Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Quadratisch, praktisch, ...

Der Künstler Timm Ulrichs fordert die Besucher seiner Schau dazu auf, erst auf die Waage zu steigen, bevor sie die Ausstellung betreten. Und das ist nur konsequent. Schließlich lautet der Titel der Aktion "das gewogene Publikum".

Von Christian Gampert | 12.05.2010
    Wenn ein "Totalkünstler" wie Timm Ulrichs einen einlädt, sich am Eingang der Ausstellung zu wiegen (Titel der Aktion: "das gewogene Publikum"), dann sagt man nicht nein. Ergebnis: der Rezensent wiegt genauso viel wie der Künstler, nämlich 73,5 Kilo mit Kleidern, das ist okay.

    "Ausgegangen bin ich von der Tatsache, dass man das eigene Gewicht gar nicht spürt. Zum Beispiel wenn Sie sich hinstellen: Wie schwer bin ich? Man hat kein Empfinden für das eigene Gewicht. Das ist doch merkwürdig, nicht? Man weiß, man ist der Schwerkraft ausgesetzt, meine Hand fällt runter in Richtung Erdmittelpunkt – aber wir haben kein Empfinden für unsere eigene Körperlichkeit."

    Man muss also schon etwas von sich preisgeben bei Timm Ulrichs; der tut das aber selbst auch, und zwar schon seit fast 50 Jahren: 1968 setzte er sich zu einer ersten "Selbstausstellung" in eine Vitrine; das Kunstwerk wurde zwar sofort wieder entfernt, das Foto-Dokument aber bleibt.
    Die Ausstellung im "Museum Ritter" legt ihren Schwerpunkt zunächst nicht auf Ulrichs Dada-Aktionen und Happenings, sondern auf seine frühe, konkret-konstruktivistische Phase. Anfangs der 1960er-Jahre studierte Timm Ulrichs Architektur, und aus den strengen Entwürfen resultierten "visuelle Konstruktionen", "serielle Formationen", Rasterbilder, Vervielfältigungen von Figuren. Recht bald schleichen sich aber auch hier schon Witz und philosophisches Denken ein: es gibt, 1963, "Verkehrsleitkegel in spiritueller Form", aus Serien von Viertelkreisen entwickeln sich Verkehrsschilder zum Abbiegen. Später sieht man bewegliche Spiegel, die den Betrachter verrücken, und ausrangierte Kilometersteine, die nichts mehr anzeigen, sondern in zufälliger Anordnung angehäuft werden.

    Abgebogen – in Richtung Fluxus und Dada - ist auch Ulrichs dann früh genug, wenngleich das konkrete Element in Inszenierung und Sprachspiel immer erhalten bleibt. "Das literarische Gesamtwerk" bestand bei ihm aus sechs Schreibmaschinen-Farbbändern, 1968. Berühmt geworden ist er als angeblich Blinder mit Sonnenbrille, Blindenstock und dem Schild "Ich kann keine Kunst mehr sehen". Aber er sieht heute noch so gut, dass er vor dem Museum einen Mondrian als Blumenbeet anpflanzt, Stiefmütterchen sorgen für die Originalfarben. Gleich daneben steht die "Quadratur des Kreises", eine bewegliche Skulptur aus Halbkreisen und Längsachsen, die, je nach Stellung, beides bilden, Kreis und Quadrat.

    Es ist dieses spielerische und subversiv-surreale Element, das Ulrichs auszeichnet – er nimmt die Dinge beim Wort und macht sie uns vorsichtig fremd. Ein "Selbstportrait" simuliert die Körperoberfläche des Künstlers: 18.360 Quadratzentimeter. Und die Würfel-Installationen und ein grotesk vergrößertes Mikado-Spiel ironisieren das Aleatorische, das Zufällige unserer angeblich so gut durchgeplanten Biografien.

    "Unsere ganze Existenz ist ja dem Zufall geschuldet. Es geht ja schon los beim Zeugungsakt oder so, dieses Wettrennen der Spermien ... Also man ist so doof auf die Welt gekommen wie man ist. Man kann versuchen, es zu verbessern, innerhalb einer bestimmten Variationsbreite kann man darauf Einfluss nehmen (was man daraus macht oder nicht macht), aber das Grundkonzept ist da, kann man gar nichts machen ... "

    Timm Ulrichs ist aber auch Poet. Zu den schönsten Werken gehört die Installation "Geflügelte Worte": aufgeklappte Bücher sind in Flügelform geschnitten und liegen auf Notenständern, und die Buchseiten werden von einem Ventilator sanft in Bewegung versetzt. Gleich daneben der "fotokopierte Himmel": 16 Blätter Bläue. Und ein schiefgehängter Bilderrahmen, auf dem halbgefüllte Rotweingläser scheinbar ins Rutschen geraten.

    Man ist beglückt und wohltuend irritiert – und wird vom Künstler zur Tür geleitet mit dem Satz "Ich danke für Ihr Desinteresse, schreiben Sie positiv". Na klar!