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Radiolexikon Hunger

Hunger spielt in vielen Märchen immer wieder eine Rolle. Offenbar eine Situation, die unsere Vorfahren nur zu gut kannten. Während der Evolution entwickelte sich so ein Mechanismus zum Schutz vor Unterernährung. Der Schutz vor Überernährung war nicht notwendig. Heute leben wir eher im Überfluss und Übergewicht ist zur Volkskrankheit geworden.

Von Renate Rutta | 04.11.2008
    "Es war einmal ein armes, frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald, und da begegnete ihm eine alte Frau, die wusste seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen: "Töpfchen, koche", so kochte es guten, süßen Hirsebrei, und wenn es sagte: "Töpfchen, steh", so hörte es wieder auf zu kochen. Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und aßen süßen Brei, sooft sie wollten."

    So beginnt das Märchen "Der süße Brei" der Gebrüder Grimm. "Hunger" spielt auch in anderen Märchen immer wieder eine Rolle. Offenbar eine Situation, die unsere Vorfahren nur zu gut kannten. Professor Wolfgang Langhans vom Department Agrar- und Lebensmittelwissenschaften, Gruppe Physiologie und Verhalten, der ETH Zürich:

    "Im Verlauf unserer Entwicklung waren wir mit Sicherheit häufiger Perioden ausgesetzt, wo wir wenig oder gar nichts zu essen hatten, als dass wir Perioden ausgesetzt waren, wo wir solchen Überfluss haben, wie wir ihn heutzutage haben. Dementsprechend hat sich in der Evolution wahrscheinlich ein besserer Mechanismus zum Schutz vor Unterernährung entwickelt als ein Schutz vor Überernährung. Und damit hängt wahrscheinlich zusammen, dass wir in unserem Umfeld eben die Problematik mit der Adipositas haben, stark vereinfacht ausgedrückt."

    Das Grimm´sche Märchen droht mit einer Katastrophe zu enden: Die Mutter kocht Brei, aber sie weiß das Wort nicht, damit das Töpfchen wieder aufhört, Brei zu kochen.

    "Also kocht es fort, und der Brei steigt über den Rand hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll und das zweite Haus und dann die Straße, als wollt´s die ganze Welt satt machen, und ist die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen. Endlich wie nur noch ein einziges Haus übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur "Töpfchen, steh" , da steht es und hört auf zu kochen, und wer wieder in die Stadt wollte, der musste sich durchessen."

    Eine geradezu paradiesische Vorstellung für viele - sich durch einen riesigen Berg aus süßem Brei durchzuessen.

    "Dementsprechend kann es dazu kommen, dass das Körpergewicht eben deutlich höher ist bei manchen Leuten als es eigentlich wünschbar wäre."

    Unser genetisches Erbe ist mitbeteiligt, wenn Menschen zu viel essen. Denn Phasen mit Nahrungsmangel sind zum Glück heute selten. Trotzdem kennen alle ziemlich oft ein Hungergefühl oder Appetit.

    "Wenn die Begriffe Appetit und Hunger fallen, muss man sich vor Augen halten, dass das nicht genau das gleiche ist. Stark vereinfacht ausgedrückt, wenn Sie Hunger haben, dann essen Sie auch trockenes Brot oder was auch immer. Wenn Sie Appetit haben, der Appetit ist das, was Sie im Restaurant die Speisekarte ansehen lässt und sagen sich, als Vorspeise vielleicht das oder doch lieber das und dann als Hauptgang das usw. Also wir haben Gott sei Dank in unserem normalen Lebensumfeld selten richtig Hunger. Das ist meist ein bisschen Hunger vermischt mit Appetit."

    "Guten Appetit" - wünscht man sich am Mittagstisch vor dem Essen - eigentlich ziemlich überflüssig, haben doch die meisten Menschen kein Problem mit zu wenig Appetit. Doch wie kommt es dazu, dass um die Mittagszeit regelmäßig der Magen knurrt und sich der Hunger meldet, obwohl doch am Morgen das Frühstück reichhaltig war? Kommt es daher, weil der Magen schon wieder leer ist?

    "Man könnte ja davon ausgehen, dass ein leerer Magen bedeutet, dass man hungrig ist und dass ein voller Magen bedeutet, dass man satt ist."

    Doch der ganze Mechanismus von Hunger und Sättigung ist weitaus komplexer, so Professor Christoph Beglinger, Abteilung Gastroenterologie und Hepatologie am Universitätsspital Basel.

    "Wenn wir essen, wird der Magen natürlich gefüllt und er dehnt sich und die Dehnung des Magens ist ein Sättigungssignal. Beim Menschen ist das in der ganzen Regulationskaskade eher von untergeordneter Bedeutung, nur ein ganz kleiner Beitrag im ganzen Regulationssystem. Das ganze wird natürlich primär vom Gehirn gesteuert, von unseren Appetitzentren."

    Die Signale, die während des Essens vom Magen ausgesandt werden, kann man in zwei Gruppen einteilen.

    "Auf der einen Seite gibt es Dehnungsrezeptoren, die auf eine mechanische Dehnung stimuliert werden. Das typische Beispiel ist die Magendehnung, wenn wir essen. Die andere Rezeptorgruppe ist die chemische Rezeptorengruppe, die werden durch ganz spezifische Nahrungsbestandteile ausgelöst, zum Beispiel durch spezifische Zuckerformen oder durch Fettsäuren oder durch Aminosäuren, sie haben also ganz spezifische Bestandteile der Nahrung, die ein bestimmtes Signal auslösen können. Und diese Signale werden dann entweder in Nervenform oder als Hormone ans Hirn weitergeleitet, wo die ganzen Sättigungssignale zuesammengefasst und interpretiert werden. Und alle diese Faktoren zusammen bedeuten dann eben Sättigung oder Hunger."

    Der "Chef" des ganzen Systems ist also das Gehirn. Der Geschmack des Essens spielt auch eine Rolle. So hat die Menge, wie viel man isst, damit zu tun, wie gut es schmeckt. Denn wer etwas gerne isst, isst mehr davon. Wenn es weniger gut schmeckt, hält man sich zurück.

    "Im Mund haben wir Rezeptoren für süß, sauer, bitter und salzig und diese Faktoren bestimmen, ob wir etwas gerne essen oder weniger gerne essen. Das ist quasi das Geschmacksgefühl. Im Darm finden Sie aber die identischen Rezeptoren und wenn die quasi durch spezifische Bestandteile der Nahrung ausgelöst werden, dann melden sie dem Gehirn, dass Sättigung induziert wird."

    Lust auf Essen beginnt schon beim Geruch. Wenn es nach frisch gebackenem Kuchen duftet oder nach einem knusprigen Braten, dann bekommen wir Appetit. Doch auch das Auge ißt mit. Wer mag schon blaue Nudeln oder schwarzes Gemüse?

    "Wenn etwas schlecht riecht oder unansehnlich aussieht, dann isst man davon nicht viel, das heißt die sensorischen Aspekte sind ein wichtiger Faktor dafür, wie viel Sie essen, wie schnell Sie essen innerhalb einer einzelnen Mahlzeit. Das heißt, wenn etwas gut aussieht, gut riecht, also fürs Auge und für die Nase etwas bietet und dann noch gut schmeckt, dann essen Sie mehr davon als wenn etwas unansehnlich aussieht oder was auch immer."

    Wir kommen schon auf die Welt mit einer Vorliebe für süßen Geschmack und mit einer angeborenen Aversion gegen bitteren Geschmack, so Professor Langhans:

    "Man bringt es häufig damit in Zusammenhang, dass süßer Geschmack ein Indikator, also ein Anzeichen für schnell verfügbare Energie ist, wohingegen bitterer Geschmack ein Indikator für abträgliche Inhaltsstoffe, also für Toxine oder was auch immer ist."

    Bitter scheint also zu signalisieren: ungenießbar oder sogar giftig. Bei Hunger, Appetit und Sättigung spielen aber noch viele andere Faktoren eine Rolle. Sitzen wir etwa mit guten Freunden am Tisch, dann essen wir mehr, als wenn neben uns Menschen sitzen, die wir nicht so gerne mögen.
    Auch die Erziehung spielt eine Rolle. "Iß den Teller leer" - so sind viele von uns noch aufgewachsen - ein Mechanismus, den auch der wohlgenährte Erwachsene dann beibehält.
    Gewohnheiten gehören auch dazu: der Keks zum Kaffee, das Stück Kuchen am Nachmittag, das Eis nach dem Essen, obwohl man eigentlich schon satt ist. Wissenschaftler betrachten auch das als Erbe unserer Vorfahren.

    "Dieses Phänomen bezeichnet man auch als "Desserteffekt". Das kennt jeder von uns, wenn Sie sich hinsetzen und ein vier- oder fünfgängiges Menü essen, dann essen Sie mit Sicherheit mehr als wenn Sie nur eine Speise essen. Auch das ist ein Mechanismus, der in freier Wildbahn bei unseren Vorfahren sicher etwas damit zu tun hatte, damit wir uns möglichst ausgewogen ernähren, weil wir auf diese Art und Weise statistisch betrachtet zumindest die Wahrscheinlichkeit einer ausgewogenen Ernährung erhöht haben durch den Wechsel von einer Nährstoffquelle zu einer andern."

    Viele Faktoren bestimmen, wann und ob wir satt sind.
    Zur Regulierung von Hunger und Sättigung gibt es ein Netzwerk von aufeinander abgestimmten Botenstoffen und Hormonen. Zusätzlich zur gerade verzehrten Nahrung bezieht der Körper nämlich auch das Fettgewebe, also unsere Energiereserven, in die Kalkulation mit ein.
    Insgesamt ein recht kompliziertes System, das da abläuft.
    Doch wie sieht es mit Getränken aus, machen die eigentlich auch satt? Professor Volker Schusdziarra vom Klinikum Rechts der Isar in München:

    "Getränke werden sehr schnell aus dem Magen entleert. Sie führen nicht zur Magendehnung und damit nicht zur Aktivierungs von Sättigungssignalen. Und damit sind alle kalorienhaltigen Getränke nie Sattmacher, sondern immer nur Dickmacher. Dazu kommt, wenn diese Getränke noch Kohlenhydrate enthalten, der insulinstimulierende Effekt, der dann den Fettaufbau noch besonders begünstigt und vor allem den Fettabbau besonders hemmt."

    Und welche Rolle spielt die Suppe? Sie wird ja oft empfohlen mit dem Hinweis, dann wird man schneller satt.

    "Die Suppe macht nur sehr kurzfristig eine Sättigung, da reden wir vielleicht über zehn Prozent Unterschied. Es bringt also für die tägliche Kalorienmenge nicht viel. Suppe, vor allem Eintöpfe, sind dann gut, wenn man Gemüse nicht zu sehr zerkocht und zum Beispiel noch mageres Fleisch mit hineingibt, grob gewürfelt, dann verbleibt Gemüse und Fleisch länger im Magen und dann hat man auch eine anhaltende Sättigung."

    Beim Sattwerden macht es einen Unterschied, ob man Gemüse püriert und zerkocht oder ob man große Stücke in der Suppe lässt. So werden wir manchmal regelrecht überlistet zum zweiten Teller Suppe, zum zweiten Stück Torte, zum Dessert.. ... wie schön wäre es doch, sich durch einen riesigen Berg aus süßem Brei durchzuessen - wie im Märchen.