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Rätsel auf dem Meeresgrund

Zoologie. - Lange dachten Fachleute, dass die Tiere des Tiefseebodens nur von totem organischen Material leben, das von der Oberfläche herabsinkt. 1979 jedoch entdeckten Ozeanologen die ersten heißen Quellen am Meeresgrund: Augrund vulkanischer und geologischer Vorgänge tritt dort heißes Wasser aus, das mit Mineralien angereichert ist. Zur Überraschung der Wissenschaftler hat sich an diesen Quellen ein Ökosystem entwickelt, das keine Materie von der Oberfläche benötigt.

    Von Gregor Bucher

    Die Energie stammt einzig und allein von den chemischen Verbindungen Schwefelwasserstoff und Methan, die mit dem Wasser aus der Tiefe dringen. Spezielle Bakterien leben von diesen Verbindungen, indem sie sie oxidieren. Von diesen Bakterien wiederum leben Muscheln Krebse, Würmer und andere Tiere. Eine weitere Überraschung: Obwohl die Quellen zum Teil Tausende von Kilometern voneinander entfernt sind, fand man dieselben Arten an den verschiedensten Quellen. Wie die Tiere diese riesigen Entfernungen überwinden können, blieb jedoch lange ein Rätsel. Nun sind Wissenschaftler der Lösung näher gekommen: Vermutlich legen die Organismen den Weg in kurzen Etappen zurück - von Wal-Kadaver zu Wal-Kadaver.

    Das Meer lebt, sagt man, doch der Tiefseeboden gleicht eher einer Wüste. Das liegt daran, dass kein Sonnenlicht bis in diese Tiefen dringt. Ohne Licht gedeihen keine Algen, und ohne Algen fehlt auch der Tierwelt eine wichtige Nahrungsquelle. Ab und zu entsteht aber auch in über 1.000 Meter Tiefe ein reiches Ökosystem - dann nämlich, wenn ein toter Wal mit seinen 40 bis 100 Tonnen Gewicht herabsinkt. Erst seit wenigen Jahren untersuchen Wissenschaftler mit U-Booten, was mit einem Wal-Kadaver auf dem Meeresgrund passiert. Gerhard Haszprunar, Direktor der Zoologischen Staatssammlung in München:

    Der Abbau dieser Leiche, dieser riesigen Leiche erfolgt im Wesentlichen in drei Stadien: die allerdings nicht abrupt sondern schleichend ineinander übergehen. Wir haben eine erste Phase, wo direkt Aasfresser dran gehen, also die große Brocken von diesem Leichnam runternehmen das sind im Wesentlichen bestimmte Haiarten aber auch Schleimaale, die auch tote Fische befallen, hier aber ganz große Beute machen.

    In der zweiten Phase kommen kleine Aasfresser zum Zug, die von stärker verwestem Material leben. Zeitweise bevölkern einen Quadratmeter bis zu 30 Tausend Würmer und Krebse. Diese ersten beiden Phasen dauern ein bis fünf Jahre lang, je nach Größe des Kadavers. Danach fängt die dritte und längste Phase. Auf den Knochen entwickelt sich ein artenreiches Ökosystem, das - so die Hochrechnung der Forscher - bis zu 50 Jahre lang stabil bleibt. Die Energiequelle für die Organismen sind Fette, die über die Hälfte von Walknochen ausmachen. Haszprunar:

    Wir haben mehrere Bakteriengruppen mit verschiedenen physiologischen Stoffwechselvorgängen, eine Gruppe verwertet diese organische Substanz, produziert dabei im Wesentlichen Schwefelwasserstoff, es gibt eine zweite Gruppe von Bakterien, die wiederum diesen Schwefelwasserstoff nützt als Energiequelle, um daraus Zellsubstanz aufzubauen und auf dieser Basis gibt's dann wieder höhere Organismen, das können Einzeller sein, Schnecken, Würmer, verschiedenste Arten, die diese Bakterien entweder direkt als Nahrung verwenden oder als Endosymbionten selber kultivieren und dann selber von deren Energie leben.

    Über 400 Tierarten leben direkt oder indirekt vom Schwefelwasserstoff, zu dem Bakterien das Fett der Walknochen abbauen. Etwa zwanzig dieser Arten leben ausschließlich auf Walskeletten - sie haben sich offensichtlich auf Knochen als Lebensraum spezialisiert. Andere Tierarten wiederum kannten Meeresbiologen schon länger - nämlich von Hydrothermalquellen.

    Dort, wo diese Thermalquellen aus dem Boden kommen aufgrund von vulkanischer Tätigkeit im Allgemeinen, geologischen Prozessen, haben wir Schwefelwasserstoff oder Methanquellen aus dem Meeresboden heraus, damit baut sich vor Ort eine entsprechende mikrobielle Lebensgemeinschaft aus. Nun sind aber diese Systeme wo diese geologische Tätigkeit auftritt Tausende von Kilometern voneinander entfernt. Also hat man sich immer wieder gefragt, wie schaffen es denn diese Tiere, die man wirklich an Punkten findet, die Hunderte, Tausende von Kilometern voneinander entfernt sind, wie schaffen die des, diese Entfernungen zu überwinden. Weil die Tiere selber sind wenig beweglich.

    Das Ökosystem auf den Walknochen ist vermutlich die Antwort auf diese Frage: Organismen, die Schwefelwasserstoff zum Leben brauchen, müssen die vielen hundert Kilometer zur nächsten Hydrothermalquelle nicht auf einmal überwinden, sondern können Wal-Kadaver als eine Art Trittstein verwenden. Aus der Größe der Walpopulationen und ihrem Lebensalter haben Wissenschaftler berechnet, dass auf dem Meeresboden alle 15 bis 30 Kilometer ein Walskelett liegen dürfte. Dieser Abstand kann von den Bewohnern der Hydrothermalquellen leicht überwunden werden.