Die Jagd war erfolgreich: Ein Trilobit macht sich über seine Beute her. Deren Schale splittert, der Räuber gräbt seine Mundwerkzeuge in die Muskeln des Opfers. Er ist vollkommen mit seiner Mahlzeit beschäftigt – merkt nicht, dass sich ihm sein größter Feind nähert: Ein Anomalocaris gleitet weich durchs Wasser. Anomalocaris ist ein Gigant: Zwei Meter lang. Mit seinen zahllosen Segmenten und ebenso zahllosen Beinpaaren erinnert er an einen Hundertfüßer, aber dazu kommen noch die breiten, beweglichen Panzerflanken, die ihn wie mit weichem Flügelschlag durchs Wasser schweben lassen. Seine großen Augen stehen vor, nichts entgeht dem furchterregenden Räuber, erst recht kein unaufmerksamer Trilobit. Seine stark bestachelten Vorderbeine hält Animalocaris nach vorn nach Art der Gottesanbeterin, bereit, wie ein Schraubstock zuzupacken. Nichts warnt sein Opfer. Blitzschnell schlägt Anomalocaris zu. Der schwer gepanzerte Trilobit – eben selbst noch Sieger – zappelt, hat keine Chance
Eine solche Tragödie könnte sich vor mehr als 520 Millionen Jahren in einem Ozean abgespielt haben, der sich dort erstreckte, wo heute der Jangtse fließt. Jenes Meer hatte breite, flache Küstenzonen, in denen sich vielfältiges Leben tummelte – unter anderem unser Räuber Anomalocaris: ein Gliedertier, wie die Insekten, Spinnen oder Krebse. Wie der Hai stand er an der Spitze der Nahrungskette im Meer. Dieter Waloszek ist Professor für Biosystematische Dokumentation an der Universität Ulm mit besonderer Vorliebe für die kambrischen Raubtiere:
Die größten Anomalocaris, das sind schon ziemlich gewaltige Bomber gewesen, die auch so etwas weggefressen haben, so dass es interessant werden wird, nach den Nahrungsquellen dieser Raubtiere zu forschen.
In jenem warmen, tropischen Meer ging nicht nur dieser Gigant auf die Pirsch. Zahllose Jäger waren unterwegs – und sie alle teilten einen ähnlichen Bauplan:
Die Formen mit den großen Raubbeinen vorneweg, die hatten große, nach vorne stehende Augen und einige von denen sogar wie bei der Gottesanbeterin sogar sehr große, vorstehende Augen an einem sehr kleinen Kopfschild. Die waren offensichtlich aktive Sichträuber, denn sie hatten keine Fühler. Diese Raubbeine waren die aktive Räuber, sind herumgeschwommen oder gelaufen. Einige haben sehr spargelige Beine, die müssen am Boden gelaufen haben. Einige haben 10, 20 Segmente, sind so ein bisschen wie eine Kellerassel aussehend, einige sind etwas schlanker geraten.
Die Biologen haben den Körperbau jener räuberischen Gliedertiere mit heutigen verglichen – und sie wurden fündig. Es gibt eine Vergleichsform:
Das sind die Spinnentiere. Die Hypothese bestand eben, sind diese Spinnentiere mit diesen sehr frühen Formen aus dem Unterkambrium verwandt? Da genau hat dieses Material aus Chengjjang eine ganz fundamentale Bedeutung.
Die Spinnen wären danach sehr früh aus dem gemeinsamen Stammbaum der Gliedertiere abgezweigt – und ihre Lebensweise als schnelle, bewegliche Räuber ein Erbe früher Tage. Diese ausgefeilten Fossilien der Chengjjang-Fauna belegen, dass diese Räuber unmöglich den Anfang markieren können. Die wahren Wurzeln der Tiere reichen viel weiter in die Erdgeschichte zurück, liegen noch im Dunkeln. Aber fressen und gefressen werden –dieses Prinzip galt wohl schon immer.