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Radiergummi für Erinnerungen

Neurologie. - Ein schlimmer Sturz in Kindertagen, der erste Kuss, die Gesellenprüfung. Erinnerungen wirken, als seien sie für immer fest im Gehirn abgelegt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Erinnerungen verändern sich auch, werden an neue Erfahrungen angepasst. Die Maschinerie, die trotz dieser Flexibilität Eindrücke fixiert, ist nur in Umrissen bekannt. Mit einem Radiergummi fürs Gehirn konnte eine Forschergruppe vom Weizmann-Institut in Israel zeigen, dass es ständiger Arbeit bedarf, die Vergangenheit im Gedächtnis festzuhalten.

Von Volkart Wildermuth | 17.08.2007
    Wer sich einmal an schlecht gewordenem Rührei den Magen verdorben hat, dem wird in Zukunft schon beim bloßen Anblick und Geruch von Eiern übel. Das Geruchs- und Geschmacksgedächtnis lernt besonders schnell, und seine Erinnerungen sind extrem stabil. Das gilt nicht nur für Menschen sondern auch für Ratten. Eigentlich lieben Ratten Süßigkeiten, doch wenn Forscher nach dem Genuss von Zuckerwasser einmalig für eine künstliche Magenverstimmung sorgen, verderben sie den Nagern dauerhaft jede Lust auf Süßes. Professor Yadin Dudai vom Weizmann-Institut in Israel ist es jetzt mit einem neuen Wirkstoff gelungen, eine solche schlechte Erfahrung komplett aus dem Geschmackszentrum des Rattengehirns zu löschen. Dudai:

    "”Das schädigt das Gehirn nicht. Wir löschen diese Erinnerung, aber danach kann das Gehirn noch immer neue Dinge lernen. Wir löschen auch nicht alle Erinnerungen, die Ratten können immer noch alle möglichen anderen Dinge tun. Ich gehe aber davon aus, dass wir mehr als nur eine einzige Geschmackserinnerung löschen. Jetzt müssen wir herausfinden, ob es nur die jüngsten zwei oder drei sind, oder ob die Ratte die Geschmackserinnerungen eines ganzen Jahres verliert, wir wissen es noch nicht.""

    Zip nennt sich der Gedächtnisradierer, der Wirkstoff legt kurzfristig ein Enzym lahm, das die Kontaktstellen der Nervenzellen in Schuss hält. Diese kleine Störung reicht aus, um die Erinnerung an das verdorbene Zuckerwasser über Wochen, vielleicht sogar für immer zu löschen. Dieses Experiment gibt einen wichtigen Hinweis auf die Natur des Gedächtnisses. Klar ist: wenn das Gehirn lernt, werden Verbindungen zwischen Nervenzellen erst verstärkt und später sogar neu angelegt. Konkret sorgt die eine schlecht Erfahrung dafür, dass Nerven, die auf Süße reagieren, auf direktem Weg Nerven aktivieren, die für das Gefühl der Übelkeit zuständig sind. Lernen verändert also den Schaltplan des Gehirns, deshalb sind Erinnerungen auch so stabil. Diesen Schaltplan aber kann zip nicht direkt verändern. Daraus folgt, dass eine Erinnerung mehr ist, als nur ein Verknüpfungsmuster von Nervenzellen. Offenbar müssen diese Erinnerungsbahnen zusätzlich noch regelmäßig aktiviert werden. Das Gehirn legt Erfahrungen also nicht einfach ab und greift nur bei Bedarf auf sie zu, wie das ein Computer mit seinen Daten macht, es muss seine Erinnerungen ständig pflegen. Diese Pflege ist sicher sehr energieaufwändig, doch Yadin Dudai vermutet, dass sie sich lohnt, weil sie das Gedächtnis flexibler macht. Dudai:

    "”Wir investieren Energie, aber vielleicht ist das wichtig, damit das Gehirn neue Informationen schnell einordnen kann. Wenn wir etwas gelernt haben, verändern wir diese Information jedes Mal, wenn wir etwas Neues erfahren. Wir ordnen das Neue in den Kontext unseres bisherigen Wissens ein und dieser Mechanismus könnte dabei helfen. Wenn Erinnerungen die ganze Zeit gepflegt werden, dann ist es wohl leichter, Neues zu integrieren.""

    Unter normalen Umständen wird die kontinuierliche Pflege der Erinnerungen ja auch nicht gestört. Es gab schon früher Versuche, Gedächtnisinhalte zu löschen. Dafür mussten die Erinnerungen aber immer zunächst noch einmal wachgerufen werden. Zip scheint dagegen jegliche Erinnerung auszuradieren, egal ob sie gerade aktiv ist oder nicht. Das spricht dafür, dass die Pflege der Erinnerungsbahnen ein ganz grundlegender Mechanismus des Gedächtnisses ist. Vielleicht ist es möglich, diesen Prozess nicht nur mit zip zu stören, sondern ihn im Gegenteil zu unterstützen. Dudai:

    "In Zukunft könnte es möglich sein, Medikamente zu entwickeln, die an dieser Stelle eingreifen, die die Erinnerungspflege verbessern. So könnte sich das Gedächtnis unterstützen lassen. Wenn so etwas uns oder anderen gelingt, wäre das sehr hilfreich gegen die Erinnerungsprobleme bei manchen Krankheiten. Das ist das Fernziel unserer Arbeit."

    Zukunftsmusik. Vorerst wird Yadin Dudai zip genauer untersuchen, um herauszubekommen, wie spezifisch der Gedächtnisradierer funktioniert.