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Raffiniertes Spiel mit Fiktion und Realität

Alberto Manguel hat seine Essays und Artikel für Zeitungen auf Englisch verfasst. Als er jedoch den Roman "Alle Menschen lügen" auf Englisch schreiben wollte, hat sich, wie er nachfolgend erklärt, das Spanische gegenüber dem Englischen durchgesetzt.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 12.01.2011
    Alberto Manguel: "In 'Alle Menschen lügen' gibt es fünf verschiedene Stimmen, wobei jede ihr eigenes Spanisch spricht. Ich wollte zeigen, wie sich in Argentinien die spanische Sprache über mehrere Generationen hinweg entwickelt hat, das Spanisch eines Kubaners, der nach Argentinien fährt, das Spanisch eines Mädchens, das in Madrid lebt und zur Generation der 'movida', dem kulturellen Aufbruch nach der Franco-Diktatur gehört. Daher war für mich die sprachliche Ausgestaltung des Romans auf Englisch ein Unding. Mithilfe einer Übersetzerin habe ich ihn danach ins Englische übertragen."
    In dem Roman "Alle Menschen lügen" erweist sich Alberto Manguel als versierter Erzähler, der sein raffiniertes Spiel mit Fiktion und Realität treibt und sich auch als Romanfigur einbringt, als würdiger Nachfahre von Cervantes Don Quijote, der sich wie dereinst der fahrende Ritter in der Welt der Literatur wohler fühlt als in der trivialen Realität. Der Roman richtet sich an aufmerksame, hellwache Leser, die bereit sind, sich auf ein paradoxes Stimmengewirr einzulassen und Verunsicherung und Zweifel als stimulierende Herausforderung begreifen. In dem spannenden und aufwühlenden Roman ist die Lüge das konstituierende Element, um starre Identitätskonzepte zu sprengen, den Literaturbetrieb zu parodieren und mit den Augen lateinamerikanischer Exilanten, die im Madrid der 70er-Jahre glaubten, den Militärdiktaturen des "Cono Sur" entronnen zu sein, auf ihre Herkunftsländer zu blicken, was im Roman wie folgt beschrieben wird:

    Wenn dieses Land auch einem trostlosen Ort glich, wo sich nicht einmal das Ungeziefer die Mühe machte, etwas aufzubauen, so stellten die Städte, denen sie entflohen waren, wüste Gegenden dar, wo selbst das Nichtstun gefährlich und jeder Spalt, jeder Stein verdächtig und bedrohlich war. Buenos Aires, Montevideo, Santiago waren furchterregend öde Stätten, während ihnen Madrid bloß beruhigend öde vorkam.

    Alberto Manguel: "Die Lüge ist für mich ein wesentliches Element der Literatur. Literatur schaffen zu wollen, impliziert den Wunsch zu lügen. Selbstverständlich gibt es sehr unterschiedliche Definitionen und Einstellungen gegenüber der Lüge: Man kann eine zerstörerische Lüge wählen, Lügen, indem man einfach die Wahrheit nicht erzählt oder eine Lüge, um die Wahrheit treffender zu beschreiben, das ist die literarische Lüge. Außerdem gibt es da noch einen anderen Aspekt, kein simpler Relativismus, vielmehr etwas Komplexeres, die Tatsache, dass man von jemand immer nur einen Teil kennt, weil es einfach nicht möglich ist, das Ganze zu kennen, weshalb ich von Fragmenten ausgehend erzählt habe. Meine Kinderfrau, eine deutschsprachige Tschechin aus einer jüdischen Familie, die vor den Nazis geflohen war und damals in Stuttgart lebte, erhielt ein Visum für Lateinamerika, für Paraguay. Als sie in Paraguay eintrafen, erblickten sie im Hafen die Hakenkreuze, die Stroessner, der auf der Seite der Nazis stand, dort hatte anbringen lassen. Es kommt darauf an, von woher man kommt und was man erwartet. Man stellt sich den Ort vor, an dem man sich befindet und der hat nicht unbedingt etwas zu tun mit der Realität des Ortes. Ich nenne das die notwendigen Lügen."
    Die Romanhandlung lässt sich in groben Zügen so wiedergeben: Ein im französischen Poitiers lebender Argentinier versucht, sich schreibend seinem Freund Alejandro Bevilacqua zu nähern, der wie ein Schatten auf seinem Leben lastet. Der Freund war vor dreißig Jahren direkt vor seiner Madrider Wohnung ermordet worden, kurz nachdem er als Autor des Buches "Lob der Lüge" in Erscheinung treten sollte. Daraufhin hatte der Ich-Erzähler überstürzt die spanische Hauptstadt verlassen und sich in Poitiers niedergelassen.

    Alberto Manguel: "Meine Haltung ist stets die eines Lesers. Wenn ich erzähle, eine Geschichte erfinde oder einen Essay schreibe, ändert sich meine Haltung kaum. Ich versuche, die Realität zu lesen, zu kommentieren, was ich wahrnehme. 'Alle Menschen lügen' spielt vor 30 Jahren, da war das Konsumverhalten noch nicht so ausgeklügelt wie heute. Der Verleger schafft ein Produkt, über das alle reden werden. Man vergisst heute leicht, warum wir auf der Welt sind, wer wir sind. 'Alle Menschen lügen' ist in erster Linie ein Roman über die Identität. Wer ist man in der Erinnerung; dem Wissen, das all die Anderen beisteuern?"
    Anhand des aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigten Alejandro Bevilacqua problematisiert Alberto Manguel Erinnerungsprozesse, wobei er von der Repression der Militärdiktaturen des Cono Sur ausgeht - Verschwinden lassen, Gefängnis, Folter – sich jedoch nicht auf Argentinien beschränkt, sondern Querverbindungen zur Franco-Diktatur und dem Spanischen Bürgerkrieg herstellt.

    Alberto Manguel: "Die Militärdiktatur hat in Argentinien das bewirkt, was Hitler in Deutschland tat: Was jenseits der Landesgrenzen unvorstellbar war, konnte im Land selbst geschehen. George Steiner nennt das 'konkret die Hölle errichten'. Ich kann daher nicht über ein argentinisches Thema reden, ohne die Diktatur zu erwähnen, direkt oder indirekt. Dasselbe gilt für Spanien, das sich über den Bürgerkrieg definiert so wie Frankreich über den Algerienkrieg. Will man glaubhafte Romanfiguren schaffen, gibt es unumgängliche politische Verhältnisse. Man kann jedoch auch wie Tomás Eloy Martínez über diese historischen Momente schreiben, ohne sie explizit zu erwähnen, sodass sie im Schatten bleiben. Man weiß zwar, dass da etwas ist, erwähnt es jedoch nicht. Ich habe es lieber erwähnt und mich gefragt, wie es wäre, von dieser Diktatur in eine andere zu geraten, die zur Zufluchtsstätte wird. Die Erfahrung lehrt uns, dass sich nichts in absoluten Farben definieren lässt. Was man im Inneren als grauenhaft erlebt hat, wird zum Refugium für den, der von einem noch schlimmeren Ort dorthin kommt."
    Der Roman 'Alle Menschen lügen' ist außerdem eine köstliche Parodie auf den Literaturbetrieb. In Buenos Aires hatte Alejandro Bevilacqua Fotoromane verfasst, das heißt, Fotos mit Sprechblasen, die als Fortsetzungsromane in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt wurden. Im Madrider Exil versuchte seine damalige Freundin mit allen Mitteln, ihn als ebenso verkannten wie genialen Autor zu vermarkten, der mit "Lob der Lüge" endlich das lang erwartete Meisterwerk vorgelegt hat. Nur, ist er tatsächlich der Autor dieses höchst umstrittenen Romans oder will er sich nur dreist mit fremden Federn schmücken? War da nicht ein Kubaner, der in den 70er-Jahren in Buenos Aires gelebt und im Gefängnis einen Roman verfasst hatte, der heimlich nach draußen geschmuggelt worden war? Als der besagte Kubaner in der Madrider Buchhandlung auftaucht, wo der Roman "Lob der Lüge" vorgestellt werden soll, ergreift Alejandro Bevilacqua die Flucht.

    Alberto Manguel: "Ein Großteil des Literaturbetriebs ist eine Welt der Lüge. Man erfindet Romane und Schriftsteller und dabei geraten wir immer stärker in eine Konsumgüterindustrie. Es ist völlig egal, was man schreibt, Hauptsache, es verkauft sich. Man schafft literarische Phänomene, die man früher als Betrug denunziert hätte. Nehmen wir nur Robert Bolano, da hat man eine Blase geschaffen, die alle überzeugt hat. Niemand traut sich zu sagen, dass der Kaiser keine Kleider hat. Es gibt ein paar gut geschriebene Romane von Bolano, doch wie sein Agent, seine Verleger und seine Witwe zu behaupten, es gäbe die Nachfolgereihe Cervantes, Borges, Bolano ist einfach lächerlich."
    Alberto Manguel hat mit "Alle Menschen lügen" einen packenden Roman über die Diktaturen dies- und jenseits des Atlantiks geschrieben und die Zeitgeschichte ebenso kenntnisreich und nuanciert interpretiert wie die großen Werke der Weltliteratur.

    Alberto Manguel: "Alle Menschen lügen". Fischer Verlag, Frankfurt, 2010, Übersetzung: Susanne Lange, Preis: 19.95 Euro