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Pynchon in der Kritik

Literaturkritiker Denis Scheck hält die negativen Urteile über den neue Roman von Thomas Pynchon für verfrüht. Sie seien Resultat eines "Aus-der-Hüfte-Schießens", sagte Scheck. "Against the Day" mit über 1000 eng bedruckten Seiten sei nun mal "unanständig dick" und erfordere einiges an Aufmerksamkeit und Lesezeit.

Moderation: Karin Fischer | 21.11.2006
    Karin Fischer: Der neue Roman von Thomas Pynchon "Against the Day" ist 1085 Seiten dick, wiegt anderthalb Kilo und ist damit acht Gramm leichter als der Toaster des Kritikers des "Time Magazin", der mit der Wiegenummer vielleicht auch andeuten wollte, dass er das Buch inhaltlich nicht ganz so schwergewichtig findet. Überhaupt sind die Meldungen aus den USA, wo das Buch heute erscheint, etwas verwirrend. Einerseits gibt es den erwarteten Pynchon-Hype, inklusive der Schwarzdrucke in den Buchhandlungen von Tokio. Und andererseits haben erste Kritiken einen etwas nöligen Unterton. Der Mann, den niemand kennt und dessen letztes veröffentlichtes Konterfei aus dem Jahr 1957 stammt, kann es ihnen nicht so recht machen. Frage an unseren Pynchon-Experten Denis Scheck, meinen Kollegen aus der Literaturredaktion: Ist die Aura von Thomas Pynchon dabei zu verblassen, oder sind diese Kritiker einfach nur überfordert?

    Denis Scheck: Die sind überfordert. Sehen Sie, ein Buch mit über 1000 eng bedruckten Seiten ist natürlich unanständig dick. Jedenfalls viel, viel, viel zu dick, um es wirklich zu lesen. Und das kann man wiederum diesen Kritiken ablesen, die ja teilweise nur Flaschenpostberichte sind von einem Lektürevorgang. Der eine schreibt, 400 Seiten habe ich geschafft. Es hilft ja alles nichts: Gewisse Kunstwerke erfordern nun einmal so viel an Aufmerksamkeit und schlicht und einfach auch an Lesezeit, dass dieses permanente Aus-der-Hüfte-Schießen, wie wir es von der politischen Agenda kennen, bei einem neuen großen Roman eines Autors wie Thomas Pynchon überhaupt nichts hilft. So war es schon vor bald zehn Jahren, als der letzte große Thomas-Pynchon-Roman erschien, "Mason and Dixon". Das sind schlicht und einfach Bücher, wo man als Literaturkritiker gut beraten ist, so ein, zwei, drei Monate schlicht und einfach das Maul zu halten, sie erst einmal zu lesen, zu verdauen und dann mit einer Kritik zu kommen. Und alle, die jetzt zum Erscheinungsdatum da schon vorpreschen, und auch alle Deutschen, die dann wiederum die amerikanischen Kritiken abschreiben, die machen literaturkritisch da nicht sonderlich bella figura.

    Fischer: In den USA wird ja mit Vorab-Exemplaren eines Thomas-Pynchon-Romans auch ein bisschen knauserig umgegangen, die deutschen Rezensenten dort jedenfalls stehen nicht ganz oben auf der Liste. Können Sie dennoch einen Tipp abgeben, worum es in "Against the Day" überhaupt geht?

    Scheck: Ich bin so klug wie alle, die sich für Thomas Pynchon interessieren und das Buch noch nicht in den Händen halten. Es ist in der Post offenbar. Ich kann nur mich auf einen kurzen Text beziehen, der angeblich von Pynchon selbst ins Netz gestellt wurde, mit einem kurzen, allerdings sehr vergnüglichen Textauszug: ein Chiropraktiker, der auf einen Revolverhelden trifft, der ihn über den Haufen schießen möchte. Wildwest-Stimmung im neuen Thomas Pynchon. Der Revolverheld hat allerdings Probleme mit dem Kreuz, und der Chiropraktiker kann da helfen.

    Nun ja, diese kleine Episode deutet an, auf jeden Fall werden wir den typisch pynchonesken Humor, den wir aus seinen früheren Romanen kennen, den wir insbesondere in "Mason and Dixon" eine neue Höhe haben erklimmen sehen, wohl auch in diesem Buch wieder finden.

    Aber, Frau Fischer, was ich sehr gerne mache ist zu versuchen zu kommunizieren, was mich denn an diesem Schriftsteller so fasziniert. Arno Schmidt sagte einmal, jeder Leser habe im Grunde nur eine Handvoll von Autoren, die ihn wirklich in den Bann schlagen, über die er dann wirklich alles wissen möchte, auch noch wenn es geht, den Namen des Hundes, den der Autor vielleicht als kleines Kind hatte und den er irgendwann begraben hat. So geht es mir mit Thomas Pynchon. Warum? Weil er für mich gültig formuliert hat, was das Leben im 20. und leider auch im 21. Jahrhundert bestimmt, nämlich das Gefühl einer Entfremdung, einer Paranoia, das Gefühl, dass Ideale, Utopien verraten wurden, dass an Stelle der Utopien eine gewisse Melancholie tritt. Das ist für Thomas Pynchon natürlich das Versprechen von Amerika, aber er baut auf diesen Utopieverlust auf, er kann den "moment in his posibility", wie er einmal schreibt, er kann den Augenblick mit seinen Versprechungen neu realisieren, indem er diesen utopischen Horizont in seinen Büchern neu öffnet und auch das Versprechen, das Amerika für uns Europäer einmal war, neu, aktualisiert, in die Gegenwart hinüberretten.

    Fischer: Eigentlich scheint es ja so gar nicht in die Zeit und unseren alltäglichen Medienzirkus zu passen, dass jemand der sich in der Art und Weise entzieht wie er dennoch so erfolgreich ist.

    Scheck: Doch, das eine bedingt das andere. Also mit dem Erfolg von Thomas Pynchon, da möchte ich ein kleines Fragezeichen setzen. So richtig erfolgreich wurde er gerade mit seinem letzten Roman "Mason and Dixon". Das ist einer, der ein kleines Grüppchen von Lesern anspricht. Es war dieses Grüppchen in Europa immer stärker, zahlenmäßig stärker, als in Amerika. So ein richtiger Bestsellerautor ist er nicht. Aber Don DeLillo, der gestern 70 Jahre alt wurde, formulierte einmal sehr schön in einem Roman, wenn ein Schriftsteller sein Gesicht nicht zeigt, wird er zur irdischen Manifestation der Weigerung Gottes, in Erscheinung zu treten. Und genau das ist mit Salinger und Thomas Pynchon passiert. Das ist eigentlich das, was wir vom Dichterpriester möchten, das ist die unausgesprochene Erwartung vieler Leser, dass der Dichter, im emphatischen Sinne, näher an der Transzendenzquelle, näher an Gott, ist.

    Fischer: Herzlichen Dank, Denis Scheck, für diese Auskünfte über den neuen Roman von Thomas Pynchon und über das Phänomen selbst.