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Rätselhafte Artenexplosion

Vor 550 Millionen Jahren schienen sich – wie aus dem Nichts – die Meere mit allen möglichen Lebewesen zu füllen. Diese "Kambrische Artenexplosion" verwirrte schon Charles Darwin – denn sie widerspricht seiner Lehre von der Entstehung einer jeden Art aus einer älteren Art. Auch die Paläontologen und Biologen mögen den Gedanken einer "Explosion" nicht, aber Fossilien aus der Zeit davor sind rar, und ohne sie kommen die Paläontologen nicht weiter. Die Biologen gehen das Problem seit einigen Jahren mit Hilfe der Genetik an – mit der sogenannten molekularen Uhr. Nun ist in der Zeitschrift "BMC Evolutionary Biology" ein Aufsatz erschienen, der auf der breitesten bislang berechneten Datenbasis und unter Einsatz aller verfügbaren "molekularen Uhren" den Ursprung der Artenvielfalt datiert. Die Studie stützt die Vermutung, dass Wirbeltiere vom Menschen bis zur Maus mehr mit den Pilzen gemeinsam haben als mit den Pflanzen.

Von Dagmar Röhrlich |
    Nilpferde grunzen, Krokodile lauern auf Beute, Vögel singen – Afrikas Tierwelt ist von ungeheurer Vielfalt. Aber bis dahin war es ein langer Weg, dessen Anfänge im dunkeln der Erdgeschichte liegen.

    Wann sind aus primitiven, einfachen Organismen wie Bakterien komplexere Organismen wie Pflanzen, Algen, Pilze oder Tiere entstanden?

    Die kambrische Artenexplosion vor rund 550 Millionen Jahren kommt als Ursprung der Tiere jedenfalls nicht in Frage, erläutert Blair Hedges von der Penn-State University:

    Den molekularen Uhren zufolge haben sich die Tiere vor mehr als einer Milliarde Jahre abgespalten – mindestens, vielleicht früher.

    Die "molekularen Uhren", die Blair Hedges erwähnt, verraten den Experten anhand von Veränderungen im Erbgut, wann sich Gruppen von Lebewesen aus einem gemeinsamen Ahnen entwickelt haben. Seine Studie betrachtet die Eukaryonten, also die heute lebenden komplexen Organismen mit Zellkern, und ihre Abspaltung von den Prokaryonten, denen ohne Zellkern. Wann haben sich die Äste, auf denen die Urahnen von Pilz und Mensch, von Alge und Orchidee sitzen, von dem der Bakterien abgezweigt? Entscheidend ist dabei unter anderem jener Zeitpunkt, an dem in den Lebewesen neue Zelltypen entstanden sind.

    Anscheinend setzt der Anstieg in der Komplexität und das Anwachsen der Zahl verschiedener Zelltypen in einem Organismus vor zwei Milliarden Jahren ein. Damals haben sich aus den Prokaryonten mit ihren ein oder zwei Zelltypen Eukaryonten mit bis zu zehn Zelltypen entwickelt. Vor anderthalb bis einer Milliarde Jahre stieg die Zahl der Zelltypen auf 50 an, danach differenzierten sich die Zelltypen immer weiter aus, bis hin zu den mehr als 100 Zelltypen, die Wirbeltiere wie Menschen und Mäuse ausmachen.

    Als zweite Spur verfolgen die Forscher die "Neu-Anschaffungen", mit denen Eukaryonten das Inventar ihrer Zellen bereichert haben. Etwa die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle, die den hohen Energiebedarf komplexer Organismen decken.

    Wenn wir Eukaryonten mit Mitochondrien untersuchen, ist anzunehmen, dass auch deren Ahnen Mitochondrien gehabt haben. Denn die Entwicklung von Mitochondrien ist wohl ein einmaliges Ereignis, bei dem sich ein Eukaryont während einer Symbiose ein zellkernloses Bakterium einverleibt hat. Wenn wir also im Stammbaum, der im Grunde wie Trichter aufgebaut ist, die Abspaltungen aller heutigen Lebewesen mit diesen Energiemaschinen zurückverfolgen und datieren, finden wir irgendwann die frühesten Abspaltung – und damit einen Zeitpunkt für den Ursprung der Mitochondrien, und der liegt unserer Studie zufolge bei zwei Milliarden Jahren vor heute.

    Diese zwei Milliarden Jahre passen einerseits perfekt zur ersten Ausdifferenzierung von mehren Zelltypen – und andererseits zu einem anderen Ereignis der Erdgeschichte.

    Der frühe Anstieg an Komplexität korrespondiert mit dem ersten Auftreten von großen Mengen an freiem Sauerstoff in der Atmosphäre. Den können wir in der geologischen Überlieferung vor etwa 2,3 Milliarden Jahren festmachen. Dieser Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Sauerstoff und der Entstehung von komplexem Leben überrascht nicht, denn das komplexe Leben braucht mehr Energie als die Bakterien, und die Eukaryonten beziehen ihre Energie aus dem Sauerstoff – eben über dieses Organell, das Mitochondrium genannt wird.

    Da es für einen Eukaryonten erst dann Sinn machte, sich ein Mitochondrium zu verschaffen, als es genügend freien Sauerstoff gab, stimmt das Bild.