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Putschdrohungen, Präsidentschaftsstreit und Christenmorde

Als Außenminister hat sich Abdullah Gül Respekt im In- und Ausland erworben. Stets mit einem spitzbübischen Lächeln unterwegs, stand Gül als türkischer Chefdiplomat bislang über allen innenpolitischen Turbulenzen und bot seinen innenpolitischen Gegnern wenig Angriffsfläche. Seine Nominierung als Staatspräsident sorgt jetzt allerdings in verschiedenen Bevölkerungskreisen für Mißtrauen.

Eine Sendung von Gunnar Köhne | 30.04.2007
    Vergangenen Mittwoch in Ankara. Außenminister Abdullah Gül tritt vor die Presse. Wenige Minuten zuvor war er von der Fraktion seiner Entwicklungs- und Gerechtigkeitspartei AKP zum Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten nominiert worden. Der 56jährige weiß, dass er ein Kompromisskandidat ist.

    Ministerpräsident Erdogan selbst hätte gern für den Präsidentenposten kandidiert - es wäre der Höhepunkt seiner steilen politischen Karriere gewesen. Doch Massenproteste und Widerspruch aus der allmächtigen Armee und der alten kemalistischen Elite ließen ihn zurückschrecken. Gül gilt als treuer Weggefährte Erdogans. Beide kennen sich aus gemeinsamen Zeiten bei der islamistischen Vorgängerpartei der AKP, der Wohlfahrtspartei REFAH. Als Erdogan nach seinem Wahlsieg 2002 wegen einer Vorstrafe das Amt des Ministerpräsidenten nicht sofort antreten konnte, übernahm Gül den Posten für ein paar Wochen - sozusagen komissarisch. Nun, kurz nach seiner Nominierung als Staatspräsident, wendet sich Gül an die Öffentlichkeit:

    "Ich werde, so ich gewählt werde, dieses Amt auf dem Boden unserer Verfassung ausüben - daran sollte niemand zweifeln. Die verschiedenen Meinungen und Interessen, die verschiedenen Religionen und Ethnien gehören zum Reichtum dieses Landes und unserer Demokratie. Als Präsident will ich alle Gruppen der türkischen Nation im Rahmen der mir von der Verfassung gegebenen Befugnisse zu vertreten versuchen."

    Diese versöhnlichen Worte ändern - wie sich schnell herausstellt - wenig an dem Misstrauen, das die Opposition auch Gül gegenüber hegt. Am meisten stören sich die Kemalisten an Güls Ehefrau Hayrünisa - denn die trägt wie Erdogans Gattin ein islamisches Kopftuch. Eine First Lady mit Kopftuch - diese Vorstellung ist vielen ein Gräuel. Und hatte Frau Gül nicht sogar die Türkei vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof verklagt, weil ihr als Kopftuchträgerin der Zugang zu den Universitäten des Landes verwehrt blieb? Auch wenn sie diese Klage zurückzog, nachdem ihr Mann Außenminister geworden war - die AKP will die Diskriminierung von Kopftuchträgerinnen gerne abschaffen. Abdullah Gül verteidigt denn auch das Kopftuch seiner Frau als persönliche Entscheidung, die es in einer freien Gesellschaft zu respektieren gelte:

    "In einer Demokratie hat jeder Bürger unveräusserliche Grundrechte. Die strikte Achtung dieser Grundrechte würde viele Konflikte in der Türkei lösen."

    Als Außenminister hat sich Abdullah Gül Respekt im In- und Ausland erworben. Stets mit einem spitzbübischen Lächeln unterwegs, stand Gül als türkischer Chefdiplomat bislang über allen innenpolitischen Turbulenzen und bot seinen innenpolitischen Gegnern wenig Angriffsfläche. Die EU-Bewerbung seines Landes hat er - unbeirrt von schrillen nationalistischen Tönen - ruhig vorangetrieben. Erst Mitte April dieses Jahres stellte Gül ein ehrgeiziges Reformprogramm vor, das mehrere hundert neue Gesetze und Regierungsverordnungen vorsieht. Mit Hilfe dieses Pakets - darunter Änderungen im Umweltrecht, in der Verkehrspolitik und im Wettbewerbsrecht - will die Türkei in schon sieben Jahren EU-Mitgliedsreife erlangen. Doch die Kemalisten interessiert weniger die EU-Frage, als vielmehr das Kopftuch von Hayrünisa Gül, meint die Istanbuler Publizistin Nuray Mert:

    "Abdullah Gül ist moderater als Erdogan, jedenfalls sehen das die meisten so. Erdogan polarisiert, er hat - anders als Gül - Streit mit vielen Gruppen - sogar mit einzelnen Vertretern der Medien! Aber trotzdem wird Gül auf die gleichen Vorbehalte der Säkularisten treffen. Sie werden nicht locker lassen, ihnen reicht Güls politischer Hintergrund."

    Eine treffende Vorhersage, wie sich zeigt. Im ersten Wahlgang am vergangenen Freitag fehlten Abdullah Gül 10 Stimmen zur erforderlichen Zweidrittelmehrheit - die Opposition hatte die Parlamentssitzung wie erwartet boykottiert. Spätestens im dritten Wahlgang in zehn Tagen jedoch genügt die einfache Mehrheit der Abgeordneten, und die ist dem Kandidaten eigentlich so gut wie sicher.

    Doch am selben Tag, kurz vor Mitternacht, meldete sich der türkische Generalstab auf seiner Internetseite mit einer harschen Erklärung zu Wort:

    "Die türkischen Streitkräfte sind die unbedingten Verteidiger des Säkularismus. ... Die türkischen Streitkräfte verfolgen die Lage mit Sorge. ... Sie werden ihre im Gesetz festgelegten Aufgaben erfüllen."

    Viele sehen in diesen Worten eine versteckte Warnung vor einem Militärputsch. Dreimal schon in der Geschichte der türkischen Republik haben die Generäle gewaltsam die Macht an sich gerissen, wenn sie die verfassungsmäßige Ordnung durch radikale Kräfte bedroht sahen - zuletzt 1980. Und immer gingen den Interventionen ähnlich drohende Erklärungen voraus.

    Andere fühlten sich an den so genannten "postmodernen" Putsch von 1997 erinnert. Damals drängte das Militär den islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan mit einer ähnlich ultimativen Verlautbarung zum Rücktritt.

    Als Beispiel für die Unterhöhlung des säkularen Staatsprinzips nennen die Generäle in ihrer Erklärung unter anderem einen Vorfall aus der Stadt Denizli: Bei einer Veranstaltung in einer Grundschule Mitte April waren in einem Theaterstück kopftuchtragende Mädchen aufgetreten.

    Bereits im März veröffentlichte eine Istanbuler Zeitschrift die geheimen Tagebücher eines Ex-Generals, in dem dieser schildert, wie einige seiner Kameraden bereits vor drei Jahren Putschpläne gegen die Regierung Erdogan hegten. Generalstabschef Yasar Büyükanit nannte die Umsturzberichte zwar eine Lüge, die Redaktion des Blattes jedoch bekam Besuch von der Staatsanwaltschaft, kurz darauf stellte der Verleger die Zeitschrift ohne Begründung ein.

    Der neue Armeechef Yaschar Büyükanit lässt öffentlich die Muskeln spielen - und dass die Regierung mutig betont, der Generalstab unterstehe "der Befehlsgewalt des Ministerpräsidenten" scheint sie sowenig zu beeindrucken wie der Protest aus Brüssel. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn forderte die Militärführung auf, die Präsidentenwahl als demokratischen Vorgang zu respektieren. Und er fügte hinzu: Die Abstimmung sei ein Test für die Achtung der türkischen Streitkräfte vor der Demokratie.

    Doch Generalstabschef Büyükanit hat mehrfach deutlich gemacht, dass sich Europa nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einmischen solle, beispielsweise in die Minderheitenfrage. Überhaupt hat der General über die EU-Mitgliedschaftsbewerbung seines Landes noch kein einziges gutes Wort verloren. In seinen Reden fällt Europa oft in einem Atemzug mit Iran oder Irak.

    Am Wochenende forderten erneut hunderttausende einen Verzicht der Regierungspartei AKP auf den Posten des Staatspräsidenten. Doch die Regierung Erdogan will sich weder dem Druck der Kasernen noch der Straße beugen - sie hält an ihrem Kandidaten Abdullah Gül fest. Höben sie dennoch einen Mann oder eine Frau der kemalistischen Elite auf's Schild, stünden sie in den Augen ihrer eigenen religiös-konservativen Anhänger als Verlierer da: Und das wäre eine denkbar schlechte Ausgangsposition für die im November geplanten Parlamentswahlen.

    Anfang April in Ankara. Zehntausende haben sich an dem Ort versammelt, der ihnen am allerheiligsten ist: dem Mausoleum von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Auch sie sind zusammengekommen, um die Republik vor dunklen Kräften zu bewahren - gemeint ist die religiös gesinnte AKP.

    Viele glaubten die Spaltung zwischen Kemalisten und Religiösen in der Türkei als überwunden. Schließlich hat die AKP - ganz im Sinne Atatürks - die Türkei auf den Weg in die EU gebracht, und sie hat dem Land fünf Jahre wirtschaftlichen Aufschwung und politische Stabilität beschert. Doch nun, mit der bevorstehenden Übernahme des Präsidentenamtes durch die AKP ist der Konflikt wieder da und droht das Land zu lähmen. Die Wogen schlagen deshalb so hoch, weil in der Türkei der Präsident nicht nur das Land, sondern den Staat verkörpert.

    Und der Staat, das ist die alte kemalistische Elite mit dem Militär an der Spitze, der Justiz und der zentralisierten Bürokratie. Im Präsidentenpalast von Ankara hatten bislang - angefangen von Mustafa Kemal Atatürk, überwiegend ehemalige Generäle oder andere höhere staatliche Funktionsträger regiert. Abdullah Gül aus Kayseri wäre Turgut Özal, der Ende der achtziger Jahre das höchste Staatsamt innehatte, der zweite Aufsteiger aus der anatolischen Provinz auf dem Präsidentenstuhl.

    Würde Gül Präsident, so fürchten seine Gegner, hielten die gemässigt-religiösen nahezu alle staatlichen Fäden in der Hand. Denn der Staatspräsident muss vom Parlament beschlossene Gesetze bestätigen, er ernennt höchste Richter sowie die Mitglieder für die staatlichen Kontrollorgane der Medien und der Hochschulen.

    Der bisherige Amtsinhaber Ahmet Sezer, ein ehemaliger Verfassungsrichter, galt der Opposition als letztes Bollwerk gegen die Religiösen. Unermüdlich legte er gegen Gesetze und Regierungserlasse sein Veto ein, er stellte sich der Privatisierung von Staatsbetrieben in den Weg und behinderte auch zahlreiche Reformvorhaben für den EU-Beitrittsprozess.

    Stehe erst einmal in jeder staatlichen Behörde ein Religiöser an der Spitze, drohe die Islamisierung der Gesellschaft, argmentieren die Kemalisten. Stimmen auf einer Anti-Erdogan-Demonstration:

    "Die nennen das gemäßigter Islam. Aber am Ende kommt die Scharia. Wir müssen die Republik verteidigen!"
    "Erdogan und die anderen wollen uns Frauen heimlich die Errungenschaften der modernen Türkei wegnehmen."

    Ein merkwürdiger Vorwurf, denn im Zuge der Reformen für den EU-Beitritt wurde das türkische Zivilgesetz modernisiert - und die Rechte der Frauen deutlich gestärkt: Bei Scheidung etwa steht den Frauen neuerdings die Hälfte des ehelichen Besitzes zu, die Strafen für so genannte Ehrenmorde wurden verschärft und die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Die Türkei habe sich unter der AKP gewandelt, sei liberaler geworden, findet der Politologe Dogu Ergil und sieht die kemalistische Nomenklatura mit ihrem konservativen Weltbild in der Defensive:

    "Diese Leute fühlen sich in die Ecke gedrängt. Sie sehen ihr Weltbild bedroht. Sie reden davon, dass Staat und Nation in Gefahr seien. Doch diese Menschen beschwören eine Welt, die es nicht mehr gibt. In dieser Welt hatten sie es sich gemütlich eingerichtet. Aber mit der Globalisierung und den weltweiten politischen Veränderungen schritt zuhalten - dazu fehlen ihnen die mentalen Voraussetzungen."

    Die Kemalisten halten insbesondere drei Prinzipien des Atatürkschen Erbes für unantastbar: den Laizismus, das heißt die Trennung von Staat und Religion, die Einheit des Staates und die Unabhängigkeit des Landes. Sie sehen ihr Land im Inneren wie im Äußeren von Feinden bedroht. Auf den Großdemonstration der vergangenen Wochen gaben darum neben anti-islamistischen auch extrem nationalistische Parolen den Ton an.

    Kritisiert werden fast alle Staaten und Institutionen, mit denen die Türkei mitttlerweile gute Beziehungen pflegt: Die Europäische Union und die USA genauso wie der Internationale Währungsfonds. Die Privatisierung von staatlichen Betrieben bezeichnen sie als Ausverkauf des Landes, selbst den Landerwerb von Ausländern wollen sie beschränken.

    Auch vor einer angeblich zunehmenden Missionierung durch christliche Ausländer warnten die Redner auf der Anti-Regierungs-Demonstration in Ankara vor drei Wochen. Wenige Tage später wurden drei Mitarbeiter eines christlichen Verlages in der anatolischen Stadt Malatya auf brutale Weise umgebracht - darunter ein Deutscher. Die Täter waren offenbar aufgehetzte rechtsradikale Jugendliche.

    Gottesdienst in der protestantisch freikirchlichen Gemeinde von Istanbul-Besiktas. Vor der Eingangstür steht ein Polizeiauto - drinnen aber herrscht trotzdem Angst. Im Gottesdienst wird den getöteten Glaubensbrüder gedacht. Es kommen weniger Besucher als gewöhnlich - und die, die kommen, wollen unerkannt bleiben. Niemand will Interviews geben. Die Gemeinde von Besiktas hat gerade einmal 40 Mitglieder.

    Es sind überwiegend Türken, die den Gottesdienst besuchen - sie wurden als Moslems geboren und sind zum Christentum übergetreten. Solche Konvertiten sind bei radikalen Nationalisten und Islamisten besonders verhasst.

    Pastor Kaan Koryürek kannte die Getöteten gut. Er ist entsetzt über die Welle des radikalen Nationalismus, den er für die Intoleranz gegenüber Andersgläubigen verantwortlich macht. Dabei leben nur 0,1 Prozent Christen in der Türkei - so wenige wie in keinem anderen muslimischen Land:

    "Wenn wir uns zu unserem Glauben bekennen, kann es passieren, dass wir unsere Arbeit und unsere Freunde verlieren. Viele werden auch aus ihrer Familie ausgestoßen. Und an die ständigen Drohungen haben wir uns fast schon gewöhnt."

    Doch die staatliche Religionsbehörde, die Armee und nationalistische Parteien wettern gegen christliche Ausländer und werfen ihnen die Spaltung des Landes vor. Missionieren ist zwar nicht mehr verboten in der Türkei, doch wer Bibeln verteilt, wird trotzdem verhaftet. Dafür genügt der Vorwurf, der Christ habe den Islam beleidigt.

    Fünf Morde in 13 Monaten - viele türkische Christen fürchten um ihr Leben. Vom Staat fordern sie Schutz und sie hoffen auf eine weitere Annäherung ihres Landes an die Europäische Union. Pfarrer Kaan Koryürek:

    "Die Verfassung garantiert uns Religionsfreiheit. Aber andere Gesetze sind da nicht so eindeutig, auch wenn sich im Laufe des EU-Prozesses einiges für uns gebessert hat. Aber der Staat weigert sich immer noch, uns als Kirchengemeinde anzuerkennen."

    Von Seiten der Armeeführung gab es zu den Morden von Malatya kein einziges Wort. Stattdessen wurde bekannt, dass an junge Rekruten eine DVD verteilt wird, auf der vor der Gefahr ausländischer Missionare gewarnt wird.

    Zuviele Freiheiten bedrohen die Stabilität und den inneren Frieden des Landes, sagt das kemalistische Establishment, allen voran die Armeeführung. Beispiel:

    Wer Kurden zuviele Rechte einräume, ermutige bloß die bewaffnete kurdische Arbeiterpartei PKK. Die Regierung Erdogan hatte mit der Legalisierung der kurdischen Sprache immerhin ein paar Forderungen der EU erfüllt. Selbst kurdischsprachige Fernsehprogramme sind seit ein paar Jahren zugelassen.

    Für den Generalstab sind solche Zugeständnisse jedoch ein Unding. Die Gefechte zwischen der PKK und der Armee im Südosten haben seit gut einem Jahr wieder zugenommen - mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Erst am Wochendende wurden zwei Soldaten und fünf Aufständische getötet. Armeechef Büyükanit betont das Recht seines Landes, im Kampf gegen die kurdische Guerilla auch dessen Lager im Nord-Irak zu bekämpfen. Schon jetzt stoßen türkische Truppen auf der Jagd nach kurdischen Kämpfern immer wieder auf irakisches Territorium vor. Vor einer Invasion des Gebiets allerdings warnen ihn sowohl die USA als auch die EU. Es scheint jedoch, dass die türkischen Generäle auch diese Warnungen wenig kümmern. Im Grenzgebiet werden seit Wochen Truppen zusammengezogen.

    Die türkische Republik sei so bedroht wie nie zuvor in ihrer Geschichte, behauptet die Armeeführung sogar. Jenseits der Grenzen die Separatisten, diesseits die Islamisten.

    Die Gräben zwischen den konservativ-religiösen und den kemalistischen Kräften in der Türkei sind so tief wie nie zuvor. Doch viele meinen, dass es weniger eine Auseinandersetzung um das Verhältnis von Religion und Staat ginge - sondern um einen schlichten Machtkampf. Dabei werde der Säkularismus auch von der Mehrheit der Kopftuchträgerinnen gar nicht mehr bestritten, sagt die Publizistin Nuray Mert:

    "Sie begehen den großen Fehler zu glauben, der Säkularismus sei in Gefahr und sie müssten ihn, sozusagen als Elite, verteidigen. Aber das stimmt nicht. Der Säkularismus ist längst fest verwurzelt in der Türkei, vielleicht weniger als politisches System, aber doch als eine Art "way of life". Wenigstens die Hälfte der Bevölkerung ist nicht mehr bereit ihren modernen, westlichen Lebensstil aufzugeben und steht gefährlichen Tendenzen aus konservativen oder islamistischen Kreisen misstrauisch gegenüber."

    Nicht der Säkularismus, sondern die Demokratie stehe in der Türkei in diesen Tagen auf dem Spiel, findet auch der türkischstämmige Europaabgeordnete der Grünen, Cem Özdemir. Die kemalistische Nomenklatura des Landes - mit und ohne Uniform - könne zwar mit den Sympathien des Westens rechnen, wenn sie gegen das Kopftuch zu Felde zieht. Dass diese Kreise darüber hinaus wenig anzubieten haben für den Fortschritt des Landes, werde dabei leicht übersehen:

    Ein Ausweg aus der derzeitigen Krise könnten vorgezogene Neuwahlen sein. Einzelne Vertreter der Regierungspartei haben bereits angedeutet, dass sie sich darauf einlassen könnten. Der bisherige Staatspräsident Sezer würde in diesem Fall für eine Übergangsperiode weiter regieren. Doch was, wenn - anders als die Opposition hofft - die gemäßigt-religiöse AKP erneut als Sieger ins Parlament einzieht? Der Streit ums Präsidentenamt ginge wieder von vorn los.

    Die EU-Kommission forderte beide politischen Lager in der Türkei auf, ihren Konflikt unter Beachtung demokratischer Spielregeln austragen. Doch ob Botschaften aus Brüssel derzeit in Ankara überhaupt gelesen werden, ist fraglich. Nie zuvor war der EU-Beitrittskandidat so weit von Europa entfernt wie in diesen Tagen.