresowskij und Wladimir Gusinskij verließen das Land; Michail Chodorkowskij landete im Lager und sitzt dort bis heute. Damals begann Putin, sein Image als Macho zu zelebrieren – er ließ sich mit nacktem Oberkörper fotografieren und bändigte einen Tiger – den man allerdings zuvor vorsorglich betäubt hatte.

    In diesem Jahr haben sich die Russen aus anderen Gründen für Putin entschieden. Das hat das Levada-Zentrum, ein unabhängiges russisches Meinungsforschungsinstitut, herausgefunden.

    Zunächst einmal ist Putins Anhängerschaft gealtert und wohlhabender geworden. Die Soziologen des Levada-Zentrums charakterisieren den typischen Putin-Wähler heute als jemanden, der die landesweiten Fernsehsender guckt, konservativ, aber nicht verbittert und eher optimistisch ist. Zudem erwarten Putins Wähler nicht mehr, dass er aufräumt, sondern Stabilität garantiert. Sie haben ihn gewählt, weil sie keine großen Abenteuer wollen – und aus Mangel an Alternativen. Dementsprechend nimmt Putin vom Macho-Image Abstand.

    Das staatsnahe Allrussische Meinungsforschungszentrum WZIOM kommt in seinen Analysen zu dem Ergebnis: Putin hat den Status eines "nationalen Führers" verloren. Die Russen haben ihn aus nüchternen Erwägungen gewählt, nicht mit dem Herzen.

    Das bedeutet aber auch, dass die Russen Putin nicht mehr blind vertrauen.

    Im Winter gingen russlandweit über 100.000 Menschen trotz klirrenden Frosts auf die Straßen.

    Anfang April trat Putin noch einmal als Premierminister vor die Staatsduma. Eigentlich sollte er Rechenschaft über die Tätigkeit seiner Regierung ablegen. Er sprach aber vor allem über seine Pläne als Staatspräsident. Und die klangen teils wie ein Wunschzettel der oppositionellen Demokraten:

    "Ich bin überzeugt, dass wir die Bedeutung der Duma stärken müssen. Ebenso müssen wir die Position der regionalen Parlamente und der lokalen Selbstverwaltungen im ganzen Land festigen. Ich bin bereit, gemeinsam mit der Duma den Mechanismus parlamentarischer Untersuchungsausschüsse zu vervollkommnen, die Gerichtsbarkeit zu stärken, und die Exekutivorgane von Korruption zu heilen."

    Eine bemerkenswerte Wandlung. In den vergangenen zwölf Jahren hatte Putin als Präsident und Premierminister genau das Gegenteil bewirkt. Von seinen Beratern stammte das Schlagwort der sogenannten "gelenkten Demokratie", ein Widerspruch in sich. Putin baute die Machtvertikale auf und aus. Unter Putin verkam die Duma zum Abnick-Organ, wucherte die Korruption im Polizei- und Justizapparat, wurde der russische Föderalismus maximal eingeschränkt. Alle Macht dem Kreml, war die Parole. Und nun also plötzlich mehr Macht für die Regionen, die Justiz, die Parlamente, die Volksvertreter? Putin ging noch weiter:

    "Wir haben das Land nach all den Erschütterungen um die Jahrtausendwende nun aufgebaut und die postsowjetische Periode faktisch abgeschlossen. Eine neue Etappe der Entwicklung Russlands liegt vor uns. Wir werden eine staatliche, wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Ordnung schaffen, die das Wohlergehen der Bürger in unserem Land für ein Jahrzehnt im Voraus möglich macht."

    Nikolaj Petrov vom Moskauer Carnegie-Zentrum ist einer der profiliertesten Politologen in Moskau. Er hält es für undenkbar, dass Putin tatsächlich tut, was er in der Duma angekündigt hat. Denn das System Putin schließe Reformen aus:

    "Ich vergleiche das Regierungssystem Russlands immer mit einem riesigen Konzern, in dem es einerseits eine Gruppe wichtiger Aktionäre gibt, deren Namen wir gar nicht alle kennen, und andererseits Manager. Putin ist der Vorsitzende des Direktorenrates dieses Konzerns. Die Konzernspitze kann viele Entscheidungen nicht treffen, wenn einer der Großaktionäre ein Veto einlegt. Dieses System ist sehr träge und fest. Es gibt ja nicht mal eine formale Institution wie das sowjetische Politbüro, in dem alle Clans vertreten waren und Kompromisse aushandelten. Putin hat ein System errichtet, in dem nur er Beziehungen zu jedem einzelnen Aktionär unterhält, bilateral. Das macht ihn unersetzlich, und es zieht den Entscheidungsprozess bei jeder Frage sehr in die Länge, weil nacheinander mit jedem von ihnen gesprochen werden muss."

    Statt echte Reformen anzugehen, prophezeit Nikolaj Petrov, werde das System Putin Reformen lediglich imitieren. Ein Beispiel dafür gibt es schon:

    Wladimir Putin hatte die Gouverneurswahlen vor einigen Jahren abgeschafft, weil sie der Machtvertikale im Weg standen. Gouverneure ernannte fortan der Präsident. Die Rückkehr zur Wahl der Regionalchefs wird von vielen als Schritt in die richtige Richtung gefeiert.

    Aber die Reform hätte liberaler ausfallen können. Der Kreml hat sie im Nachhinein beschnitten. Es geht um den sogenannten "Filter": Das letzte Wort hat nämlich doch wieder der Präsident. Er kann nach Gutdünken Kandidaten von der Gouverneurswahl ausschließen. Wladimir Putin rechtfertigt das so:

    "In unserem Land besteht die Gefahr, dass auf dem politischen Markt Nationalismus und Separatismus angeboten werden. Und das ist eine Bedrohung für uns. Damit muss man sehr akkurat umgehen. Ich weiß noch nicht, wie die Filter aussehen werden. Sie sollen keine Last sein, und sie sollen keine Probleme für die Meinungsäußerung der Menschen darstellen. Aber sie müssen halbkriminelle und nationalistische Elemente, Menschen mit extremen Ansichten aussondern."

    Liberale Russen sehen diese Äußerung einmal mehr als Beleg, dass Putin der Demokratie zutiefst misstraut. So etwas wie der "mündige Bürger" ist ihm fremd. Wenn er überhaupt den Ansatz von Meinungspluralismus zulässt, dann nur als Zugeständnis an die Opposition, um die eigene Macht zu erhalten. Der Politologe Nikolaj Petrov:

    "Putin ist davon überzeugt, dass er die nationalen Interessen Russlands verteidigt. - Das ist seine Motivation: Er hat enorme Macht, und er glaubt er nutzt sie nicht für seine persönlichen Interessen, sondern für die Nation. Aber er fragt die Nation nicht, was sie will. Er glaubt, dass er selbst weiß, was die Interessen der Nation sind. Er ist eben ein Geheimdienstler. Das grenzt ihn bei aller Lernfähigkeit sehr ein. Er will und kann Systeme nicht verstehen, in denen es autonome Spieler gibt. Für jemanden mit einer halbmilitärischen Mentalität ist so et¬was wie Föderalismus völlig unverständlich: Wie kann es sein, dass ich der oberste Chef bin und trotzdem einen Gouverneur nicht für dessen Entscheidung entlassen kann? Putin akzeptiert niemanden als autonomen Spieler, niemanden, der nicht von ihm abhängt, und den er nicht 'umdrehen' kann."

    Gleichsam um sicher zu gehen, dass die Gouverneurswahlen keine unbequemen Kandidaten an die Macht bringen, hat "Noch-Präsident" Dmitrij Medwedew vor dem Inkrafttreten des Gesetzes auch noch etwa jeden fünften Gouverneur ausgetauscht und die Posten mit ihm gegenüber loyalen Menschen besetzt, unter anderem in der Moskauer Oblast, dem Umland der Hauptstadt. Auf diese Weise hat das Putin-Lager Zeit gewonnen. Der Politologe Nikolaj Petrov vom Moskauer Carnegie-Zentrum kritisiert diese Haltung aber als kurzsichtig:

    "Das heutige russische politische System ist sehr primitiv. Es kann ohne eine ernsthafte politische Reform nicht überleben. Ich meine, zuallererst braucht der Kreml selbst Reformen. Aber ich fürchte, im Kreml denkt man anders."

    Dafür spricht auch, dass die Machthaber seit Putins Wiederwahl wieder schärfer gegen dessen Kritiker vorgehen. Im März wurde der Geschäftsmann Aleksej Kozlow zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt, bereits zum zweiten Mal. Und das, obwohl seine frühere Verurteilung für unrechtmäßig erklärt worden war. Kozlow ist der Ehemann der Journalistin Olga Romanowa. Sie war eine der Anführerinnen der jüngsten Massenproteste gegen Wladimir Putin.

    Bereits wenige Tage nach der Wahl verhaftete die Moskauer Polizei Passanten, die mit den weißen Bändern der Protestbewegung über den Roten Platz spaziert waren. Hinweiszeichen, die darauf deuten, dass Putin nicht gewillt ist, Kritik widerstandslos hinzunehmen.

    Die volle Härte zeigte das Regime schließlich in Bezug auf die Frauen-Punkband "Pussy Riot": Moskau im Februar. Eine Gruppe junger Frauen tanzt vor dem Altarraum der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Bunte Strickmasken verdecken ihre Gesichter. Ein Punkgebet:

    "Mutter Gottes, befreie uns von Putin", singen die Frauen.

    Wenige Tage später werden drei von ihnen verhaftet. Sie kommen ins Untersuchungsgefängnis. Wegen der Sponti-Aktion droht ihnen bis zu sieben Jahren Haft. - Viele Russen finden diese Strafe unangemessen und gehen auf die Straße, um ihre Solidarität mit den Frauen auszudrücken. Doch auch gegen sie geht die Polizei vor.

    Es heißt, Putin persönlich kümmere sich um den Fall. Das ist nicht nachweisbar. Klar ist etwas anderes: Putin setzt zunehmend auf traditionelle Werte. Die orthodoxe Kirche, namentlich ihr Patriarch, ist dabei ein verlässlicher Partner. Vor der Wahl hatte sich das Kirchenoberhaupt offen für den Kandidaten Putin ausgesprochen.

    Welche Chancen hat die Protestbewegung, unter diesen Bedingungen auf die Politik einzuwirken? Im Winter skandierten sie auf den Straßen "Russland ohne Putin". Diese Forderung war illusionär, das haben mittlerweile auch die größten Idealisten eingesehen. Zwar finden in Moskau immer noch beinahe täglich kleine Protestaktionen statt, aber die Zahl der Teilnehmer ist in den Wochen nach der Wahl rapide gesunken. Zur Amtseinführung des alten, neuen Präsidenten wollen sie noch einmal in großer Zahl demonstrieren – aber sie werden Putins Wiedereinzug in den Kreml damit nicht verhindern können.

    Inna Karezina will sich davon nicht entmutigen lassen. Die Religionswissenschaftlerin gehört zur Gruppe "Widerstand" mit mehreren Hundert Aktivisten in vielen russischen Städten. Sie beobachten zum Beispiel Wahlen in den Regionen. In der zentralrussischen Stadt Jaroslawl haben sie so im März erreicht, dass der Kandidat der Opposition die Bürgermeisterwahl gewonnen hat.

    Auf diesem Weg müssten sie weiter machen, sagt Inna Karezina. Sie müssten das gesellschaftliche Bewusstsein ändern, die Menschen dazu bringen, nicht mehr alles hinzunehmen, sondern Verantwortung zu übernehmen, in ihrem Umfeld:

    "Wir alle gemeinsam haben Putin erst geschaffen: mit unserer Angst, mit unseren Gewohnheiten. Jetzt müssen wir uns auf lokaler Ebene organisieren und von unten auf die Macht Einfluss nehmen, sie ehrlicher und transparenter machen, sie kontrollieren, die Finanzen überprüfen. So können wir von unten auf die Situation im Land Einfluss nehmen."

    Diese Taktik kann Erfolg haben, meint auch der Politologe Nikolaj Petrov. Zumal, wenn sich die wirtschaftliche Situation in Russland verschlechtern sollte und die Unzufriedenheit der Bürger wächst.

    Putins Erfolg der vergangenen Jahre beruhte vor allem auf dem hohen Weltmarktpreis für das Erdöl. Öl und Gas machen etwa zwei Drittel der russischen Exporte aus. Dank der hohen Erlöse für Russlands Energieträger konnte Putin seinen Wählern zu einigem Wohlstand verhelfen.

    Verschiedenen internationalen Prognosen zufolge wird sich der hohe Ölpreis nur noch etwa zwei bis drei Jahre halten. Putin hat viele Wahlversprechen gemacht. Sie einzulösen, wird ohnehin teuer. Das Finanzministerium schätzt die damit verbundenen Ausgaben auf zwei Prozent des Bruttosozialprodukts.

    Wenn die Einnahmen aus dem Energieexport sinken, könnte es eng werden – und die Proteste könnten erneut an Zulauf gewinnen. Der Politologe Nikolaj Petrov wagt eine Prognose:

    "Eine kluge Regierung wird nicht versuchen, diese Prozesse aufzuhalten, sondern sie wird sich anpassen. Putin ist zwar klug, aber er ist in seinen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, und er ist unfähig diese Prozesse zu verstehen. Und deshalb kann er sie auch nicht zu seinen Gunsten nutzen, sondern er wird versuchen, sie aufzuhalten. Das führt früher oder später dazu, dass die politische Elite Putin als Hindernis für die notwendigen Reformen wahrnimmt. Und dann muss Putin gehen. Das wird lange vor Ablauf seiner Amtszeit geschehen."

    Soweit gehen in Russland allerdings nur wenige. Einer aktuellen Umfrage des Levada-Zentrums zufolge erwarten fast dreißig Prozent der Russen, dass Wladimir Putin nicht nur die nächsten sechs Jahre, sondern sogar zwei Amtszeiten Präsident bleiben wird, bis zum Jahr 2024 also. Und elf Prozent der Russen glauben sogar, Putin werde im Kreml bleiben, solange er wolle.

    Dass so schnell keine Veränderungen an Russlands Spitze zu erwarten sind, machte Noch-Präsident Dmitrij Medwedew vor wenigen Tagen bei einem seiner seltenen Fernsehinterviews deutlich. Auf die Frage, wie lange das Tandem Medwedew-Putin noch erhalten bleibe, sagte er:

    "Was die Perspektive unserer Arbeit betrifft: Machen Sie sich locker. Das ist für lange Zeit."