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Rachel Cusk: „Lebenswerk“
Mutterschaft als Bürde

Vier Jahre nach der Debatte um "regretting motherhood", in der Frauen ihre Mutterschaft öffentlich bereuten, erscheint Rachel Cusks "Lebenswerk" auf Deutsch. Vor 18 Jahren harsch kritisiert, ist Cusks Rage gegen das persönlichkeitsauflösende Bild der glücklichen Mutter heute in guter Gesellschaft.

Von Julia Friese | 31.10.2019
Die kanadische Schriftstellerin Rachel Cusk
Mit ihrer Roman-Triologie „Outline“, „Transit“ und „Kudos“ wurde die in Kanada geborene Rachel Cusk hierzulande bekannt. Nun erscheint auch das ältere, bereits 2001 im englischsprachigen Original erschienene Mutterschafts-Memoir der Autorin auf Deutsch. (AFP / Leon Neal)
Rachel Cusk befürchtet, weder Leser noch Gehör zu finden. Denn wen sollte das interessieren? Schwangerschaft, Mutterschaft. Noch dazu ihre eigene. Um sie zu erzählen, muss sie sich entblößen. Jeder gehe Elternschaft - wenn überhaupt - naiv an. So auch Cusk. Die ersten sechs Monate nach der Entbindung bleibt die Autorin mit ihrer Tochter Albertine zu Hause. Ihr Partner geht arbeiten. Nicht ohne Überraschung - und damit eben nicht ohne Naivität - stellt die junge Mutter fest: Gleichberechtigung endet mit der Geburt. Schon bald entscheiden Cusk und ihr Partner - es ist Anfang der Nullerjahre - die "überlieferte Familienstruktur gänzlich einzureißen". Der Kindsvater kündigt seinen Job, damit Cusk über ihre Schwangerschaft schreiben kann:
"Ich lebe nicht mehr frei, sondern unter einer speziellen Fron. Ich habe mein Alleinsein aufgegeben und stelle mich für neun Monate als Brücke, Verbindungsstück oder Vehikel zur Verfügung. Ich lese einen Zeitungsbericht über Frauen, die in Amerika vor Gericht stehen, weil sie dem Fötus in ihrem Bauch geschadet haben. Ich frage mich, wie es sein kann, dass ein Körper zum öffentlichen Raum erklärt wird, als wäre er eine sich selbst vandalisierende Telefonzelle."
Getöse gut gemeinter Ratschläge
Es sind nicht ihr Körper oder ihr Baby, die sie diesen Druck spüren lassen, es ist die Gesellschaft, in der sie lebt. Von Ratgebern zur Schwanger- und Mutterschaft fühlt Cusk sich gegängelt und missverstanden. Da sind Verbote und Gebote: keine Gänseleberpaste essen. Keine Katzen streicheln. Zu vorgeburtlichen Kontrollterminen soll sie Strickzeug mitnehmen. Cusk flieht aus einem Geburtsvorbereitungskurs, als könne sie damit vor der von außen zugeschrieben Rolle flüchten. Sie rebelliert mit Sarkasmus.
"Wenn Sie nachts nicht schlafen können und Ihre Gedanken sich überschlagen, sollten Sie dieses Aufmucken Ihrer Identität gewaltsam unterdrücken und die Zeit nutzen, um Kontakt zu Ihrem Baby aufzunehmen. Ich leide unter Schlaflosigkeit und befolge den letzten Rat, doch mein Austausch mit dem Baby nimmt würdelose Formen an; im Grunde flehe ich es nur an, mir nicht wehzutun. Während mein Bauch wächst, erscheint mir der Kontakt mit ihm so sinnvoll, als wollte ein Acker mit der Autobahn Kontakt aufnehmen, die mitten durch ihn hindurch gebaut wird."
Baby-Monarch beherrscht die Gedanken
Es ist die Literatur, die ihre Mutterschaft zutreffender beschreibt. Cusk zitiert die US-amerikanische Feministin Adrienne Rich, sie liest Emily Brontë, Marcel Proust und die sozialkritischen Romane von Edith Wharton. Immer wieder vergleicht Cusk das Baby mit einem Monarchen, der über sie und ihre Gedanken herrscht. Ein Wesen, das sie nicht einmal für einen Abend verlassen kann. Nicht, weil es faktisch nicht ginge, sondern weil ihre Angst sie hindert. Ihre Angst, das Baby auf die gleiche Art zu enttäuschen, wie die meisten Menschen - so auch sie selbst - von der Liebe der Eltern enttäuscht wurden.
Cusk will den Kreislauf durchbrechen, alles für das Baby sein, nachdem sie sich selbst immer gesehnt hat. Und stellt fest: Sie braucht es mehr, Mutter zu sein, als ihre Tochter die Bemutterung braucht.
"Ich sehe, dass sich hinter meiner Hoffnung, sie möge ausreichend sein, in Wahrheit mein Wunsch verbirgt, einem anderen Menschen zu genügen, und er hat sich wieder einmal nicht erfüllt. Du bist aus mir herausgekommen, möchte ich ihr sagen. Ich habe ihr angeboten, wonach ich mich im Leben gesehnt habe, einen anderen Körper, der mich ganz aufnimmt, umschließt und absorbiert, ein einverleibendes Element, doch sie wollte nicht."
Buchcover: Rachel Cusk: „Lebenswerk. Über das Mutterwerden“
Buchcover: Rachel Cusk: „Lebenswerk. Über das Mutterwerden“ (Suhrkamp Verlag)
Abschied vom selbstbestimmen Leben in London
Durch die Sorge um ihr Kind kann sie an ihrem alten, allein selbstverantwortlichen Leben, nicht mehr teilnehmen. London wird für Cusk zunehmend zu einer ausgedienten Kulisse. Sie zieht auf das Land, stellt aber bald fest, dass eine reizlose Umgebung auch keine Verbesserung darstellt. Sie berichte von Nächten voller Babygeschrei und Schlafentzug und tritt ihnen mit Verzweiflungshumor entgegen. Aus der Tochter wird ein Mini-Napoleon, der siegessicher seine Rassel schüttelt. Wieder sucht sie lesend ein Echo für ihr Empfinden und findet es in Zeitungsartikeln, die Männer über Elternschaft geschrieben haben.
"Die Empörung der Väter ist frisch, ihr Protest ist der des Novizen oder des Neuankömmlings. Ihre Auflehnung hat etwas Beschämendes: Was sie nach ihrer Ankunft in der Welt der Kinderbetreuung zu sehen bekommen, erzeugt Ekel und Verzweiflung und weckt einen revolutionären Eifer, sodass ihre Vorhaltungen und ihr Ruf nach Reform von einer unausgesprochenen Kritik an jenen durchdrungen sind, die die Verhältnisse seit Langem klaglos ertragen: die Lebenslänglichen, die Langzeitinsassen, die Frauen. In der Tat würde kaum eine Frau sich fassungslos darüber wundern, dass sie ihr Baby nie wieder abgeben kann, nicht einmal, um den Schlaf einer einzigen Nacht nachzuholen – was aber nicht bedeutet, dass sie es nicht denkt und schon immer gedacht hat."
"Das ist kein Erziehungsratgeber"
Cusks Überraschung über die fehlende Kritik von Frauen an der ihnen zugeschriebenen Mutterrolle nimmt die Rezeption von "Lebenswerk" - das 2001 in Großbritannien erschien - vorweg. Britische Journalistinnen und Journalisten beschuldigten sie als untaugliche und lieblose Mutter. Ihr Name, so schreibt Cusk in einem aktualisierten Vorwort der britischen Lebenswerk-Ausgabe von 2007, wurde zum Synonym für "Hass auf Kinder". Cusk wehrt sich mit Trotz: "Das ist kein Erziehungsratgeber, meine Damen" schreibt sie. "Auf diesen Seiten müssen Sie für sich selbst denken. Ich schreibe Ihnen nicht vor, wie sie leben sollen."
Es ist durchaus ärgerlich, dass die deutsche Ausgabe von "Lebenswerk" ohne dieses Vorwort erscheint. Denn vier Jahre nach der internationalen Debatte um die Regretting-Motherhood-Studie der israelischen Soziologin Orna Donath ist bereits einiges gegen die rein positive Wahrnehmung von Mutterschaft geschrieben worden. "Lebenswerk" wirkt weltfremd in manch einer Beobachtung, mit der Cusk zu Beginn des neuen Jahrtausends noch allein auf weiter Flur stand. Es schockiert nicht mehr wie noch vor 18 Jahren. Seine Radikalität ist ein Protest, der heute auf Grund vieler bereits zu Wort gekommener Stimmen wesentlich nuancierter und weniger überrascht ausfallen müsste. Heute ist "Lebenswerk" eine von vielen Erzählungen über das Muttersein, die es insbesondere auf Grund ihrer sprachlichen Schönheit wert ist, gehört zu werden.
Rachel Cusk: "Lebenswerk. Über das Mutterwerden"
aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp Verlag, Berlin. 220 Seiten, 22 Euro.