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Radiolexikon: Progressive Muskelentspannung

Progressive Muskelrelaxation oder Muskelentspannung ist eine der bekanntesten Selbsthilfetechniken gegen Stress mit all seinen, auch körperlichen Begleiterscheinungen. Früher nannte man das "Anspannung", was direkt zum Kern der Methode führt.

Von Andrea Westhoff | 27.07.2010
    -"Ich merke im Laufe des Tages, dass ich ziemlich verkrampfe, ziemlich anspanne und schlecht in die Entspannung komme. und da hat mir gerade die Progressive Muskelentspannung sehr viel geholfen."

    Achten Sie bitte ganz aufmerksam auf Ihre Empfindungen bei der Anspannung und der anschließenden Entspannung der Muskeln.

    Progressive Muskelrelaxation oder Muskelentspannung ist eine der bekanntesten Selbsthilfetechniken gegen Stress mit all seinen, auch körperlichen Begleiterscheinungen. Früher nannte man das "Anspannung", was direkt zum Kern der Methode führt:

    "Das Hauptprinzip ist es, die Körperwahrnehmung zu verbessern, frühzeitiger zu merken, wenn Muskeln angespannt sind und sie auch wieder bewusst entspannen zu können."

    Die Psychologin Christel von Scheidt ist Leiterin der Tagesklinik im Immanuel-Krankenhaus in Berlin, wo sie regelmäßig auch Kurse zur Progressiven Muskelentspannung anbietet. Warum spricht man eigentlich von "progressiv"?

    "Progressiv heißt ja fortschreitend, und das ist eine Übung, bei der fortschreitend eine Muskelgruppe nach der andere angespannt und wieder entspannt wird, fortschreitend kann sich aber auch darauf beziehen, dass es von Mal zu Mal leichter geht, und fortschreitend kann sich auch darauf beziehen, dass es von einer Muskelgruppe zur nächsten entspannender wird."

    Entwickelt hat diese Entspannungstechnik der amerikanische Arzt und Physiologe Edmund Jacobson schon Anfang des letzten Jahrhunderts: Ausgehend von seinem eigenen Erleben, dass bei Angst oder Stress die Muskeln angespannt sind, konnte er das umgekehrte Phänomen nachweisen, dass nämlich eine Muskelentspannung auch die Aktivität des Zentralen Nervensystems herabsetzt.

    "Richten Sie zunächst Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre rechte Hand und Ihren rechten Unterarm und ballen Sie Ihre rechte Hand zur Faust – jetzt!"

    Das praktische PME-Verfahren besteht aus einer Abfolge von fünf Schritten, die bei jeder Muskelgruppe wiederholt werden,

    "Als erstes wird in die Muskelgruppe hineingespürt, also wenn man beispielsweise den Nacken sich vornehmen würde, in die Nackenmuskulatur hineinspüren, wie sie sich jetzt gerade anfühlt, dann wird diese Muskelgruppe auf eine bestimmte Art und Weise angespannt – die Spannung wird für eine bestimmte Zeit gehalten – das ist der dritte Schritt – mit dem vierten Schritt wird die Muskulatur wieder gelöst, und der fünfte Schritt ist das Nachspüren, um – ja – zu lernen, Unterschiede wahrzunehmen und auch bewusst wahrzunehmen: wie fühlt sich denn Entspannung an."

    Die Progressive Muskelentspannung ist eines der am leichtesten zu erlernenden Entspannungsverfahren, weil man etwas tut – anspannen und locker lassen – was auch direkt fühlbar ist – im Gegensatz zum Autogenen Training, wo es mehr auf die Vorstellungskraft ankommt. Das hat auch Sabine Täubert bei ihrem Kurs erlebt:

    "Ich hab zum Beispiel gemerkt, wenn ich mich hinlege, dass meine Schultern noch ziemlich angespannt sind oder auch verschiedene Körperregionen, und wenn man die dann einzeln durchgeht, dann merkt man, wie der Körper sich richtig entspannt und wie dann z.B. zum Schluss die Schultern ganz am Boden sind, und das funktioniert wunderbar."

    Dennoch ist besser, nicht ohne professionelle Betreuung mit der Progressiven Muskelentspannung zu beginnen, rät Christel von Scheidt:

    "Es könnte falsch verstanden werden, beispielsweise "je fester ich anspanne, desto größer ist nachher die Entspannung." Und wenn beispielsweise Muskelgruppen angespannt werden, die per se schon verspannt oder chronisch verspannt sind, kann es dadurch auch zu einer Verstärkung der Beschwerden kommen. Insofern würde ich auf jeden Fall anraten, dass unter Anleitung zu erlernen."

    Die Dauer der Entspannungsübungen nach Jacobson kann sehr unterschiedlich sein:

    "In der Regel ist es erstmal ein Durchgehen durch die ganzen Körper, die Hände, die Arme, das Gesicht, Schulter, Nacken, der Rumpf, das Gesäß, die Bauchmuskeln, die Beine, wenn man geübter ist, ist es durchaus möglich mehrere Muskelgruppen wieder zusammen zu fassen, beide Arme, beide Hände gleichzeitig, man muss nicht immer den ganzen Körper anspannen und wieder entspannen."

    Aber wenn der ganze Körper entspannt wurde, dann ist – wie beim Autogenen Training – am Ende eine "Rückführung" nötig, hier: ein kräftiges Räkeln, Strecken und Durchatmen.

    Der wichtigste körperliche Effekt der PME ist, dass man Spannung und Entspannung bewusst herbeiführt und dadurch wesentlich intensiver wahrnimmt. Deshalb ist sie nicht angezeigt bei einer akuten Psychose oder bei Depressionen und auch nicht bei sehr niedrigem Blutdruck, warnt die Psychologin Christel von Scheidt. Ansonsten aber ist die Progressive Muskelentspannung ein sehr vielseitig einsetzbares Verfahren. Die positive Wirkung bei Angst und nervlicher Anspannung hatte ja schon Jacobson selbst untersucht, inzwischen sind weitere Effekte in vielen Studien nachgewiesen worden:

    "Zum einen sind es jegliche Formen von Schmerzen, bei hohem Blutdruck hat es sich wirklich bewährt oder bei Schlafstörungen, bei Magen-Darm-Erkrankungen, man weiß auch, dass das Immunsystem sich verbessert, dass die Menschen auch beschreiben, dass sie emotional stabiler werden durch die regelmäßige Anwendung von progressiver Muskelentspannung, dass auch die Stresswiderstandsfähigkeit sich verbessert dadurch und insgesamt auch eine verbesserte Stressbewältigungsfähigkeit."

    Aber regelmäßig muss man es machen, um die positiven Effekte zu spüren:

    "Ich formulier es manchmal für die Teilnehmer so, dass die Entspannungsfähigkeit wie ein Muskel ist. Und je besser ich ihn trainiere desto besser kann ich ihn einsetzen."

    Dafür lässt sich die Progressive Muskelentspannung auch fast überall praktizieren, ein Vorteil, meint Christel von Scheidt, den die vielen CDs zur PME etwas konterkarieren, weil sie in der Regel mit Musik arbeiten:

    "Ich persönlich mache es ohne Musik, für mich steht die Alltagstauglichkeit mehr im Vordergrund und wenn ich darin geübt bin, das ohne Musik zu machen, dann kann ich es auch in der S-Bahn machen, dann kann ich es an der roten Ampel machen, dann kann ichs an der Supermarktkasse machen, dann kann ich es einfach leichter einsetzen."

    Die Erfahrung hat auch Sabine Täubert gemacht:

    "Ich hab mir von den vielen Angeboten, die es gab, die PME wirklich rausgesucht, und ich profitiere davon, indem ich wirklich manchmal mich auf der Arbeit 5 Minuten hinsetze und mich wirklich mal entspanne, und man merkt vor allem auch danach, wenn man die PME gemacht hat, dass man gelassener ist, ruhiger ist und wieder ein Stückchen aufgetankt hat."