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Radiolexikon: Appetitzügler

Von Fressattacken über die Ess-Brech-Sucht bis hin zur Magersucht: Die Palette möglicher Essstörungen ist breit und die Zahl der Betroffenen hoch. Den Einstieg finden Betroffene häufig über eine Medikamentengruppe mit dem unscheinbaren Namen "Appetitzügler".

Von Mirko Smiljanic | 23.10.2012
    Germany’s next topmodel, es wird ernst…

    ""Nele, irgendwie sieht es so aus, als wenn Dir auf den letzten Metern die Puste ausgeht…""

    Ängstlich steht das Mädchen vor Heidi Klum und wartet auf ihr Urteil. Hapert es am Ausdruck? Ist sie zu klein oder zu groß? Hat sie gar zu viel Speck auf den Hüften? Models müssen schlank sein, besser noch mager. Aus diesem Grund sind Diäten ihre täglichen Begleiter.

    "Oh, da war ich noch in der Berufsschule, da war so ein Hype in der Klasse, viele, viele Mädchen haben das genommen, und da wurde auch in der Apotheke unter der Hand die Sachen verkauft, das war wie so ein Schwarzmarkt ..."

    ... erzählt diese Frau, die zwar an Appetitzüglern haarscharf vorbeigeschrammt ist, dem Schönheitszeitgeist aber total verfallen war.

    "Ja, wir wollten alle einem Ideal entsprechen: schön, schlank, jung."

    So wie es Filme und Illustrierte vorführen, leider aber verschweigen, welche Torturen Models für Kleidergröße 36 über sich ergehen lassen müssen.

    "Also, ich glaube, die Medien haben da schon eine große Macht, wenn ich da von mir selber spreche, ist es so, dass man diesen Anspruch hat, dass man in einen Film rein springen könnte und sofort mitspielen könnte, weil man genau so schön aussieht, wie die Schauspieler."

    Die allerdings ständig hungern, wenn andere essen. Gibt es dafür keine Lösung?

    "Ja, das klingt ja erst einmal verlockend, man nimmt eine Tablette und hat keinen Hunger mehr."

    Es gibt sie, die Tablette. Sie heißt Appetitzügler und regelt das Hungergefühl herunter, meistens zumindest.

    "Und ich habe also auch erlebt, dass ein Mädchen aufgrund dieser Appetitzügler, die hat ne Überdosierung genommen, auch kollabiert ist. Das ist noch so präsent in mir, die hat so wie einen epileptischen Anfall bekommen, das war ganz dramatisch und das fand ich so erschreckend."

    ""Nele, irgendwie sieht es so aus, als wenn Dir auf den letzten Metern die Puste ausgeht.""

    Appetitzügler: Medikamente, die das Hungergefühl mindern und so der Betroffenen – Appetitzügler werden fast ausschließlich von Frauen genommen – beim Abnehmen helfen. Waren Appetitzügler nicht eine Modeerscheinung der 70er- und 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts?

    "Ich glaube, dass sich das ganz schwer beantworten lässt, wann das häufiger war und ob das wirklich so der Fall war."

    Dr. Katrin Imbierowicz, Oberärztin an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn.

    "Ich habe mal mit Apothekern gesprochen und die sagten, nach ihren subjektiven Eindrücken wird es tatsächlich seltener, dass die Leute in die Apotheke gehen und Appetitzügler verlangen. Wenn man gleichzeitig auf die Seiten der Hersteller schaut, scheint der Marktanteil eher zuzunehmen. Ich glaube, dass sich das Beschaffen der Appetitzügler verlagert in einen Bereich aus den Apotheken heraus mehr in das Internet hinein."

    Frei verkäuflich sind Appetitzügler in vielen Formen erhältlich. Allerdings besteht bei einigen Produkten der Verdacht, dass sie mit dem Placebo-Effekt arbeiten, also keine den Hunger mindernden Wirkstoffe besitzen. Zuverlässig wirkenden Appetitzügler sind in der Regel verschreibungspflichtig.

    "Die gängigen Appetitzügler, die heute auf dem Markt sind und auch erlaubterweise auf dem Markt sind, sind Wirkstoffe, die die Fettresorption hemmen und darüber gar nicht Einfluss auf den Appetit nehmen aber Einfluss auf die Nahrungsverwertung nehmen, und Medikamente, die den Stoffwechsel steigern, die also zentral am Gehirn wirken, das ist die zweite Wirkstoffgruppe."

    Medikamente mit Einfluss auf die Fettresorption heißen genau genommen zu Unrecht "Appetitzügler", bei der zweiten Gruppe – sie greifen ins Hirn ein – wird tatsächlich das Hungergefühl heruntergeregelt.

    "Das sind aber Medikamente, die nur sehr kurz eingenommen werden dürfen, zwei bis vier Wochen, dann sollte sogar eine mehrmonatige Pause gemacht werden, und da ist halt die Gefahr der Grauzone sehr groß bei der Selbstbeschaffung, dass man auf diese Richtlinien nicht mehr achtet, ne."

    Sollte man aber, denn die Risiken und Nebenwirkungen von Appetitzüglern sind beträchtlich – und unangenehm. Zum Beispiel bei Medikamente, die Einfluss auf die Fettresorption nehmen.

    "Da sind die Nebenwirkungen "Fettstühle", "Blähungen", was sehr unangenehm ist für die Betroffenen selber, deshalb ist das ein Medikament, was eigentlich gar nicht so gerne eingenommen wird, obwohl eine relativ gute Gewichtsreduktion von etwa fünf Prozent des Ausgangsgewichts zur Folge hat bei den meisten, das ist eigentlich noch relativ gut verträglich sagen wir mal, bis auf die Fettstühle und die Blähungen.

    Das zweite Medikament, das ich angesprochen habe, was den Stoffwechsel steigert und den Appetit eher zügelt, hat eine ganze Menge Nebenwirkungen. Gerade bei Langzeitgebrauch kann es dazu führen, dass auch zentrale, das heißt psychische und psychiatrische Krankheitsbilder auftreten, Kreislaufstörungen können auftreten, es gibt keine Sicherheiten, wie das ist bei stillenden Frauen und bei schwangeren Frauen, da sollte es auf keinen Fall genommen werden, und insofern ist das eine Wirkstoffklasse, die wirklich gefährlich sein kann."

    Verwirrtheitszustände und Psychosen können bei zu langer und zu hoch dosierter Einnahme die Folge sein, nach dem Absetzen der Medikamente besteht zudem die Gefahr, dass sich Depressionen entwickeln. Zwei Medikamente sind wegen der Nebenwirkungen in den letzten Jahren vom Markt genommen worden, sagt Katrin Imbierowicz, Ärztin für Psychosomatische Medizin am Uniklinikum Bonn.

    "Einmal das Sibutramin, was eigentlich ursprünglich ein Antidepressivum war so von der Wirkstoffklasse her, wo man festgestellt hat, es führt aber auch zu einer Gewichtsreduktion, und da ist festgestellt worden, dass es die Wahrscheinlichkeit für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöht, es ist also kontraindiziert gewesen bei Bluthochdruck und dann letztendlich ganz vom Markt genommen worden, und der zweite Wirkstoff ist ein Medikament was auf den Cannabuid-Stoffwechsel Einfluss nimmt, das ist vom Markt genommen worden, weil Depressionen aufgetreten sind."

    Trotz aller Risiken dürfen Appetitzügler verschrieben werden. Nach den gegenwärtig geltenden Adipositasrichtlinien, wenn der der BMI über 30 liegt und die gängigen Behandlungsmethoden nicht greifen.

    "Das heißt, wenn Ernährungsberatung, Bewegungssteigerung und Verhaltenstherapie nicht gegriffen haben und der BMI immer noch über 30 liegt, also das heißt bei einem Menschen von 1,70 Meter Größe etwa 87 Kilogramm, dann kann man über diese Medikamente nachdenken, aber nur in Absprache mit dem Hausarzt, weil zum Beispiel die Herz-Kreislauf-Verhältnisse überprüft sein müssen, eine Schwangerschaft muss ausgeschlossen sein, also diese Dinge müssen in Absprache mit dem Hausarzt erfolgen."

    Bleibt zum Schluss die wichtigste Frage: Wie sieht es mit der Nachhaltigkeit aus?

    "Wenn keine Änderung des Ernährungsverhaltens aufgetreten ist, wird das Gewicht wieder zugenommen, die Nachhaltigkeit ist gering."

    Weshalb Appetitzügler zur dauerhaften Gewichtsreduktion fast immer erfolglos sind.

    ""Nele, irgendwie sieht es so aus, als wenn Dir auf den letzten Metern die Puste ausgeht…""