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Radikalisierung von Attentätern
"Es geht darum, sich gegen das System aufzulehnen"

Die Entwicklung des Attentäters von Orlando, Omar Mateen, sei relativ typisch, sagte der Politikwissenschaftler Peter Neumann im DLF. Es handele sich vor allem junge Männer, die aus Frust heraus Anschluss an ein ideologisches Milieu suchten, um "zu einem Helden zu werden". Dabei sei der Inhalt der Ideologie zweitrangig. Im Vordergrund stehe die Rebellion gegen das System.

Peter Neumann im Gespräch mit Doris Simon | 13.06.2016
    Prof. Dr. Peter Neumann, Terrorismus-Experte
    Peter Neumann lehrt und forscht am International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence am King's College in London. (imago/Müller-Stauffenberg)
    Doris Simon: Omar Mateens Exfrau hat den Attentäter als geistig krank bezeichnet. Sicher ist: Der 29jährige hatte ein Problem mit Schwulen und Sympathien für radikale Gruppen. Kurz vor dem Massaker bekannte sich Mateen zur Terrormiliz Islamischer Staat. - Peter Neumann, Direktor des International Center zur Untersuchung von Radikalisierung am Londoner King’s College, habe ich vor dieser Sendung danach gefragt: Dass Omar Mateen vom FBI dreimal in zwei Jahren überprüft wurde, hat das FBI da nicht gut genug hingesehen?
    Peter Neumann: Na ja, das sieht natürlich jetzt im Rückblick so aus. Man muss natürlich verstehen, dass die Polizei sich viele solcher Fälle anschaut und ständig Abwägungsentscheidungen treffen muss. Es gibt im Internet wahrscheinlich sehr, sehr viele Leute, die sich positiv über den Islamischen Staat zum Beispiel äußern, die aber völlig ungefährlich sind und zu unterscheiden, wer ist gefährlich, wer ist weniger gefährlich, ist eine unglaublich schwierige Aufgabe. Offensichtlich in diesem Fall eine, die nicht erfolgreich zu Ende gebracht wurde.
    Im Falle von Mateen ging es offenbar darum, dass er einen Selbstmordattentäter kannte, einen amerikanischen Selbstmordattentäter, der nach Syrien gegangen ist und sich dort in die Luft gesprengt hat. Man wollte herausfinden, wie eng waren die Kontakte, ist das möglicherweise auch jemand, der nach Syrien gehen möchte, und es hat sich dann herausgestellt, offensichtlich nicht. Und auch in den anderen Fällen war es so, dass es offensichtlich so war, dass er in diesem ideologischen Milieu sich bewegt hat, aber letztlich es dann doch keine Anzeichen dafür gab, dass er tatsächlich etwas tun wollte - zumindest damals nicht.
    Simon: Können Sie sich vorstellen, dass jetzt nach diesem Massaker sich da die Maßstäbe verschieben?
    Neumann: Ich glaube, die Amerikaner waren sowieso immer schon etwas strenger als die Europäer. In der Vergangenheit haben sich da viele Leute kritisch geäußert, haben gesagt, da werden zu schnell Leute verhaftet, da werden zu schnell Leute unter Beobachtung genommen, die vielleicht möglicherweise nur ein oder zwei kritische Äußerungen gemacht haben. Ja wenn überhaupt, dann wird es noch strenger werden und dann wird jeder Fall untersucht und jeder kritischen Äußerung wird nachgegangen. Ich denke, das ist jetzt fast unvermeidbar.
    Den Frust in ein politisches Projekt kanalisieren
    Simon: Herr Neumann, Sie untersuchen Radikalisierungen. Wenn wir uns Omar Mateen anschauen, ein 29jähriger, in den USA geboren, die Familie stammte aus Afghanistan. Ist für Sie irgendwo erklärlich, wie ein Mann, der einen bis dahin relativ normalen Lebenslauf hatte, so radikal werden konnte?
    Neumann: Ja. Bei vielen Leuten, die zu solchen Einzeltätern werden, kommen ja immer einige Dinge zusammen. Und obwohl wir in diesem Fall noch nicht ganz genau wissen, was da alles passiert ist, ist es häufig so, dass es eine Kombination ist aus Frustration. In seinem Fall weiß man nicht genau, was die Frustration war, aber offensichtlich hat er sich in seiner eigenen Haut nicht wohlgefühlt, hat auch nicht gefühlt, dass er in dieses Land und in diese Gesellschaft gehört. Eine gewisse Art von Drang natürlich auch.
    Es sind vor allem immer auch junge Männer, die bestimmten Bedürfnissen nachgehen, die vielleicht auf der Suche sind nach Abenteuer, die in manchen Fällen auch psychische Probleme gehabt haben. Wenn das, was seine ehemalige Frau sagt, stimmt, dann wäre das auch relativ typisch.
    Und die dann eben über Leute in ideologische Milieus hineingeraten, die dann quasi aus diesem Frust und diesem Drang Sinn machen und es in ein politisches Projekt kanalisieren. Das könnte hier die Geschichte sein, dass das jemand war, der Probleme hatte, der sich nicht wohlgefühlt hat und der dann quasi ein ideologisches Projekt gefunden hat, an das er sich andocken konnte und das ihm dann erlaubt hat, zu einem Helden zu werden, zumindest aus der eigenen Sicht.
    Simon: Aber aus Problemen ein ideologisches Projekt finden und dann Menschen direkt umbringen, das ist schon ein großer Schritt oder?
    Desensibilisierung findet über Jahre hin statt
    Neumann: Das ist ein großer Schritt und deswegen passieren diese Radikalisierungsprozesse, auch wenn das manchmal so behauptet wird, in den allermeisten Fällen nicht über Nacht. Das sind schon dann Prozesse, die sich teilweise über Jahre hin abspielen, wo auch eine gewisse Gewöhnung stattfindet, wo auch eine Desensibilisierung stattfindet.
    Wahrscheinlich hat sich Mateen das im eigenen Kopf schon tausend Mal durchgespielt, hat das wahrscheinlich bei irgendwelchen Schießübungen ausprobiert, und dann irgendwann kommt der Punkt und häufig ist es dann auch so, dass es einen Schock oder ein Auslösungserlebnis gibt, möglicherweise eine Erfahrung, die er mit Schwulen gemacht hat. Da gibt es ja auch schon Geschichten darüber, dass vielleicht vor vier Wochen möglicherweise etwas passiert ist, wo er dann gesehen hat, wie Männer sich auf der Straße geküsst haben, und das war dann der Auslöser, wo er gesagt hat, jetzt mache ich das.
    Und natürlich ist das für jemanden, der das nicht macht und der nie auf die Idee kommen würde, Menschen umzubringen, letztlich immer unerklärbar. Aber man kann diese Prozesse schon nachkonstruieren und das sind Prozesse, die sich oftmals über längere Zeit abspielen, als wir uns das häufig vorstellen.
    Simon: Jetzt bekennt sich ja die Terrormiliz vom IS zu dem Angriff. Heißt das, dass das Massaker gesteuert war, oder kann das auch ein Aufspringen sein?
    "Islamischer Staat: Ihr könnt machen, was ihr wollt"
    Neumann: Das kann ein einsamer Wolf sein, der überhaupt keine Verbindung zum Islamischen Staat hatte. Das kann einer sein, der möglicherweise Verbindungen übers Internet hatte. Es kann auch sein, dass er vielleicht jemanden kannte, und das ist genau das, womit sich das FBI, die amerikanische Bundespolizei momentan beschäftigt, was sie versucht herauszufinden: Gab es da irgendwelche Verbindungen. Selbst wenn es überhaupt keine Verbindungen gab, würde das dem Islamischen Staat natürlich ins Konzept passen, denn wir wissen: Seit September 2004 ruft der Islamische Staat aktiv dazu auf. Er sagt seinen Anhängern im Westen:
    Wenn ihr nicht zu uns kommen könnt nach Syrien und in den Irak, dann könnt ihr auch zuhause bleiben und dort etwas auf eigene Faust unternehmen. Es kann auch was ganz Einfaches sein, ihr braucht uns nicht um Genehmigung fragen. Je mehr ihr macht gegen die sogenannten Ungläubigen, desto besser, und ihr könnt machen, was ihr wollt. Da haben wir auch in Europa schon einige solche Vorfälle gesehen, wo sogenannte einsame Wölfe dann auf eigene Faust losgeschlagen haben. Der große Unterschied ist natürlich, dass es in Europa nicht so einfach ist, eine halb automatische Waffe in die Hände zu bekommen und dann 50 Leute auf einmal umzubringen. In Europa ist es dann meistens eine Messerattacke, die dann nur eine Person umbringt.
    Simon: Stichwort die Ungläubigen, was Sie gerade gesagt haben. Wie passt das zusammen mit dem Umstand, dass Omar Mateen wohl nach Aussage vieler Leute nicht besonders religiös gewesen sei?
    "Im Prinzip eine Rebellionsideologie"
    Neumann: Da muss man natürlich jetzt mal genau nachschauen, zu welchem Zeitpunkt war das der Fall und war es möglicherweise der Fall, dass er in den letzten Wochen dann doch vielleicht religiöser geworden ist. Aber wir sehen durchaus auch bei einigen der europäischen Attentäter in Brüssel und in Paris, dass sie es mit der Religion manchmal nicht so genau genommen haben, wie das eigentlich vom Islamischen Staat gefordert wird.
    Das hat auch zum Beispiel unter Forschern und Wissenschaftlern schon zu Debatten geführt und in Frankreich gibt es einen wichtigen Radikalisierungsforscher, der nennt sich Olivier Roi. Der sagt, es geht eigentlich im Prinzip nicht um den genauen Inhalt dieser Ideologie; es geht darum, sich gegen das System aufzulehnen. Es ist im Prinzip eine Rebellionsideologie, genauso wie es von mir aus in den 60ern und in den 70ern die linken Ideologien waren, an die sich Leute andocken, denen es einfach stinkt und denen ist im Prinzip auch egal, was der genaue Inhalt ist. Es geht darum, sich gegen das System aufzulehnen, und das ist momentan der Dschihadismus. Wer Dschihadist ist, der lehnt sich so sehr gegen das System auf, dass er praktisch sich sicher sein kann, dass die gesamte Gesellschaft gegen ihn ist.
    Simon: Peter Neumann, der Direktor des internationalen Zentrums zur Untersuchung von Radikalisierung am Londoner King’s College. Das Gespräch mit ihm habe ich vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.