Freitag, 19. April 2024

Archiv


Quilombos in Brasilien

Im Laufe von 400 Jahren importierte Brasilien mehrere Millionen afrikanischer Sklaven zunächst für die harte Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen. Ihre durchschnittliche Überlebenszeit im 17. und 18. Jahrhundert betrug sieben Jahre. Viele der Leibeigenen versuchten durch den Dschungel zu fliehen. Auf ihrem Weg bildeten sich Dörfer und noch heute leben dort ihre Nachkommen. Gudrun Fischer hat eine der Siedlungen besucht.

04.06.2005
    Am Rande der Kleinstadt Itatiba, rund 100 Kilometer von São Paulo entfernt, liegt das Quilombo mit dem Namen "Brotas", was soviel heißt wie "Knospen". Ein großes Tor und ein Zaun grenzt das acht Hektar große Land von den Nachbarn ab. Nur angemeldeter Besuch wird herein gelassen. Hinter dem Tor eröffnet sich ein erstaunlich ländliches, grünes Gelände. Dreiunddreißig Familien, Nachkommen von ehemaligen Sklavinnen und Sklaven, leben hier in einfachen Hütten in einer Oase inmitten der Stadt. Sie ziehen gemeinsam Gemüse, ernten Obst, halten Hühner. Insgesamt beherbergt das Quilombo "Brotas" einhundert Menschen, die eines verbindet: sie sind alle arm. Nur zwei Familien gehören nicht in den Verwandtschaftskreis der Gründerin Amélia de Lima Barbosa. "Großmutter Amélia", wie sie von allen genannt wird, war Tochter der Sklavin Emília. Emília war noch in Afrika geboren und kam als Kind nach Brasilien.

    "Meine Name ist Ana Maria Marcelino de Lima, ich bin 50 Jahre alt und ich bin die Urenkelin von Amélia de Lima Barbosa. Ich habe sie kennen gelernt und habe viele schöne Erinnerungen an sie. Sie erzählte, dass unser heutiges Sträßchen, das vom Eingangstor hinaufführt, einst ein Pfad durch den geschlossenen Urwald war. Als sie hierher kam, fand sie ein paar verlassene Hütten und Töpfe von entlaufenen Sklaven vor. Ich habe auch zwei ihrer Brüder kennen gelernt, Pedro und Philipp. Amélia erzählte, dass sie das Land abholzen mussten, und dass sie wegen der schweren Arbeit weinte."

    Ana de Lima, die Urenkelin von Amélia, sitzt aufrecht auf ihrem Stuhl. Sie hat vier Kinder, die sie alleine großzog. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, muss sie jeden Tag das Quilombo verlassen und putzen gehen. Insgesamt kommt sie auf etwa 80 Euro im Monat. Doch sie klagt nicht, denn ihr Leben hat in den letzten Jahren eine positive Wendung genommen. Sie und ihre Cousine Rosi de Lima kämpfen für die Anerkennung ihres Quilombos. Die vierzigjährige Rosi de Lima ist arbeitslos. Ihr Vater, der in einer anderen Stadt lebt und wieder verheiratet ist, schicke ihr und ihren Geschwistern ab und zu ein Essenspaket, sagt Rosi.

    "Wir wissen, dass wir ursprünglich aus Afrika kommen. Aber Genaueres wissen wir nicht. Meine Mutter erzählte uns von einer sehr alten Tante, die immer hier herumsaß. Sie sprach ständig von "Abissime". Wenn ihr etwas nicht gefiel, murmelte sie, "in Abissime war es anders". Mein Bruder hat eines Tages aus Neugierde Landkarten und Geschichtsbücher durchsucht. Darin entdeckte er, dass Abissime die frühere Hauptstadt von Äthiopien war."

    Ana und Rosi sind die informellen Chefinnen der Gemeinschaft "Brotas". Sie hatten nie die Gelegenheit, sich intensiv mit der Geschichte von "Brotas" zu beschäftigen. Ihnen war immer bewusst, dass ihr Land ein Quilombo, eine Zufluchtstädte für entlaufene und befreite Sklavinnen und Sklaven war, mehr aber auch nicht. Über das Fernsehen erfuhren sie vor zwei Jahren, dass in Brasilien diese historischen Zufluchtstätten ermittelt werden sollten. Rosi und Ana teilten dem Landvermessungsinstitut in der Hauptstadt São Paulo mit, dass sie in einem Quilombo leben und sich wünschten, dass es anerkannt würde. Beschäftige des Instituts kamen und besichtigten das Quilombo "Brotas". Das war ein Glück. Denn sonst hätte die Gemeinschaft "Brotas" ihr Land verloren. Es kam heraus, dass der Bürgermeister von Itatiba Pläne hatte, das Quilombo zu enteignen. Aus dem Wäldchen auf "Brotas" sollte ein öffentlicher Park entstehen. Patrícia Scalli dos Santos, Anthropologin am Landvermessungsinstitut in São Paulo, konnte die Enteignung verhindern:

    "Im Grunde ist es ein brasilianisches kulturelles und nationales Erbe. Es ist ein Teil der brasilianischen Geschichte, und diese wird von der Gruppe dort verwaltet. Dies Erbe könnte verloren gehen. Es zeigt das Verhältnis Brasiliens zu einem Teil der Bevölkerung, der schwarzen Bevölkerung, die zur brasilianischen Kultur beiträgt. Diese Gemeinschaft hat eine überaus reiche Geschichte. Keine andere Gemeinschaft hat noch Fotos und Antiquitäten aus der Zeit ihrer Vorfahren, und sie haben es geschafft, diese Material zu erhalten. Sie haben eine Kultstätte für die afrobrasilianische Religion "Umbanda". So einen Quilombo wie Brotas in Itatiba haben wir nirgendwo mehr entdeckt!"

    Offiziell als "Quilombo" registriert, wurde "Brotas" erst vor einem Jahr. Doch schon in Kürze soll die offizielle Titulierung erfolgen. Diese staatliche Anerkennung half in letzter Zeit über die Verletzungen durch die Diskriminierung hinweg, sagt Ana.

    "Dadurch, dass wir den Titel "Quilombo" bekommen, hat sich einiges für uns verbessert. Die Menschen in dieser Stadt sind vorurteilsbeladen, doch die Vorurteile werden abgebaut. In der Schule werden unsere Kinder nicht mehr so oft beleidigt. Wir spüren, dass wir einen Platz in der Gesellschaft bekommen. In der Schule haben wir viel unter den Vorurteilen gelitten. Wie oft wollten sich andere Kinder nicht zu uns in unsere Schulbank setzen. Und wenn wir uns zu ihnen setzten, dann kniffen sie uns. Ich bin oft gekniffen worden. Dann wurden wir auch aggressiv. Und die Folge war, dass wir vor die Direktorin zitiert wurden.

    Eines Tages ist Urgroßmutter Amélia in die Schule gegangen, um einen Enkel, einen Cousin von mir, zu verteidigen. Sie sagte, "Ihr beleidigt dauernd die Schwarzen, aber woher habt ihr den Sand? Der kommt von unserem Land. Der Sand, mit dem die Schule gebaut ist, ist Sand von den Schwarzen, die ihr verfolgt." Danach hörte es auf."

    Viele akzeptieren die Menschen des Quilombos immer noch nicht. Aber sie ertragen sie, weil sie jetzt etwas darstellen. Sie sehen es im Fernsehen, sagt Rosi.

    "Die Menschen in Itatiba haben wirklich viele Vorurteile. Ich werde ein Beispiel aus unserem Alltag erzählen: Ana und ich haben eines Tages einen Posten als Beraterinnen im Ausschuss für Kinder und Jugendliche bekommen. An dem Tag, als wir eingesetzt wurden, hat uns der Bürgermeister nicht gegrüßt. Er hat sich umgedreht. Das war wie eine Ohrfeige. Die einzigen Schwarzen in diesem Ausschuss waren Ana und ich. "

    Immerhin, das Engagement des Landvermessungsinstituts hat bereits zu einer besseren Stromversorgung geführt. Demnächst wird eine Abwasserkanalisation gebaut. Das Ziel ist, dass das Quilombo "Brotas" sich selbst finanziert.: Und es gibt weitere Pläne, erklärt Patrícia dos Santos.

    "Es geht um ländlichen Tourismus. Der geschichtliche Teil und der umweltpolitische, beides könnte touristisch aufgearbeitet werden. Außerdem haben die Frauen dort seit der Zeit der Sklavin Emília, die Köchin auf einer Plantage war, ein Tradition: Die Töchter waren Köchinnen, die Enkelinnen, die Urenkelinnen. Sie kochen sehr gut. Ein Traum von ihnen ist, ein Restaurant zu eröffnen. Sie wollen, dass Touristen hier hin kommen, einen ökologischen Lehrpfad wollen sie ausarbeiten, und mit ihrer Geschichte und mit ihren geerbten Objekten ein Museum eröffnen."