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Rätselhafte Bremse für Pioneer

Raumfahrt. - Die beiden verlassen das Sonnensystem, und beide werden dabei völlig unvorhergesehen langsamer. Die Wissenschaft spricht dabei von der Pioneer-Anomalie und versucht, die ominöse kosmische Bremse ausfindig zu machen. Eine Tagung am in Bern informiert über den Stand der Forschung.

Von Guido Meyer |
    Vor allem fünf Theorien verfolgen Raumfahrtexperten und Physiker, um die rätselhafte Abbremsung der beiden Pioneer-Sonden zu erklären.

    Platz fünf: Pioneer 10 leckt.
    Die Sonde wird langsamer, weil sie ein Loch hat, durch das vielleicht Gas nach außen dringt. Dadurch hätte sie schon seit ihrem Start Anfang der siebziger Jahre mehr Energie verloren als vorausberechnet. Slava Turyshew, Physiker am Jet Propulsion Laboratory der US-Raumfahrtbehörde NASA in Pasadena, Kalifornien:

    "Hitzeabstrahlung hängt zusammen mit der Leistungsfähigkeit der Bord-Batterie und der Energie der Sonde. Eine Kursveränderung in der Anfangsphase könnte uns helfen, die Abgabe von Wärme als Grund für die Bahnabweichung anzunehmen oder auszuschließen."

    Das Gegenargument: Roger Förstner, System-Ingenieur im Bereich Navigation beim Weltraumkonzern EADS Astrium in Friedrichshafen.

    "Es ist bei beiden Pioneer-Sonden festgestellt worden, dieser Effekt, und bei beiden ist die Größenordnung dieselbe. Sie bestätigen sich sozusagen gegenseitig, so dass man auch ausschließen kann, dass das jetzt nur ein Artefakt ist, der bei einer Sonde auftritt, weil irgendwas am System vielleicht ausgast oder so, sondern es tritt bei beiden auf. Und entsprechend ist man sich auch sicher, dass es nicht auf Systemseite stattfindet."

    Platz vier: Die Anziehungskraft einer bislang unbekannten Masse jenseits der Pluto-Bahn bremst die Pioneer-Sonden ab.
    In Frage kämen eine riesige Staubwolke oder ein zehnter Planet. Diese Masse würde aufgrund ihrer Anziehungskraft die Pioneer-Sonden daran hindern, sich aus ihrem Gravitationsbereich zu entfernen. Eugen Willerding vom Institut für Astrophysik und Extraterrestrische Forschung der Universität Bonn.

    "Man weiß, dass im äußersten Bereich des Sonnensystems, im so genannten Kuiper-Gürtel, ein Zehntel Erdmasse, Staub, vorhanden sein könnte, maximal. Und wenn man diese Staubmasse gleichförmig verteilt über diesen weiten Bereich, kommt man auf eine Dichte, die sehr gering ist. Aber diese Dichte reicht letztendlich aus, unter Umständen, gerade diese Bremsbeschleunigung, die man Pioneer beobachtet, wirklich zu erzeugen."

    Das Gegenargument: der indische Astrophysiker Sathyaprakash vom Department of Physics and Astronomy der Cardiff University in Wales.

    "Wenn es da draußen ein massereiches Objekt gäbe, hätte es sich schon längst durch seine Schwerkrafteinwirkung auf andere Planeten oder Asteroiden bemerkbar gemacht. "

    Platz drei: Dunkle Materie innerhalb der Milchstraße zieht an den Raumsonden.
    Der Bonner Astrophysiker Eugen Willerding über den unsichtbaren Einfluss solcher Schwerkraftzentren auf ihre Umgebung.

    "Man hat eben Dark Matter, so genannte Dunkle Materie in den Galaxien, die das erklären könnte. Man sieht sie aber nicht."

    Das Gegenargument: Dunkle Materie an einem bestimmten Punkt unseres Sonnensystems würde – so unsichtbar sie auch sein mag – die Bewegung aller Massen beeinflussen, also zum Beispiel auch die der äußeren Planeten und Kometen. Deren Bahnen sind jedoch stabil.

    Platz zwei: Die MoND-Theorie.
    Das steht für Modifizierte Newtonsche Dynamik. Sie sagt aus, dass die uns bekannten Gravitationsgesetze bei geringen Beschleunigungen nicht gelten. Danach würde die Anziehungskraft auf Körper, die sich weit vom Schwerkraftzentrum entfernt aufhalten, aber nur langsam bewegen, wieder stärker werden.

    Die Pioneer-Sonden bewegen sich derzeit so langsam wie ein Stein, der im freien Fall Richtung Erde nur drei Meter pro Tag zurücklegt. So wie Einsteins Relativitätstheorie bei extrem kleinen Dimensionen nicht gilt und die Quantenmechanik hinzugenommen werden muss, behauptet die MoND-Theorie, dass Newtons Gravitationsgesetz bei extrem langsamen Geschwindigkeiten nicht gilt. Als Erfinder dieser These gilt der israelische Physiker Mordehai Milgrom.

    "Milgrom sagt, dass bei sehr geringen Beschleunigungen noch ein weiterer Term hinzugefügt werden muss, dass man dadurch eine Abweichung von der Newton-Theorie hat. Und dass erst bei größer werdenden Beschleunigungen, also jenseits der Größe von Pioneer, der reine Newton vorhanden ist. Das heißt man hat also die Beschleunigung von Newton und addiert noch eine weitere Beschleunigung aus dieser MoND-Therorie hinzu. Dieser trifft exakt das, was man bei Pioneer 10 und 11 festgestellt hat."

    Das Gegenargument: Michael Kosbow von der RWTH Aachen:

    "Das Problem bei MoND ist halt, dass es eigenständig neben der Allgemeinen Relativitätstheorie steht und bislang noch nicht zusammengebracht werden kann."

    Platz eins: Das Weltall dehnt sich aus.
    Da die beiden Sonden mittlerweile fast hundertmal so weit von der Sonne entfernt sind wie die Erde, macht sich in diesen Dimensionen die Expansion des Alls bemerkbar. Die Abbremsung der Sonden entspricht - mit umgekehrten Vorzeichen - der Ausdehnung des Universums. Hansjörg Dittus vom Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM).

    "Es ist eben deshalb vermutet worden, weil diese Beschleunigung, die man da misst, ziemlich genau mit der Expansion des Alls korreliert werden kann."

    Das Gegenargument: Der Astrophysiker Eugen Willerding:

    "Die Expansion des Raumes ist ein kosmologisches Problem. Das bedeutet eben nicht, dass eben jetzt planetare Distanzen expandieren oder dass die Erde selbst expandiert. Das ist also eine Überinterpretation der so genannten kosmologischen Expansion."

    Der Aachener Diplom-Ingenieur Michael Kosbow:

    "Vielleicht wird sich auch letztendlich herausstellen, dass es mehrere Effekte sind, die zusammenwirken, aber der Hauptanteil ist es sicherlich nicht. Was man bislang hat, sind eigentlich alles Spekulationen. Wirklich heiße Kandidaten gibt’s halt nicht."

    Fünf Theorien, fünf Widerlegungen. Mittlerweile haben Forscher der Nasa die rätselhafte Bahnabweichung auch bei den beiden Voyager-Raumschiffen, den Sonden Ulysses und Cassini und sogar bei einem weit entfernten Asteroiden festgestellt. Höchste Zeit also, dass diese Top Five um einige Neuvorstellungen ergänzt werden.