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Rabbiner Tovia Ben-Chorin
"Ich liebe Atheisten"

Wer sich mit christlich-jüdischem Dialog befasst, kennt den Journalisten und Religionsgelehrten Schalom Ben-Chorin. Sein Sohn Tovia Ben-Chorin ist liberaler Rabbiner, 78 Jahre alt, ein deutscher Jude aus Israel und mag Atheisten. Seit dem Sommer lebt und arbeitet er in Sankt Gallen in der Ostschweiz.

Von Gisela Keuerleber | 07.12.2015
    Pfarrer Gregor Hohberg (l-r), Rabbiner Tovia Ben-Chorin und Imam Kadir Sanci posieren am 03.06.2014 in Berlin mit Ziegelsteinen auf dem Petriplatz. Dort soll ab 2015 das Bet- und Lehrhaus, das "House of One" entstehen. Geplant ist ein Sakralbau, in dem sich eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee befinden.
    Rabbiner Tovia Ben-Chorin (Mitte) arbeitet jetzt in der Schweiz. (picture alliance / dpa / Foto: Paul Zinken)
    "Ich würde so sagen. Die äußere Schale, die Form des Gottesdienstes ist ein verkürzter Gottesdienst nach orthodoxer Vorstellung. Aber in meinen Predigten predige ich nach meinem Verständnis und da gibt's keine Zensur. Nur war die Bitte, so lange ich hier in St. Gallen bin, dass ich traditioneller lebe, zum Beispiel dass ich am Sabbat nicht fahre."
    Das nämlich ist einer der Unterschiede zwischen orthodoxem und liberalem Judentum: für orthodoxe Rabbiner ist Fahren Arbeit und mithin am Schabbat verboten. Tovia Ben-Chorin hat Verständnis und respektiert die Bitte, da viele alte Menschen zur Gemeinde gehören, und die will er nicht vor den Kopf stoßen.
    "Weil mir wichtig ist, das zu unterstützen, was da ist. In der Gemeinde selbst haben wir 100 Seelen , von denen sind vielleicht 8 oder 10 Kinder und Erwachsene , die kaum mehr gehen können, für die es schwer ist, in die Synagoge zu kommen."
    Ob in St. Gallen oder in anderen Gemeinden – Tovia Ben Chorin ist schon oft über seinen liberalen Schatten gesprungen, wenn es darum ging, die Herzen der anderen zu öffnen. So empfiehlt er jungen Rabbinern Synagogen-Hopping zu betreiben, um andere Formen des Gemeindelebens kennenzulernen und Verständnis für sie zu entwickeln.
    "Es gibt Leute, die brauchen mehr strenge Regeln und wollen nicht die Freiheit, die der Schöpfer uns gibt. Jetzt will ich nicht sagen, alle, die so leben sind Fundamentalisten, aber sie wollen sichere Fundamente, sichere Fundamente, hat immer mit Tradition zu tun."
    Seinen eigenen Glauben beschreibt er so:
    "Ich bin ein Gläubiger, der mit Gott ringt, wie Jakob in der Nacht, und wird angegriffen von einer Gestalt und ringt mit dieser Gestalt und wird verletzt, er hinkt danach. Ich hinke auch in meinem Glauben. Ich liebe die Atheisten, weil die wirklich mit Gott ringen. Die, die so sicher sind, da habe ich manchmal meine Bedenken."
    Wer sich mit Ben-Chorin unterhält, hört schnell Geschichten aus seinem Leben. Er hat Jerusalem schon erlebt, als der Staat Israel noch nicht bestand. Geboren wurde er 1936 als Sohn des besonders in Deutschland berühmten Dichters und Theologen Schalom Ben-Chorin. Der Vater pflegte auch in Israel preußische Tugenden.
    "Mein Vater hatte eine sehr strikte Tagesordnung. Der Mensch isst um 1 Uhr 30 zu Mittag. Auch wenn ein Treffen mit Journalisten war, mein Vater ist um 1 Uhr weg gegangen. Mein Vater hat gesagt, wenn der Herr oder die Dame bis um 1 Uhr nicht gesagt hat, was wichtig ist, was danach kommt, ist nicht wichtig. Er war sehr streng in seiner Lebensform und alle mussten sich dem anpassen."
    Noch während des Militärdienstes wird Tovia klar, dass er Rabbiner werden will. Er studiert in Jerusalem und in den USA, lebt dann mit seiner Frau Adina und den beiden Söhnen in Jerusalem. Immer wieder geht er ins Ausland, um andere Synagogen kennen zu lernen. Neugier und Gesprächsbereitschaft zeichnen Tovia Ben-Chorin aus. Man müsse immer im Dialog bleiben sagt er, ob mit Vertretern der Religionen, der verschiedenen politischen Parteien oder wenn es in einer Gemeinde Probleme gibt. Ein Schlüsselerlebnis, hatte er als junger Soldat bei der Panzerabwehr während des Sinaikrieges 1967: Eine Begegnung mit einem verletzten ägyptischen Gefangenen.
    "Plötzlich kam jemand und sagte, da ist ein Offizier, der ist im Bunker, der möchte mit jemandem sprechen und niemand kann arabisch, aber du kannst doch englisch. Und da bin ich zu ihm gegangen. Er lag auf einer Bahre und schaute mich so an und ich sagte: 'I am sorry, es tut mit leid, Sie in dieser Position zu treffen. Dann sagte er mir: 'Wissen Sie, es hätte auch umgekehrt sein können, dass Sie hier liegen und ich Sie treffe.' Dann sagt er mir: 'Wurden Sie eigentlich gefragt, ob Sie hier sein wollen?', sage ich: 'Eigentlich nicht', sagt er: 'Ich wurde auch nicht gefragt, ob ich hier sein will. Schauen Sie', sagte er, 'Politiker haben für uns beschlossen, dass wir uns hier im Kampf treffen.'
    Dieses Gespräch ist etwas, was sehr tief in meine Seele gegangen ist. Und drum bin ich bereit, mit jedem zu sprechen, weil ich sehr an der Kraft des Gespräch und des Dialog glaube."
    Auch zwischen Israelis und Palästinensern müsse der Dialog weiter geführt werden. Davon ist Tovia Ben-Chorin fest überzeugt. Als er ein kleiner Junge war, ließen sich seine Eltern scheiden. Sie respektierten sich jedoch weiterhin und gingen nach dem Scheidungsurteil erst einmal zusammen Kaffee trinken. Deutsch-jüdische Intellektuelle gingen waren im Elternhaus Ben-Chorin häufig Gäste. Emigranten wie der Journalist und Kafka-Biograph Max Brod, der Religionsphilosoph Martin Buber oder die Lyrikerin Else Lasker-Schüler. Die Einwanderer aus Deutschland nannte man in Israel "Jeckes".
    "Das kommt wahrscheinlich, weil andere sich lustig gemacht haben über die deutschen Juden, wenn man irgendwo eingeladen war, hat man immer gesagt, mit einer Jacke muss ich da kommen oder ohne Jacke? Jacke, Jacke, Jecke. Also die waren sehr pünktlich. Die waren auch die, die das Banksystem entwickelt haben in Israel, der erste Justizminister war ein deutscher Jude. Die Fenster für Geschäfte kam auch durch die deutschen Juden. Die Kaffeehäuser mit Kuchen und bestimmte Gebäcke und Bauhausstil kam dann sehr stark nach Tel Aviv. Die haben schon sehr viel beigetragen zum Leben in Israel."
    Tovia Ben Chorin – klein, Brillenträger – wurde häufig mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki verwechselt. Darauf reagierte er nie pikiert, sondern fand das eher lustig. Und wenn das jüdische Lichterfest Chanukka mit dem christlichen Weihnachtsfest verglichen wird, reagiert er mit einem Witz über Juden, die sich einen Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer stellen. "Eine Karikatur aus Amerika: Ein junges Mädchen schaut aus dem Fenster raus und schreit zu den Eltern:'Grandma is coming, take the Chanukka bush away.'"
    Chanukka ist ein Fest der Abgrenzung. Es erinnert an die Geschichte der kriegerischen Makkabäer, die die Griechen aus Jerusalem vertrieben und die fremden Götzenbilder wieder aus dem Tempel entfernten. Doch auch bei diesem Fest betont Ben-Chorin die Gemeinsamkeiten – zum Beispiel, dass Juden an Chanukka Kerzen anzünden.
    "Ich glaube in den zwei Religionen suchen wir sehr das Licht. Und das ist auch das erste, was geschaffen wurde. Die Schöpfung kommt aus der Dunkelheit. Überhaupt, kreativ zu sein, ist, aus einer Dunkelheit raus zu kommen."
    Mit 79 Jahren hat sich Tovia Ben-Chorin noch einmal einen neuen Wirkungskreis in der Schweiz gesucht. Zwar hat er keine volle Stelle in der kleinen Gemeinde, aber der Ruhestand käme für ihn auch nicht in Frage. Irgendwo habe er einmal gelesen, sagt er, ein Rabbiner hört erst dann auf, "wenn er nicht mehr braucht, gebraucht zu werden."