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Radiolexikon Spielsucht

Glücksspielsucht ist eine sogenannte "stoffungebundene" Sucht. Das heißt, es ist egal, ob man mit einem Automaten in der Spielothek, Roulette oder Karten spielt: Wichtig ist nur das Spiel um Geld.

Von Julia Möckl | 15.10.2013
    "Ich muss neun gewesen sein, neun oder zehn Jahre. Mein Onkel hatte damals einen Kegelklub. Und ich durfte mitkommen, mal mitkegeln und so. Und da war so ein Groschenautomat. Und da habe ich zehn Groschen reingeworfen damals und hab eben eine Serie geholt. Und ich hatte sehr viel Geld raus, 50 oder 60 Mark, sehr viel Geld damals. Das kam immer wieder raus, immer eine neue Serie. Ich hab gedacht, der Automat ist kaputt, das kann doch nicht sein."

    An sein erstes Spiel erinnert sich Harald noch heute. Dass er krank ist, hat er erst Jahrzehnte später erkannt. Der heute 52-Jährige ist glücksspielsüchtig. Seit fast sechs Jahren ist Harald jetzt "trocken" – wie er es nennt. Über 30 Jahre lang hat er gespielt – an sogenannten "gewerblichen Geldspielautomaten", wie sie in Spielhallen stehen, aber auch in Gaststätten. In diesen 30 Jahren hat der selbstständige PC- und Hardwarespezialist eine Million Euro Schulden angehäuft. Ungewöhnlich viel, sagt Dr. Jörg Petry, psychologischer Psychotherapeut mit Spezialisierung auf Glücksspielsucht:

    "So eine Verschuldung von 30.000 bis 50.000 Euro von gewerblichen Geldautomatenspielern, die junge Männer sind, das ist das Typische. Und diese hohen Verschuldungen, mehrere Millionen, das sind in der Regel Menschen, die gut verdienen oder ein eigenes Unternehmen haben und die in der Regel im Kasino spielen, dort Black Jack oder Roulette spielen – da entstehen solche hohen Verschuldungen."

    Die meisten der rund 500.000 süchtigen, krankhaften Glücksspieler in Deutschland sind jedoch wie Harald Automatenspieler. Spielhallen gibt es viele und oft haben sie 23 Stunden am Tag geöffnet. Leichter zugänglich sind nur Onlineglücksspiele.

    Auch wenn der 52-jährige Rheinländer ein extremes Beispiel ist - in gewisser Weise ist sein Fall auch typisch. Denn aktuelle Studien zeigen, dass gerade Männer häufig schon als Jugendliche glücksspielsüchtig werden. Frauen fangen oft erst später an zu spielen, wenn sie schon Familie haben, einen Beruf. Genau wie Harald haben viele Glücksspielsüchtige bei ihrem ersten Spiel Glück – und gewinnen. Aber da Glücksspiele laut Definition "zufallsabhängig" sind, folgen bald unweigerlich die Pechsträhnen:

    "Man versucht dann, das verlorene Geld wieder reinzuholen. Und dann verspielt man das gewonnene Geld wieder. Ich hab sehr viel mit Rauschgift zu tun gehabt, gedealt und auch mit Mädchen, die anschaffen gegangen sind und alles Geld was ich eingenommen habe, habe ich verspielt. Am nächsten Tag wieder eingenommen und wieder verspielt. Ich hab keine Rücklagen gebildet, nichts. Ich hab es einfach verspielt."

    Petry: "Das ist so ein Haupt-Mechanismus, das nennen wir die 'Aufhohljagd'. Und das führt in eine immer tiefere Verschuldung hinein."

    Egal ob am Automaten, beim Roulette, Pokern oder Lotto: Beim Glücksspiel geht es immer um Geld. Als Folge ihrer Krankheit haben Glücksspielsüchtige daher vor allem mit Schulden zu kämpfen. Nicht wenige begehen wie Harald sogar Straftaten, um sich das nötige Geld zum Spielen zu beschaffen. Umgangssprachlich spricht man auch hier von einer Art "Beschaffungskriminalität", wie man sie von anderen Suchtkrankheiten kennt. Anders als Alkoholiker oder Drogenabhängige sind Spieler aber nicht von einem bestimmten Suchtmittel abhängig, einer Substanz, ohne die sie Entzugserscheinungen haben. Glücksspielsucht ist eine sogenannte "stoffungebundene" Sucht.

    Petry: "Eine Droge beeinflusst direkt das Nervensystem und löst dort Gefühle aus und Reaktionen. Während das Glücksspiel ein Erleben aktiviert, was kompensatorisch ist für Frustrationen im Alltag. Ein Roulettespieler sagt, er will einen Abend mal eine grandiose Persönlichkeit sein und so wird er dann auch behandelt. Gewerbliche Geldautomatenspieler sagen uns, sie wollen abschalten."

    "Das ist wie Alkohol trinken und einfach alles zu vergessen, nicht mehr drüber nachzudenken. Wie ein Rausch. Und sobald man die Spielhalle verlässt und nichts mehr hat, dann kommen die Gedanken wieder hoch und es erschlägt einen halt wieder."

    Harald kann schlecht mit Gefühlen umzugehen. Es fällt ihm schwer, sich auf Beziehungen einzulassen. Laut Dr. Jörg Petry haben Glücksspieler häufig ein sehr geringes Selbstwertgefühl. Nicht selten liegen ihrer Sucht schwere psychische Probleme zugrunde, etwa weil sie misshandelt wurden oder sexuell missbraucht. Das Spiel am Automaten oder am Roulette-Tisch ist dann so etwas wie eine Flucht, meint Petry:

    "Typisch ist, dass sich ein glücksspielspezifischer Lebensstil entwickelt. Man verlässt seinen ursprünglichen Freundeskreis, bewegt sich in Kreisen, die auch mit Glücksspiel zu tun haben, wo man sich auch Geld leihen kann. Und dann dreht sich eben der ganze Tag darum, dass man Geld beschafft, dass man an Glücksspiel teilnimmt. Und das kann auch passieren, obwohl man weiterhin seinem Job nachgeht, eine Partnerschaft hat, aber innerlich in einer ganz anderen Welt lebt."

    Auch Harald war ein Meister im Ausreden erfinden. Die Mahnungen vom Vermieter erklärte er mit Abbuchungsproblemen bei der Bank. Und es funktionierte: Jahrelang merkte nicht einmal seine Frau, was los ist. Dieses Doppelleben ist für die Betroffenen extrem anstrengend, erklärt Dr. Jörg Petry. Depressionen und Angstzustände können die Folge sein. Nicht selten endet die Glücksspielsucht auch tödlich: weil sich die Betroffenen aus lauter Scham und Verzweiflung selbst umbringen. Auch Harald hat mehr als einmal an Selbstmord gedacht. Dann, vor knapp sechs Jahren, hat er hat sich für einen anderen Weg entschieden:

    "Ich habe mal wieder alles verspielt, kein Geld für Miete gehabt, sonstiges. Meine Frau zuhause mit dem kleinen Baby. Und es war einfach nichts mehr da. Und ich kam nach Hause und hab geweint. Und meine Frau hat gesagt, was ist denn los, jetzt erzähl schon, da ist doch was. Ja und da habe ich das erzählt."

    Eine unheimliche Erleichterung, erinnert sich der 52-Jährige. Seine Frau hielt zu ihm, ging sogar zusammen mit ihm in die Selbsthilfegruppe für anonyme Spieler.

    Bei einigen reicht eine solche Selbsthilfegruppe schon aus, um vom Glücksspiel wegzukommen, meint Dr. Jörg Petry. Andere bräuchten mehr Hilfe: etwa in Form einer ambulanten oder stationären Therapie. Nie mehr spielen – das sei die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Therapie. Außerdem werde versucht, die psychischen Probleme aufzuarbeiten, die der Glücksspielsucht zugrunde liegen.

    Petry: "Bei Frauen spielt zum Beispiel in viel größerem Umfang eine Rolle, dass die von Missbrauchserfahrungen berichten und Traumastörungen haben, das muss spezifisch behandelt werden. Also wir differenzieren da schon. Und dann ist es bei Therapien natürlich immer typisch, dass das ganz konkrete Leben im Mittelpunkt steht."

    "Ich finde nicht, dass es schwer ist, mit dem Spielen aufzuhören. Aber mit dem Leben danach zurechtzukommen, das ist die Schwierigkeit eben."

    Harald hatte auf einmal unheimlich viel Zeit, als er mit dem Spielen aufhörte. Er musste lernen, sich anders zu beschäftigen, nicht mehr zu lügen, sich seinen Schulden zu stellen – und seinen psychischen Problemen, die das Spielen nur überdeckt hat. Rückfällig geworden ist Harald nie. Doch - wie andere Suchtkranke müssen auch Glücksspielsüchtige häufig ihr Leben lang gegen ihre Krankheit ankämpfen. Und auch Harald kribbelt es manchmal noch in den Fingern, wenn er an einer Spielhalle vorbeigeht.