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Radikal subjektiv

Im Frühjahr 2005 veröffentlichte die damals neue, schnell weithin gefeierte New Yorker Literaturzeitschrift "n+1" einen langen Essay einer jungen türkisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin namens Elif Batuman. In "Babel in Kalifornien" erzählt Batuman von einer Konferenz an der Universität Stanford, die sich mit Leben und Werk des russischen Schriftstellers Isaak Babel befasste.

Von Uli Hufen | 11.11.2011
    So sehr man den Autor des Bürgerkriegsromans "Reiterarmee" und der legendären "Odessaer Erzählungen" über den jüdischen Gangsterkönig Benja Krik auch bewundern mag, es war nicht unbedingt absehbar, dass mit einem Essay über eine wissenschaftliche Konferenz zu seinen Ehren eine der strahlendsten Karrieren des neueren amerikanischen Feuilletons beginnen sollte. Aber genau das geschah: Ein Redakteur des New Yorker las den Babel-Essay in "n+1" und der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Batuman schreibt heute regelmäßig große Essays für renommierte Magazine wie den "New Yorker", die "London Review of Books" oder "Harpers" über türkische Fußballvereine, Dante und Florenz oder den Fluch der Creative-Writing-Programme in Amerika und England.

    Batumans erstes Buch, die Essaysammlung "Die Besessenen. Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern", beginnt aber, nach einer Einleitung, mit "Babel in Kalifornien". Was die Redakteure von "n+1", vom "New Yorker" und seither zahllose Leser an Elif Batuman so fasziniert, war schon in den ersten Sätzen von "Babel in Kalifornien" greifbar:

    "Wenn die russische Akademie der Wissenschaften die Gesamtausgabe eines Autors veröffentlicht, kann man das, was dabei herauskommt, nicht einfach in einen Koffer packen und wegtragen. Die Tolstoi Millenniumsausgabe umfasst hundert Bände und wiegt so viel wie ein neugeborener Belugawal. (Ich trug meine Badezimmerwaage in die Bibliothek und habe die Edition - jeweils zehn Bände auf einmal - abgewogen.) Dostojewski hat dreißig Bände, Turgenjew achtundzwanzig, Puschkin siebzehn. Selbst Lermontow, ein Lyriker, der mit sechsundzwanzig Jahren in einem Duell starb, hat vier Bände. ... Die Gesamtausgabe von Isaak Babel umfasst nur zwei kleine Bände. Hält man Tolstois gesammelte Werke daneben, ist dies wie der Vergleich zwischen einer langen Straße und einer Taschenuhr."

    Batuman hat Witz und Esprit. Batuman ist gleichzeitig flapsig und präzise. Batuman, Jahrgang 1977, ist fasziniert von Schriftstellern, die seit 100 oder 200 Jahren tot sind und sie kann so über diese, oft russischen, Schriftsteller schreiben, dass es selbst Menschen, die sonst vielleicht wenig lesen und Namen wie Turgenjew oder Lermontow noch nie gehört haben, magisch in eine Buchhandlung zieht.

    Der entscheidende Schachzug verbarg sich in dem kleinen Wort "ich" in jenem scheinbar schüchtern in Klammern gesetzten Satz, in dem Batuman erzählt, dass sie eine Waage in die Bibliothek getragen hatte. Normale Literaturwissenschaftler tragen keine Badezimmerwaagen in Bibliotheken. Vor allem aber sagen sie nicht "ich". Selbst Rezensenten tun es selten, weil ein "ich" geeignet ist, den hoch geschätzten Anschein von Objektivität zu vertreiben. Batuman aber sagt "ich" - und gewinnt. Radikale Subjektivität ist ihr Programm, und wie sich zeigt, schließt das keineswegs aus, dass Batuman viel weiß und oft Recht hat. Soweit man in literarischen Dingen eben recht haben kann.

    In "Babel in Kalifornien" mischt Batuman - genau wie in allen anderen Essays ihres Buches - flotte Dialoge und Szenen aus ihrem eigenem Leben mit geschickten Inhaltsparaphrasen literarischer Werke, der Biografie ihrer Autoren und philosophischen und literaturwissenschaftlichen Betrachtungen. Batuman schreibt klug und ernst über Babels Verhältnis zu Staat und Revolution, über seine Brille und darüber, was ein Schriftsteller im Krieg tut. Doch ebenso wichtig sind die Passagen, in denen wir gewissermaßen live dabei sind, wenn Batuman im Archiv geheimen Beziehungen zwischen Babel und King Kong auf der Spur ist, wenn sie am Flughafen Babels weit über 90-jährige Frau Antonina Pirozhkowa abholt oder wenn Babels Tochter Nathalie mit der Babel-Herausgeberin Janet Lind aneinandergerät:

    "JANET" - sagte Nathalie schließlich mit ihrer tiefen Jenseitsstimme, "STIMMT ES, DASS DU MICH VERACHTEST?"
    Janet Lind wandte sich ganz ruhig Nathalie zu: "Wie meinten Sie?"
    "STIMMT ES, DASS DU MICH VERACHTEST?"
    "Wie können Sie so etwas sagen?"
    "Ich sage es, weil ich wissen möchte, ob es stimmt, DASS DU MICH VERACHTEST?"
    "Das ist eine wirklich sehr seltsame Frage. Wie kommen Sie nur darauf?"
    "Ich glaube einfach, dass man dir gesagt hat, ich SEI EINE BÖSARTIGE ALTE HEXE."


    Nicht in allen Essays balanciert Batuman Weltliteratur, Reportage, Recherche und Situationskomik gleichermaßen gut. Der lange, dreiteilige Essay über einen Studienaufenthalt in Usbekistan fällt, bei aller Brillanz im Detail, deutlich ab. Doch die Texte über Babel, Tolstoi und über Dostojewskis mysteriösen Roman "Böse Geister" sind praktisch perfekte Essays, in denen es Batuman gelingt, dem Leser ihre glühende Leidenschaft für russische Bücher mit scheinbar federleichter Eleganz, Witz und Klugheit zu vermitteln. Der Trick besteht darin, dass diese Leidenschaft nie Behauptung, nie abstrakt bleibt. Batuman macht buchstäblich greifbar, welch große Rolle diese Autoren und ihre Bücher in ihrem Leben spielen. Weil aber Batuman ein so beneidenswert abwechslungsreiches Leben voller interessanter Reisen, Menschen und Gedanken zu führen scheint, aus dem die Bücher ihrer Lieblingsautoren einfach nicht wegzudenken sind, ja das maßgeblich von den Büchern ihrer Lieblingsautoren dirigiert zu werden scheint, bekommt man Lust, eben diese Bücher selbst zu lesen. Ungefähr so wie Don Quijote, der Ritter wurde, weil er die Helden seiner Lieblingsromane abgöttisch bewunderte.

    Man muss übrigens keineswegs ein Experte für Tolstoi, Dostojewski oder Babel sein, um Elif Batumans Buch zu lesen und zu lieben. Möglicherweise ist es sogar besser, wenn man "Anna Karenina", "Die Dämonen" und die "Reiterarmee" noch nicht gelesen hat. Batuman ist zwar stets originell, wenn sie über ihre Lieblinge schreibt. Doch will sie mit ihren Essays nicht in erster Linie die Babel- oder Tolstoi-Forschung voranbringen. Elif Batuman geht es um etwas, dass auch Isaak Babel beschäftigte, zum Beispiel in der Erzählung "Meine erste Gans":

    "Als ich nach dem Tagebuch die ganze Reiterarmee las, erschloss sich mir 'Meine erste Gans'. Ich verstand, warum der Koffer, den die Kosaken auf die Straße warfen, voller Manuskripte und Zeitungen steckte. Und ich begriff, was es für Babel bedeutete, den Kosaken Lenin vorzulesen. Es war die erste Feindberührung des Schreibens mit dem Leben."

    Das Schreiben und das Leben. Die Bücher und das Leben. Das Lesen und das Leben. Irgendwie ahnt ja jeder zumindest halbwegs alphabetisierte Mensch, wie eng das alles zusammengehört. Und doch hat man eine so gewitzte, lebensfrohe und kluge Liebeserklärung an die Klassiker der Weltliteratur wie Elif Batumans "Die Besessenen" lange nicht gelesen.


    Elif Batuman: "Die Besessenen. Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern."
    Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann. Kein & Aber, 368 Seiten, 22.90 Euro