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Radsport
Van Aert gewinnt längstes Rennen Mailand-Sanremo

Mit dem früheren Mountainbiker Wout van Aert gewann der derzeit stärkste Rennfahrer den Eintagesklassiker Mailand-Sanremo. Das Rennen wurde auf einer ungewohnten Strecke ausgetragen und war vom schlimmen Sturz bei der Polen-Rundfahrt überschattet.

Von Tom Mustroph | 09.08.2020
Wout Van Aert fährt mit hochgerissenen Armen ins Ziel.
Der Belgier Wout van Aert hat den Radklassiker Mailand-Sanremo gewonnen. (www.imago-images.de)
Es war ein Rennen, das Geschichte schrieb. Gleich mehrfach sogar. Die 111. Austragung des Eintagesklassikers Mailand - Sanremo war mit 305 Kilometern die längste in der Historie. Die Strecke war auch mit 2.000 Höhenmetern gespickt. Der klassische Parcours weist nur 1.500 Höhenmeter auf. Das war wie gemacht für seinen Sieger, den Ex-Mountainbiker Wout van Aert. Er setzte sich im Ausreißerduell gegen den Titelverteidiger Julian Alaphilippe durch. Das reduzierte Hauptfeld passierte zwei Sekunden später den Zielstrich.
"Er ist so verrückt stark. Er ist ein Riesentalent, ein guter Fahrer und auch taktisch sehr stark. Er ist ein kompletter Fahrer, ganz sicher. Er soll diesen besonderen Moment seines Lebens genießen", meinte bewundernd Teamkollege Timo Roosen. Denn van Aert hatte am letzten Samstag bereits die Strade Bianche gewonnen. Er ist im Radsport der Mann des Pandemiesommers, stark genug, auch unter härtesten Bedingungen zu siegen.
"Dann darf man es nicht machen"
Der neue, schwerere Streckenverlauf war der Pandemie geschuldet. Die Städte und Dörfer entlang der ligurischen Küste hatten aus Angst vor Massenansammlungen keine Erlaubnis zur Durchfahrt des Pelotons erteilt. Auch in Sanremo selbst gab es verschärfte Bedingungen. Der Bürgermeister hatte angewiesen, dass Zuschauer sich nicht am Rande der Strecke versammeln durften. Bei Zuwiderhandlungen sollten Bußgelder von 400 bis 3.000 Euro ausgesprochen werden. Das sorgte für Unmut.
"Ich habe ganz viele Austragungen von Mailand - Sanremo gesehen, seit meiner Kindheit. Aber ich muss sagen, diese Organisation jetzt mit einem Verbot, diesem großen Rennen zuzusehen, ist einfach nicht richtig. Wenn das Rennen allen schadet, dann darf man es eben nicht machen", meinte Domenico Messana, Besitzer eines Radgeschäfts direkt an der Rennstrecke.
"Sicher könnte man sagen, wenn wir zu nahe sind, tragen wir alle die Maske. Aber dass ich nicht mal aus meinem Laden heraus darf und die zwei Schritte zur Barriere machen kann, um die Fahrer zu sehen, das ist nicht richtig. Wir haben doch ein Image. Wir sind eine Region des Radsports. Und wir wollen auch unsere lokalen Fahrer sehen, die beim Rennen dabei sind. Das macht mich wütend, dass ich sie nicht sehen darf."
Sturz bei der Polenrundfahrt 2020.
Sturz bei Polen-Rundfahrt - "Die UCI kannte die Kritik"
Der schwere Sturz auf der Polen-Rundfahrt war absolut vorhersehbar, sagte der Ex-Radprofi Fabian Wegmann im Dlf. Die Gefährlichkeit der Zielankunft werde seit Jahren kritisiert. Aber der Weltradsportverband UCI habe die Strecke jedes Jahr aus neue genehmigt. Auch die Organisatoren hätten bei den Absperrungen am Streckenrand schlampig gearbeitet, kritisierte Wegmann.
Es war ein Rennen der besonderen Art. Mit nur wenig Zuschauern, die sich trotz des Verbots an die Strecke stellten. Im Hochsommer statt im Frühjahr. Und über dem Rennen schwebte als schwere Wolke auch der furchtbare Sturz des Niederländers Fabio Jacobsen in Polen. Ausgelöst war er ausgerechnet durch einen Teamkollegen des Siegers, Jumbo Vismas Top-Sprinter Dylan Groenewegen.
Beim Rennstall war die Siegesfreude deshalb getrübt. Paul Martens, Rennfahrer bei Jumbo Visma: "Ich muss sagen, auch heute habe ich relativ viel an Fabio gedacht. Ich bin froh, dass es da schon ein bisschen positive Meldungen gibt. Aber es wird ein langer Weg für ihn sein. Und ich hoffe, dass es für uns alle, vor allem für die Organisatoren, ein Fingerzeig ist, dass man da noch mehr an der Sicherheit arbeiten muss."
Martens forderte höhere Sicherheitsstandards: "In aller erster Linie müssen die Absperrgitter so sein, dass das nicht passiert. Der Sturz wäre sowieso sehr heftig gewesen. Aber wenn die Gitter einfach die Standards gehabt hätten, die sie haben müssen, dann wären die Konsequenzen weniger schlimm gewesen. Es ist halt einfach eine Scheiße, mehr kann ich dazu nicht sagen."
Hoffnung für weitere Rennen
In der Kritik stehen aber auch die Rennfahrer selbst. Altmeister Vincenzo Nibali warf den jüngeren Kollegen vor, zu wenig Respekt voreinander zu haben. Dass die heutige Sprintergeneration grundsätzlich rücksichtsloser ist, glaubt Enrico Poitschke, sportlicher Leiter unter anderem von Deutschlands neuem Sprinterstern Pascal Ackermann, aber nicht:
"Früher wurden die Sprints genauso hart umkämpft, da gab es auch schlimme Stürze. So etwas kommt immer vor. Und ich denke, dass da die Sprintergeneration nicht anders tickt als vor 10, 20, 30 oder 40 Jahren."
Poitschke war im Ziel noch frustriert, dass es für seinen Kapitän bei Mailand - Sanremo, Peter Sagan, nur zu Platz 4 gereicht hatte. Er machte dafür auch taktische Fehler seiner Mannschaft verantwortlich. Der als Helfer für Sagan eingeplante Italiener Daniel Oss hatte als ungeplanter Ausreißer zu viele Kräfte verpulvert.
"Daniel war auf der Abfahrt von der Cipressa allein vorn. Da hätte er einfach helfen müssen. Daniel hat einen Fehler gemacht. Und dann war Peter allein und der Fahrer hat sicher gefehlt, um das Loch zu stopfen und die Möglichkeit zu haben, um den Sieg zu fahren."
Auch das trug dazu bei, dass bei der längsten Classicissima aller Zeiten der derzeit stärkste Fahrer der Welt den Sieg erringen konnte. Die wenigen Zuschauer im Ziel feierten Wout van Aert. Und ein Polizeibeamter nahe der Siegertribüne bilanzierte, dass er und seine Kollegen kein einziges Bußgeld verhängt hatten, weil die Menschen sich einfach vernünftig verhalten hatten. Das sorgt dann doch für Zuversicht im Hinblick auf die nächsten Rennen dieser besonderen Saison.