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Radsport
Training auf Zellebene

Trainingswissenschaftler operieren im Radsport jetzt sogar auf Zellebene. Die Mitochondrien, auch Kraftwerke der Zellen genannt, können zumindest teilweise die enormen Performances des Gesamtführenden der Tour de France, Tadej Pogacar, erklären.

Von Tom Mustroph | 04.07.2021
Der Slowene Tadej Pogacar hat das erste Einzelzeitfahren der Tour de France gewonnen.
Der Slowene Tadej Pogacar vom Team UAE gewann das erste Einzelzeitfahren der Tour de France (www.imago-images.de)
"Marginal Gains" war einmal. Das war die Erfolgsformel des britischen Rennstalls Ineos, als er noch unter der Marke Sky firmierte. Ketone waren vor zwei Jahren der Hit. Sie gelten als vierte Energiequelle neben Fetten, Kohlenhydraten und Proteinen. Ketone machten Schlagzeilen, weil die Fahrer von Team Jumbo - Visma rings um den famosen Um- und Aufsteiger Primoz Roglic sie einnahmen.
Der neueste heiße Tipp zur Performanceverbesserung im Radsport sind Mitochondrien. Besser gesagt, die effektivere Ausnutzung von Mitochondrien. Die ist ausdrücklicher Bestandteil des Trainings von Team UAE mit Toursieger Tadej Pogacar. Das versichert Jeroen Swart, Trainer des Teams und auch bei der Tour de France dabei: "Die Fahrer machen sehr spezifische Trainingseinheiten in den Vorbereitungszeiten. Wenn wir die Leistungstests machen, bekommen wir die Trainingsbereiche mitgeteilt. Und die Fahrer trainieren am Anfang mindestens vier Tage die Woche einige Stunden in dieser Intensitätszone. Und die Resultate sieht man. Das hat definitiv einen positiven Effekt."
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Mitochondrien kommen in fast jeder Körperzelle vor. Sie gelten als regelrechte Kraftwerke der Zellen. Denn sie produzieren ATP, den universellen Energieträger des menschlichen Organismus. Trainiert man die Mitochondrien, steht dem Körper mehr Energie zur Verfügung. So zumindest geht die Theorie.

"Perfektion bei Sportlern beobachten"

Die stammt von Inigo San Millan. Der frühere Amateurradsportler forscht als Mediziner in den USA seit mehr als zehn Jahren an neuen Therapieformen für Diabetes und Krebs anhand der Stoffwechselprozesse der Mitochondrien. Die Beschäftigung mit Elitesportlern ist sowohl Beiprodukt als auch Baustein im großen Therapieentwicklungsplan, sagt San Millan.
"Um Krankheiten zu studieren, bei denen Fehlfunktionen von Mitochondrien im Mittelpunkt stehen, müssen wir erst sehen, was Perfektion bedeutet. Das ist bei Weltklasseathleten so. Wenn wir sehen, wie bei ihnen der Stoffwechsel funktioniert, können wir Krankheiten erkennen und diagnostische Instrumente und Therapien entwickeln."
Anwendung findet das Mitochondrientraining vor allem für die Grundlagenausdauer. San Millan nennt dies die Trainingszone 2: "In Zone 2 stimuliert man die langsamen Muskelfasern am meisten. Das ist wie der erste Gang beim Auto. Wenn man dort im roten Bereich ist, fordert das Auto einen ja meist auf, in den zweiten Gang hochzuschalten. Im Training macht man das aber nicht. Und deshalb wird der Körper stärker. Er passt sich an, wird kräftiger in diesem Gang."
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Was in den Worten des Mediziners wie ein Quälen von Motoren anmutet, ergibt auf den Athletenkörper bezogen tatsächlich Sinn. Denn der erste Gang, von dem San Millan spricht, greift physiologisch auf andere Energiereserven zu. Vor allem Kohlenhydrate und Fette werden verarbeitet. Die wertvolleren Glukosevorräte, die für den explosiveren Krafteinsatz benötigt werden, bleiben hingegen unangetastet. Es bleibt also mehr Kraftstoff im Tank für den zweiten Gang, um bei der Auto-Metapher zu bleiben.
Beansprucht werden bei der Arbeit im ersten Gang laut Aussage von San Millan auch nur die sogannenten langsamen Muskelfasern. Langsam werden sie genannt, weil sie langsamer zucken. Diese Muskelfasern ermüden auch langsamer und werden vor allem für lange andauernde Arbeiten benötigt, für Ausdauerleistungen eben. Diese Muskeln vom Typ 1 zu trainieren, ergibt aus Mitochondrienperspektive ganz besonders Sinn, erklärt San Millan: "Muskeln vom Typ 1 haben die größte Dichte an Mitochondrien. Man stimuliert sie also mächtig und man muss nicht zu den schneller ermüdenden Muskelfasern überwechseln."

Möglichst lang mit langsameren Muskefasern arbeiten

Diesen Zeitpunkt des Gangwechsels im Energiesystem sollten Ausdauersportler so weit wie möglich hinausschieben. Denn die Konsequenzen sind beträchtlich.
"In dem Moment, in dem man zu den schnelleren Muskelfasern überwechselt, kann die Energienachfrage nicht mehr durch Fett befriedigt werden. Man muss auf einen anderen Brennstoff zugreifen. Wir sehen in diesem Moment einen Abbau an Fettverbrennung und einen Anstieg des Glukoseverbrauchs", hat San Millan in seinen zahlreichen Studien beobachtet. Wer länger seine Mitochondrien zum Pedalenkurbeln beansprucht, hebt sich also Energievorräte auf und ermüdet nicht so schnell. Blickt man auf den trotz Top-Leistungen immer mächtig frisch aussehenden Tadej Pogacar, wirkt diese Theorie sehr einleuchtend.
Für die explosiven Beschleunigungen im Hochgebirge ist das aber nichts. Immerhin kommt man dort dank erweiterter Mitochondrienpower nur weniger erschöpft als andere an. Auch das ist ein Vorteil.
Noch einmal Trainingswissenschaftler Swart: "Es geht mehr um dauerhafte hohe Intensität, eine etwa zehn, zwanzig, dreißig Minuten andauernde Intensität, während der man Kohlenhydrate maximal umsetzt. Und wenn man dann in die ganz hohe Intensität kommt, nutzt man natürlich andere Energiemechanismen. Es gaht darum, eine begrenzte Leistung länger zu bringen, auf den langen Anstiegen zum Beispiel."

"Noch nie gehört"

Auch bei anderen Rennställen beschäftigen sich zumindest die Trainer mit dem Mitochondrienthema als alternativem Stoffwechselmechanismus. Das bestätigt Dan Lorang, Coach des deutschen Rundfahrtspezialisten Emanuel Buchmann beim Rennstall Bora hansgrohe, Deutschlandfunk.
UAE steckt dank des in die medizinische Forschung eingebundenen San Millan aber viel tiefer in der Materie als der Rest der Konkurrenz. Im Peloton ist das Thema dagegen noch gar nicht angekommen. "Nein, keine Ahnung, das ist neu, und zumindest bewusst mache ich das nicht", sagt etwa der dänische Routinier Jakob Fuglsang.
"Davon habe ich noch nie was gehört. Ich kann nichts sagen, ich bin kein Biologe", bemerkt der Freiburger Profi Simon Geschke. Nicht, dass ihn das Thema nicht interessieren würde. Jeder Radprofi will schließlich seine Performance verbessern. Und die von Pogacar und Team UAE ganz allgemein ist schon ziemlich beeindruckend. "Man beschäftigt sich natürlich mit allem, aber davon habe ich noch nie etwas gehört."
Einen kleinen Erklärungsansatz für die enorme Frische und Leichtigkeit, mit der Pogacar agiert, hat man damit also. Allen Krebs- und Diabetespatienten der Welt ist nur zu wünschen, dass aus dem Vergleich von ihren Mitochondrien mit denen der Elitesportler tatsächlich exzellente Therapieformen entstehen. Dann wäre so ein Spektakel wie die Tour de France sogar einmal richtig nützlich.