Dienstag, 19. März 2024

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Rafik Schami zu Syrien
"Eine vererbte Demokratie ist keine Demokratie"

Rafik Schami lässt den Helden seines neuen Romans "Sophia oder der Anfang aller Geschichten" nach 40 Jahren in seine Heimat Syrien zurückkehren und das Damaskus seiner Kindheit erleben - was ihm persönlich verwehrt blieb. Assad "ist ein Teil des Systems und hat ein Problem: Das System herrscht auch über ihn", sagte der deutsch-syrische Schriftsteller im DLF.

Denis Scheck im Gespräch mit Rafik Schami | 20.08.2015
    Der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami 2011
    Der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami (picture alliance / dpa / Ingo Wagner)
    Denis Scheck: Ein Gespräch mit Rafik Schami über seinen neuen Roman "Sophia oder der Anfang aller Geschichten" hält der Büchermarkt heute für Sie bereit. Rafik Schami, 1946 in Damaskus geboren, Rafik Schami lebt seit 1971 in Deutschland, wurde hier als Chemiker promoviert und zählt inzwischen zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Rafik Schamis neuer Roman, "Sophia oder der Anfang aller Geschichten", der vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs angesiedelt ist, erscheint in diesen Tagen. Er handelt von einem Mann, der nach 40 Jahren im Exil in seine Heimatstadt Damaskus zurückkehrt. Das wäre die Situation von Rafik Schami selbst, der seine Heimat aus politischen Gründen Anfang der 70er-Jahre verlassen musste. Rafik Schami zitiert zu Beginn von "Sophia" ein altes arabisches Sprichwort: "Humor und Geduld sind die beiden Kamele, mit denen man jede Wüste durchqueren kann." Ich habe Rafik Schami zu Beginn unseres Gesprächs gefragt, ob ihm in vier Jahrzehnten Exil das Lachen nie vergangen sei.
    Rafik Schami: Nein, weil Lachen ist eigentlich eine Tankstelle für den Widerstand, langfristig im Exil zu leben. Sonst geht man unter. Lachen gibt viel Kraft und öffnet auch den Kopf für schwierige Inhalte. Deshalb liebe ich das Lachen auch.
    Scheck: Sie sind vor Hafiz al-Assad geflohen. Inzwischen ist sein Sohn Bashar an der Macht. Welche Gründe gibt es nach wie vor für Sie, im Exil zu leben?
    Schami: Ganz einfach, ganz schlicht ist das: die Freiheit, die fehlende Freiheit, die fehlende Würde. Die Anerkennung der Würde der Menschen, die Demokratie, die fehlt. All dies, was einen Schriftsteller auf lange Sicht erstickt eigentlich. Wenn Sie immer rote Linien beachten sollen, immer versuchen sollen, dem Zensor gerecht zu werden, dann werden Sie Ihrem Roman nicht mehr gerecht. Ich habe mich für den Roman entschieden, für die Literatur entschieden, und ich habe damit wirklich Glück gehabt.
    Scheck: Zum Glück auch Ihrer Leser. Ziemlich genau in der Mitte Ihres Romans sagt eine Figur: Warum gibt es eigentlich keinen wirklich guten arabischen Kriminalroman? Die Frage darf ich an Sie weiterreichen.
    "Kein Kommissar wagt es, bestimmt Kreis zu verhören"
    Schami: Sie werden lachen, ich habe das zwei Jahre lang untersucht, weil mich das genervt hat, warum ein kleines Volk wie die Schweden die Welt mit solchen wunderbaren – Mankell und andere Autoren – und wir, 300 Millionen Araber, bringen das nicht fertig? Der Grund ist, kein Kommissar wagt es, bestimmte Kreise zu verhören. Da wandert er ins Gefängnis. Also deshalb: Jeder im Volk weiß, ein Kommissar darf diese elitären Kreise oben nicht fragen, also warum soll er im Roman das dürfen.
    Scheck: Und selbst wenn er fragen dürfte, man würde ihm nicht die Wahrheit sagen.
    Schami: Gar nichts. Man würde ihn zum Beispiel keine Frau verhören lassen, wenn sie diesen Kreisen angehört. Sie dürfen keinen an der Macht fragen, keinen Verwandten neunten Grades von Assad. Was bleibt dann? Es bleiben die Nachtwächter und die Arbeitslosen, die kann man verhören, Tag und Nacht.
    Scheck: Das ist im Grunde das, was auch geschieht.
    Schami: Da entsteht keine Chemie.
    Scheck: Ich würde ja behaupten, es gibt nun einen guten Krimi – Ihren Roman. Der hat ja durchaus Züge eines Kriminalromans, zumindest eines Agententhrillers.
    Schami: Ja, als Thriller habe ich das geplant, das ist wahr. Aber es ist noch auf Deutsch. Wir reden über die fehlenden Romane auf Arabisch. Das ist ja – viele Autoren, die im Ausland schreiben, schreiben schon frei. Und den Roman habe ich so geplant: Ein Thriller wird umgarnt von einer Liebesgeschichte, sodass beide Faktoren existieren, einmal die Poesie und einmal die Spannung.
    Scheck: Welche Ressource des Widerstands ist Liebe in einem diktatorischen Regime?
    Schami: Die Liebe heißt – nicht das Mitleid – die Liebe heißt, den anderen anerkennen. Deshalb lieben Sie jemand. Sie lieben nicht jemand, den Sie nicht anerkennen. Sie können mit ihm Zeit verbringen, Sie können mit ihm erotische Träume erleben, aber Sie können nicht jemanden lieben, ohne ihn zu beachten als Mensch. Da fängt der Widerstand an. Das heißt, jeder Mensch, den Sie lieben, hat eine Würde. Da fängt auch Ihr Engagement an, dass dieser Mensch seine Würde nicht verliert. Und da sind Sie schon im Widerstand gegen eine absolute Diktatur, die keine Würde lässt.
    Scheck: Sie haben zwei große Liebespaare in Ihrem Roman. Da ist einmal Stelle, Italienerin, und Salman, ihr im Exil lebender syrischer Mann. Und da ist natürlich das Liebespaar in Damaskus, das so spät erst zueinander findet. Wie sind diese Personen entwickelt worden von Ihnen als Autor? Welcher stand am Anfang?
    Schami: Es stand am Anfang das Paar in Damaskus eigentlich, also dieses Paar, die sich nicht aufgeben, sondern auch im hohen Alter zueinander findet, sogar die Frau will auch lernen, wie man Fahrrad fährt.
    Scheck: Der Mann ist Mitte 70, die Frau Mitte 50.
    Schami: Mitte 50, und die wünscht sich nach fünf Jahren, endlich mal Fahrrad zu fahren, weil Frauen bei uns kein Fahrrad fahren dürfen. Und die ganze Nachbarschaft ist entsetzt, aber durch ihre Liebe, eben durch ihre Liebe hat sie die Kraft, das einfach zu machen. Da fängt die Geschichte an, und ich habe beim Schreiben gedacht, diese Liebe hat Kraft, auch Ungewöhnliches fertigzubringen. Also ein Mann geht nach Damaskus und gerät in alle Falle, und da scheitern alle, ihm zu helfen. Alle, frühere Kameraden, frühere Geliebte, hoch angesehene Generäle, die scheitern alle. Und da kommt dieses Paar, dieses zerbrechliche Paar. Inzwischen ist er 80, sie ist 60 oder 65, und die stellen sich zu ihm, die stellen sich mit allem Mut, also wirklich Todesmut, stellen sie sich zu ihm. Das ist die Liebe.
    Scheck: Glauben Sie tatsächlich, in Zeiten – Sie siedeln Ihre Romanhandlung ja vor dem syrischen Bürgerkrieg an. Glauben Sie tatsächlich, in Zeiten, wo der syrische Bürgerkrieg jetzt 220.000 Tote gefordert hat, wo Fassbomben an der Tagesordnung sind, wo der Islamische Staat auf dem Territorium agiert, dass das Umstände sind, wo noch Liebesgeschichten gedeihen können?
    "Mich interessiert das Beben in der Gesellschaft"
    Schami: Ja. Ich muss aber etwas ausholen. Ich schreibe keine Revolutionsromane. Revolutionen interessieren mich als Mensch, die Umwälzungen oder das Standhalten der Dinge, wie Revolution eigentlich heißt. Mich interessiert die Zeit davor, das Beben in der Gesellschaft, wo die Risse anfangen aufzugehen. Deshalb endet das...
    Aleppo im Juni 2015 nach einem Bombenangriff durch die Assad-Armee
    Aleppo nach einem Bombenangriff im Juni 2015 durch die Assad-Armee (KARAM AL-MASRI / AFP)
    Scheck: Da gibt es mal ein sehr schönes Bild in Ihrem Roman, wo jemand sagt, ich bin kein Seismograf, ich bin eine Taube. Ein Seismograf zeigt das Beben an, wenn es geschieht, die Taube ahnt es vorher. Sind Sie eine Taube, Rafik Schami?
    Schami: Ich hoffe es. Ich hoffe sehr, mit diesem Roman die Rolle einer Taube gespielt zu haben. Und das interessiert mich. Wenn die Risse anfangen zu kommen, dann werden die Leute nackter. Die werden nicht schlechter oder besser. Ich komme zurück auf Ihre Frage, aber ich muss etwas umerzählen. Die werden nicht besser und nicht schlechter. Die werden aber klarer, nackter. Diese Angst kommt an die Oberfläche, diese Verstummung kommt an die Oberfläche, diese, nicht wahr, Antwort, warum wir keinen Krimi haben, kommen – da wird das deutlich. Und in diesem Zustand, und das habe ich wirklich recherchiert, hilft die Liebe, diese katastrophalen Fassbomben und Giftgas und keine Sicherheit mehr, und nicht mal das Morgen ist bekannt, was das wird – hilft nur die Liebe eigentlich. Und die halten zusammen. Ich telefoniere fast täglich mit Damaskus, mit Freunden, mit Verwandten. Eigentlich zählt nur die gute Freundschaft und die gute Liebe zurzeit, nicht das, was Sie besitzen, nicht das, was Sie akademisch können, welche mathematische Gleichungen Sie können. In dieser schweren Zeit hilft, dass Sie geben und nehmen durch die Liebe, ohne auf Verluste oder Gewinne zu schauen wie im normalen Alltag.
    Scheck: Ist dieser Roman für Rafik Schami auch so was wie eine Wunscherfüllungsmaschine? Sie lassen Ihren Helden ja nach 40 Jahren in seine Heimat zurückkehren. Sie lassen ihn das Damaskus seiner Kindheit erleben, zurückerobern, die Gerüche, die Sinnlichkeit erleben. Was Ihnen persönlich verwehrt ist?
    Schami: Es hat noch mehr als das, das will ich Ihnen verraten, aus Freundschaft und Respekt vor Ihnen. Es hat einen biografischen Grund, das wissen die Wenigsten, dass mir im Jahr 2009 ein Angebot gemacht wurde, zurückzukehren und ein Kulturhaus in meinem Namen zu eröffnen und dann irgendwelche Empfänge zu machen. Ich habe lange nachgedacht und habe geschrieben – ich schreibe kein Tagebuch, ich habe Notizen geschrieben, was in mir passiert in dieser Zeit. Einmal die Eitelkeit, Befriedigung der Eitelkeit, einmal auch dieses, was Salman sagt: Ich will zurück, um diese Wunde zu heilen. Ich will mit erhobenem Haupt ihnen ins Gesicht sagen, eure Diktatur hat mich nicht gebrochen. Dies kam bei mir hoch, und ich habe festgestellt, ich lebe in einem Paradies in Deutschland. Wieso übermannt mich dieses Gefühl? Wieso? Es fehlt mir doch an gar nichts? Da kommt auch ein Abschnitt, wo der Psychologe sagt, Mensch, da lebt man in New York und träumt von irgendeinem blöden Dorf in Italien – warum? Er war Italiener, also von Triest, das er gehasst hat damals. Das habe ich Salman in die Schuhe geschoben, diesen Wunsch, zurückzukehren, um diese Wunde zu heilen. Wenn man Sie mit Gewalt aus Ihrem Land herausschmeißt, mit Gewalt eigentlich, mit der Gewalt des Geheimdienstes, dann wird alles zur Idylle, wird alles, diese ganze Kindheit verfärbt sich so rosarot. Und Sie fühlen sich wie ein Ausgeschlossener und wollen unbedingt zurück. Das ist das Ganze.
    Scheck: Warum sind Sie 2009 nicht zurückgegangen?
    Schami: Weil ich lange nachgedacht habe. Der Botschafter war ein wunderbarer Mensch. Ich muss differenzieren. Der Botschafter ist ein promovierter Literaturwissenschaftler, hat über Gottfried Benn geschrieben, sprach perfekt Deutsch. Aber seine Helfer, diese Geheimdienstler, haben mir so viele Bedingungen gestellt, ich musste nachdenken. Wenn ich am Flughafen von einem Verbrecher – der ist Innenminister – empfangen werde mit Fernsehen und Radio und mit der Presse, dann frage ich mich, welche Hand schüttele ich da? Da fing es an, dass eigentlich Sie als berühmter syrischer Autor, die Funktion haben, eine Zitrone zu spielen. Sie werden Sie pressen, der Salat schmeckt besser, und dann als Schale wird man Sie rausschmeißen. Wir würde ich vor meiner eigenen Biografie stehen? Wo ist die Demokratie, für die ich da gekämpft hatte all die Jahre. All das geht verloren wegen einer Befriedigung, dass ich zurückkehren darf und dass ich in der Uni auftreten darf mit dem Goethe-Institut zusammen. Und da habe ich höflich abgelehnt.
    Scheck: Sind Ihnen eigentlich die Geschichten des Exils im 20. Jahrhundert in irgendeiner Weise da ein Trost oder ein Vorbild? Schlagen Sie nach oder denken sie zum Beispiel daran, wie sich Thomas Mann im amerikanischen Exil verhalten hat? Sind Sie geneigt, irgendwann mal eine Radiosendung zu produzieren für syrische Hörer?
    Schami: Nein. Ich bin ein wenig anders als Thomas Mann. Einmal habe ich eine Abteilung in meiner Bibliothek, natürlich, das hat jeder Exilautor, von Tucholsky über alle, die gescheitert sind, von lateinamerikanischen Autoren. Exil ist eine Plage des 20. Jahrhunderts geworden. Es ist nicht mehr ein Einzelfall. Aber ich fühle mich nicht imstande, das syrische Volk anzusprechen. Ich bleibe Rafik Schami, der gern erzählt. Würde ich aber gerne, wenn das befreit ist und Demokratie und Sicherheit, eine gewisse Sicherheit existiert, würde ich gern mit meinem Sohn und meiner Frau eine Reise durch das Land unternehmen, um ihnen die Orte meiner Kindheit zu zeigen und um mit meinem Sohn Murmeln zu spielen, das habe ich ihm als Kind versprochen: Ich werde mit dir in der Gasse noch Murmeln spielen. Ich spiele exzellent Murmeln!
    Scheck: Ich wünsche Ihnen ein sehr langes Leben, dass dieser Traum noch in Erfüllung gehen wird.
    Schami: Es wird lange dauern. Ich danke Ihnen sehr!
    Scheck: Sie haben eine Szene in diesem Roman, wo ich sehr lachen musste, nämlich Ihr Exil-Syrer kehrt zurück und es findet zufälligerweise ein Dichterkongress statt. Für sieben Millionen Dollar werden Dutzende von arabischsprachigen Dichtern nach Damaskus gekarrt, und die haben alle zufälligerweise ein Gedicht im Gepäck, wo sie dem großen Führer al-Assad Tribut zollen. Und ein Ägypter sagt, du bist so großartig, Syrien ist viel zu klein für dich, du musst die Welt führen.
    Schami: Darf ich Ihnen was verraten? Leider ist das...
    Scheck: Ist das nicht erfunden?
    "In Arabien haben wir nur hässliche Präsidenten"
    Schami: Nein. Leider nicht. Es ist eins zu eins kopiert, vom Fernsehen auf Video aufgenommen. Da habe ich gesagt, das ist eine Perle, das lasse ich nicht vorbei. Habe ich aufgenommen, habe ich dann transkribiert. Wirklich, da stand, der andere sagt: Sie sind so schön – dabei ist unser Präsident, das ist unser Problem, Arabien haben wir nur hässliche Präsidenten. Also, da stand der da und sagte, Sie sind so schön, ich liebe Sie! Deshalb sagt die Frau – wir wollen jetzt nicht verraten, was Sophia sagt, wie sie das kommentiert. Das lassen wir erst mal als Geheimnis. Aber dies ist wirklich zu meiner Traurigkeit, muss ich sagen – ich war nicht der Autor, ich war nur der Abschreiber der Dokumentaraufnahme von diesem Heuchler.
    Syriens Präsident Assad
    Syriens Präsident Assad erlässt Amnestie für Armee-Deserteure. (SANA / AFP)
    Scheck: Warum gibt es in der arabischsprachigen Welt so viele Speichellecker, so viele Intellektuelle, die sich zu Huren der verschiedenen diktatorischen Systeme machen?
    Schami: Erst mal, weil wir sehr viel Geld haben, das Erdöl wird aus dem Fenster geschmissen. Und wie der Saddam Hussein mal gesagt hat, für den Preis eines Panzers kann ich so viele Schreiber haben für ein Jahr. Das ist schon ganz klug formuliert von einem Killer, von einem ganz kalten Killer. Wenn Sie diese Leute füttern nach altem Prinzip, der Scheich der Sippe füttert seine Dichter und die besingen ihn. Das war damals die Presse und die Propaganda. Und für die Geschichte bleiben die, die besungen wurden. Die anderen, die arm waren, die werden verschwinden. Das heißt, es gibt eine tiefe Tradition in der Sippe bei uns: Die Dichter sind sehr, sehr verwickelt mit der Macht, als ihr Sprachrohr. Es gab nicht die Stadt, die sie befreit. Das gab es nicht in Arabien. Die Stadt ist, anders als in den europäischen Städten, ein Zentrum der unterdrückenden Macht bei uns. Bei Ihnen war die Stadt...
    Scheck: Stadtluft macht frei!
    "Der Widerstand war auf dem Land"
    Schami: Ja. Das ist bei uns nicht. Alle Herrscher lebten in der Stadt, all ihre Wurzeln lebten mit ihnen und lobten sie Tag und Nacht, das heißt, der Widerstand war auf dem Land, nicht in der Stadt. Diese Tradition setzt sich leider fort. Einer unserer größten Dichter aller Zeiten, al-Mutenabbi, al-Mutanabbi ist wie Goethe, wenn Sie so wollen, der wanderte von Hof zu Hof und beschimpfte den vorherigen Finanzier. Also das heißt, diese Tradition wird gepflegt, aber leider Gottes kriegen wir nicht solche Größen wie al-Mutanabbi. Wir kriegen nur kleine Zwerge – 1000 Dichter in Bagdad, was ist das für eine Nation, die 1000 unfähige Dichter produziert, 1000 Dichter. Da haben sie einen Kollegen von mir eingeladen, der sagte Nein, zu einem Festival bei tausend Dichtern bin ich fehl am Platz. Das kann nicht sein. Man hat fünf Dichter, zehn, 50, aber nicht 1000 Dichter. Aber die werden bezahlt, und zwar hoch bezahlt, mit Fünfsternehotel – die sammeln die Hotels, diese Opportunisten, wie man Briefmarken sammelt, und protzen damit: Ich war da. Warst du auch da?
    Scheck: Rafik Schami hat einen Feind, die Sippe. Sie schreiben, nichts wird sich in der arabischen Welt wirklich zum Besseren ändern, solange nicht die Macht der Sippe gebrochen wird.
    Schami: Das ist meine These, und der bleibe ich auch treu. Die Sippe war eine geniale Erfindung, um die Wüste zu überleben. Wissen Sie, die Wüste ist freundlich für Touristen, aber sie ist lebensfeindlich. Durch die Sippe, das Teilen, alles teilen und zusammenhalten und nach außen sich einigeln, also sich so einigeln, dass alles von außen sich nicht einmischt. Sie hält zusammen, aber der Einzelne hat keinen Wert. Die moderne Zivilisation baut auf das Individuum, auf den einzelnen Menschen, auf seine Freiheit, auf seine Achtung, auf seine Forschung, auf seine Erfindungen. Deshalb haben wir ein Problem mit der Moderne. Unser Problem ist, die Sippe unterdrückt alle, dafür garantiert sie ihr Überleben. Unser Mensch ist geborgener als ihr Europäer, aber er ist willenloser. Er ist nicht fähig, seine Stimme zu erheben. Zum Beispiel wird bei uns das Wort Opposition sofort mit Verrat gestempelt, weil eine Opposition in der Sippe spaltet die Sippe. Und schon meldet sich das Überleben. Das ist jetzt eine Gefahr. In Europa ist Opposition nicht gerade beliebt, aber ist eine Notwendigkeit für die Demokratie. Eine Gegenstimme ist immer korrigierend für die Geschichte. Und deshalb glaube ich an keine Entwicklung, und wenn sie auch Politbüro-Kommunisten – die sind Schwager und Schwiegersohn und Vater und Tochter. Unsere kommunistische Partei wird vererbt. Die kommunistische Partei vererbt an die Witwe, und die Witwe hat sie jetzt dem Sohn vererbt. Damit Sie nur sehen, wie tief die Sippe in unseren Knochen gedrungen sind. Und daher, alles Vokabular, das wir abschreiben von der europäischen Kultur, hat keine Wirkung, solange wir die Sippe nicht zerschlagen.
    Scheck: An einer Stelle in "Sophia" heißt es "Jedes Land hat seine Mafia. Aber in Syrien hat die Mafia das Land."
    "Mit 15 Geheimdiensten kriegt man auch die Teufel in der Hölle ganz ruhig"
    Schami: Richtig. Wenn Sie in Syrien einen Analphabeten als Cousin des Präsidenten im Kultusministerium ein Abteilungsleiter – Analphabet, Sie hören richtig – das kann nur in solchen Ländern passieren. Eine Mafia kann existieren, in Kolumbien wie in Italien. Wir machen uns sehr schnell lustig über die Mafia in Italien. Aber eine sehr strukturierte Mafia hat den Staat abgebaut und hat etwas ähnliches. Es funktioniert auch. Gehälter werden bezahlt, Leute werden geschasst, Leute werden befördert, je nach ihrer Loyalität. Loyalität gilt. Nicht die Fachqualifikation, nicht die Anständigkeit, nicht die Ehrlichkeit. Es gilt, dass Sie Verwandter neunten Grades des Präsidenten sind, dann bekommen Sie den Posten. Und deshalb sind 15 Geheimdienste notwendig, um eine Gesellschaft still zu halten. Damit die Touristen gar nichts merken. Die Touristen fuhren jahrzehntelang nach Syrien, sagten, ein wunderschönes ruhiges Land. Natürlich. Mit 15 Geheimdiensten kriegt man auch die Teufel in der Hölle ganz ruhig, eigentlich.
    Scheck: In der DDR war es ja auch sehr still, meistens.
    Schami: Sehr still. Und die hatte nur zwei Geheimdienste. Wir haben 15. Der Assad ist nicht, doppelt genäht hält besser, sondern 15-mal genäht hält besser. Er war ein misstrauischer Mensch. Man sagt von ihm, er war kein Stratege, er war ein Taktiker.
    Scheck: Wodurch unterscheidet sich Bashar al-Assad von seinem Vater?
    "Das System herrscht auch über ihn"
    Schami: Nun gut, jetzt hat er seine Hände mit Blut besudelt. Sie unterscheiden sich inzwischen durch nichts. Aber am Anfang hat man sich doch gewisse Hoffnungen gemacht. Ich nicht. Eine Demokratie, die vererbt wird, ist für mich keine Demokratie. Ich wurde beschimpft, weil ich immer dauernd Unkenrufe gemacht habe, dass das nicht funktioniert. Wenn ein Sohn eine Republik erbt, ist schon der Anfang – wie Kim il-Sung in Nordkorea – nicht möglich. Aber man hat gedacht, er hat in London studiert – man betont das, das ist so Rassismus pur. Also es reicht, dass jemand – das habe ich dann sehr gehässig gesagt, Goebbels hat auch in Literatur promoviert – was ist das? Der hat auch Arzt studiert, also was soll das belegen. Die graue Eminenz hat geherrscht, bis er sich geübt hat. Am Anfang hat man Illusionen gehabt, man könnte kleine Kreise eröffnen mit demokratischen Diskussionen. Nach einem Jahr war alles vorbei. Nachdem er sich befestigt hat, haben Sie wieder alles verboten. Er unterscheidet sich gar nicht. Wissen Sie was? Man gesagt, ja, vielleicht wird er jetzt die Reformen durchführen. Hätte er einen Augenblick zu den Demonstranten gestanden, wäre er auf der Stelle tot. Er ist ein Teil des Systems und hat ein Problem: Das System herrscht auch über ihn. Also das System der Sippe und der Herrschaft um jeden Preis. Nach 40 Jahren geben sie das nicht ab. Da muss er funktionieren, auch wenn er Staatspräsident ist – da macht er zufällig einen Autounfall, einen tödlichen Autounfall.
    Scheck: Sie haben mal gesagt, Sie schrieben deutschsprachige Literatur syrischer Herkunft. Ist das heute noch genauso?
    Schami: Es ist genauso, würde ich sagen. Solange ich über Damaskus schreibe, dann kommt dieser Geruch von Damaskus. Ich schreibe natürlich auf Deutsch, und sehr gerne. Ich liebe die deutsche Sprache. Aber die Bilder – Sie sind ein großer Leser – die Bilder sind eher syrische Bilder, die Aufenthaltserlaubnis in der deutschen Sprache bekommen haben.
    Scheck: Was ist Ihr Lieblingswort im Deutschen?
    Schami: Morgentau. Oder Raureif. Das ist das allerschönste Wort der Welt: Raureif.
    Scheck: Rafik Schami im Gespräch über seinen neuen Roman "Sophia oder der Anfang aller Geschichten". Dieser liegt im Hansa-Verlag vor, 480 Seiten, 24,95 Euro.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.