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Rainer Maria Rilke
"Das musst du wissen, dass dich Gott durchweht von Anbeginn"

Der Dichter Rainer Maria Rilke hat zeitlebens eine kontroverse Auseinandersetzung mit dem Christentum und Gott gesucht. Die Rolle Jesus als Mittler zwischen Gott und den Menschen bleibt im fremd. Für Rilke war es wichtig "Gott aus der Gerücht-Sphäre in das Gebiet unmittelbarer und täglicher Erlebbarkeit" zu versetzen.

Von Burkhard Reinartz | 25.05.2015
    Der österreichische Lyriker Rainer Maria Rilke, einer der einflußreichsten deutschsprachigen Literaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in einer zeitgenössischen Aufnahme.
    Der österreichische Lyriker Rainer Maria Rilke, einer der einflußreichsten deutschsprachigen Literaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in einer zeitgenössischen Aufnahme. (picture-alliance / dpa)
    "Es wechseln immer drei Generationen. Eine findet Gott, die zweite wölbt den engen Tempel über ihn und die dritte verarmt und holt Stein und Stein aus dem Gottesbau, um damit notdürftig kärgliche Hütten zu bauen. Und dann kommt eine, die Gott wieder suchen muss."
    "Das musst du wissen, dass dich Gott durchweht von Anbeginn. Das Göttliche. Ich bin dort gewesen, schon als Kind, und komme gehend davon her."
    Rainer Maria Rilke ist kein Dichter der Eindeutigkeit. Sein poetisches Werk ist durchzogen von religiösen Vorstellungen und Themen. Doch werden diese immer wieder aufgebrochen oder infrage gestellt. Rilke operiert sprachlich an der Grenze des Sagbaren, sucht unnachgiebig nach Antworten und misstraut gleichzeitig dem schnellen Finden von Antworten. Seine besondere Skepsis gilt der Glaubenswelt des Christentums. Schon als siebzehnjähriger Schüler schreibt Rilke die provokanten Zeilen:
    "Ihr lippenfrommen Christen
    Nennt mich den Atheisten
    Und flieht aus meiner Näh;
    Weil ich nicht wie ihr alle
    Betöret in die Falle
    Des Christentums geh."
    Im Zwiespalt mit der christlichen Konfession
    "Er stammt aus Prag und ist katholisch getauft und erzogen worden, aber da er sich mit seiner etwas bigott-frommen Mutter nicht sehr gut verstanden hat, musste er sich schon früh von seinem katholisch geprägten Christentum distanzieren und hat sogar den Eindruck gewonnen, er wäre Atheist geworden."
    Otto Betz ist Theologe und emeritierter Professor für Religionspädagogik an der Universität Hamburg. Der Rilke-Forscher erzählt: Sein Leben lang misstraut der Dichter der Selbstgewissheit der christlichen Konfession, reibt sich an ihr und fürchtet, mit seinem Werk konfessionell vereinnahmt zu werden. Gleichzeitig zählt er die Texte der christlichen Überlieferung zu seiner Lieblingslektüre.
    "Die Bibel, auch das Neue Testament ist ihm wichtig, er liest darin, aber wichtiger ihm das Alte Testament, die Psalmen zum Beispiel. Er sagt manchmal, dass man sich in den Psalmen ganz wiedererkennt, während er gegenüber der Messiade, also dem Jesus-Geschehen immer eine gewisse Skepsis behält."
    "Ich habe die Nacht einsam hingebracht in manch innerer Abrechnung und habe schließlich, beim Scheine meines noch einmal entzündeten Weihnachtsbaumes, die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein. Unter den alten Büchern, die mich zu neuen kaum kommen lassen, ist die Bibel das vorzüglichste."
    Jesus Mittlerrolle bleibt Rilke fremd
    Die Gestalt Jesu bleibt Rilke zeitlebens fremd. Vielleicht beeinflusste ihn die naiv-sentimentale Jesu-Verehrung seiner Mutter. Mag sein, dass ihn die Mittlerrolle des Gottessohns abstieß. Rilke beharrt auf seiner Erfahrung, Gott direkt begegnen zu können. 1922 schreibt er in dem fiktiven "Brief des jungen Arbeiters":
    "Wer ist denn dieser Christus, der sich in alles hineinmischt, der doch, so scheint es, immer wieder verlangt, in unserem Leben der erste zu sein. Oder legt man ihm das nur in den Mund?"
    Rilkes Skepsis gegenüber der Mittlerrolle zwischen Mensch und Gott erstreckt sich auch auf die "Angestellten Gottes" Ein gutes Jahr vor seinem Tod, bereits schwer erkrankt, verbittet sich Rilke in einem Brief an eine Freundin jeden priesterlichen Beistand.
    "Der Bewegung meiner Seele aufs Offene zu, wäre jeder geistliche Zwischenhändler kränkend und zuwider."
    "Er hat sich schon früh von einem Christentum distanziert, dass den Menschen festlegt auf feste dogmatische Formen, damit konnte er wenig anfangen. Er wollte eine religiöse Haltung, die experimentierfreudig ist, die offen ist, die auf den Weg schickt, damit man Erfahrungen machen kann im Leben und das Christentum war ihm zu intolerant. Er glaubte, dass alle Formen religiöser Suche Platz haben muss in einem religiösen Ganzen, wobei wir freilich das Religiöse in einem sehr weiten Verständnis begreifen müssen. Religiös, dass er sich in einem großen Bezug stehen sieht und dass dieser Bezug sein Menschsein übersteigt. Es ist ein großer Zusammenhang zum Schöpfungsganzen."
    Trotz seiner Kritik am Christentum zieht es Rilke zeitlebens in Kapellen und Kirchen. Als 23-Jähriger schreibt er im "Florenzer Tagebuch" und ein Jahr später im Tessin an Lou Andreas Salomé:
    "Da es hier keine Wälder gibt, sind die Kirchen wie Wälder. In Santissima Annunziata oder in San Spirito könnte ich ganz gerne eine Stunde lang und länger sitzen und lesen.
    Und die Stille in den verlassenen Kirchen. Da sitz ich oft in einer ganz allein und die Tränen kommen mir aus Glück über die innige Stille. Ach. Liebe Lou. Dies müsste ich ums Herz haben dürfen ein halbes Jahr. Selbst in den paar Augenblicken verwandelts mich."
    "Erst muss man Gott irgendwo finden"
    Rainer Maria Rilke will "Gott aus der Gerücht-Sphäre in das Gebiet unmittelbarer und täglicher Erlebbarkeit" versetzen, wie er im Januar 1921 an einen evangelischen Pfarrer schreibt. Der Gegensatz: Glaube/Erfahrung prägt seine Auseinandersetzung mit dem Christentum. Er misstraut dem Glauben und beharrt auf der Möglichkeit, Gott persönlich erfahren zu können. Kurz vor dem Abschluss der "Duineser Elegien" schreibt er an Ilse Blumenthal-Weiß:
    "Erst muss man Gott irgendwo finden, ihn erfahren, als so unendlich, so überaus, so ungeheuer vorhanden -, dann sei's Furcht, sei's Staunen, sei's Atemlosigkeit, sei's am Ende Liebe, was man dann zu ihm fasst, darauf kommt es kaum noch an, aber der Glaube, dieser Zwang zu Gott, hat keinen Platz, wo einer mit der Entdeckung Gottes begonnen hat, in der es kein Aufhören mehr gibt."
    "Da kommt zum Vorschein, dass er dem herkömmlichen Verständnis von Glauben misstraut. Der Glauben ist für ihn etwas Aufgedrängtes, Aufgebürdetes wie man Gott begegnet. Er möchte lieber den Punkt finden wo ich zuinnerst getroffen bin"
    Im Frühjahr 1920 antwortet Rilke einem jungen Mädchen, das sich in einem Brief an ihn gewandt hatte, auf deren Frage nach einem nur "geglaubten Gott":
    "Die landläufige Frage, 'ob einer an Gott glaube', scheint mir aus der falschen Voraussetzung hervorzugehen, als ob Gott auf dem Wege menschlicher Anstrengung überhaupt zu erreichen sei; denn immer mehr ist dem Begriff 'Glauben' die Bedeutung von etwas Mühsamem zugewachsen, ja sie hat gerade innerhalb des christlichen Bekenntnisses einen Grad angenommen, der befürchten ließe, dass eine Art Unlust zu Gott der ursprüngliche Zustand der Seele sei. Nichts aber ist weniger zutreffend. Nehme jeder den Moment wahr, da der Verkehr mit Gott sich ihm in unbeschreiblicher Hinreißung eröffnet; oder knüpfe er an einen solchen oft unscheinbaren Augenblick an, da er zuerst, unabhängig von den Einflüssen seiner Umgebung, ja oft im Widerspruch zu ihr, von Gott ergriffen war.
    Die meisten kommen nicht auf die Idee, es könnte sich da um ein religiöses Faktum handeln, eben weil sie schon dazu erzogen sind, religiöse Anstöße nur innerhalb der allgemeinen Vereinbarung zu empfangen, nicht dort, wo ihr Einsamstes und Eigenthümlichstes berührt ist."
    Rilke lehnt Ausschließlichkeitsanspruch ab
    Rilke wendet sich vehement gegen den Ausschließlichkeitsanspruch des Christentums, den er als anmaßend empfindet. Er schätzt die vielfältigsten religiösen Traditionen und deren Formen der Gottesverehrung.
    "Ja, wenn ich zugleich allgemein und wahr sein wollte, so müsste ich gestehen, es sei mir doch um nichts anderes zu tun, als in meinem Herzen diejenige Stelle zu entdecken und zu beleben, die mich in Stand setzen würde, in allen Tempeln der Erde mit der gleichen Berechtigung das jeweils dort Größte anzubeten."
    Rilkes religiöse Vorstellungen wandeln sich im Laufe seines Lebens. Doch immer bleibt der Dichter einem "nahen und schwer fassbaren Gott" verbunden, den er nicht in ein festes Gottesbild eingesperrt sehen will.
    "Alle, welche dich suchen, versuchen dich
    Und die dich finden, binden dich
    An Bild und Gebärde
    Ich aber will dich begreifen
    Wie die Erde
    Mit meinem Reifen
    reift dein Reich"
    Rilke empfiehlt einem seiner Leser, den Begriff Gott immer wieder vor sich hin zu sprechen, um die Chiffre Gott von allen vorgefassten Bedeutungen zu lösen und Gott ganz neu, "an der Quelle", wie er schreibt, zu begegnen.
    "Dies ist die Beimischung Unglauben im Stundenbuch. Unglauben nicht aus Zweifel, sondern aus Nicht-Wissen und Anfängerschaft."
    "Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen,
    du Dämmernder, aus der der Morgen stieg
    wir holen aus den alten Farbenschalen
    die gleichen Striche und die gleichen Strahlen,
    mit denen sich der Heilige verschwieg.
    Wir bauen Bilder vor dir auf wie Wände;
    so daß schon tausend Mauern um dich stehn.
    Denn dich verhüllen unsre frommen Hände,
    sooft dich unsre Herzen offen sehn."
    Schon mit vierzehn Jahren kritisiert Rilke in einem Schulaufsatz ein Gottesbild, das Gott funktionalisiert und als Erfüllungsgehilfen menschlicher Interessen missbraucht.
    "Kopernikus erkannte, dass die damaligen Götter wohl hübsche Figuren aus Marmor, Alabaster, Ton seien, dass ihnen aber kein Leben innewohne. Eine Chronik der damaligen Zeit erzählt folgende Geschichte:
    Ein reicher Römer kannte sich unter den vielen tausend Göttern nicht mehr aus, welchen er verehren sollte. Er kaufte sich nun eine Statue von einem Gott und verehrte ihn; wenn ihm aber etwas Böses widerfahren war, nahm er einen Stab, zerschlug diese Gottheit und kaufte sich eine andere, so ging es fort. Wahrlich ein trauriges Zeichen menschlicher Verirrung."
    Wenn Rilke über Gott spricht, fallen immer wieder Begriffe wie "Namenlosigkeit", "Vorraum der Erkenntnis", "Nichtwissen".
    "Und diese Aussagen, die er macht, sind in der Nähe mystischer Aussagen, weil er von dem dunklen Gott spricht, weil er den Gott nicht mit bestimmten Eigenschaften kennzeichnen will. Er ist an der Grenze des Sagbaren. Das wichtige war ihm, dass er in einem Vorraum des Glaubens bleiben kann, dass da eine unbeschreibliche Diskretion zwischen Gott und ihm herrscht. Da ist die Grenze des Aussagbaren erreicht. Die emotionale Erfahrung geht über das Sagbare hinaus."
    Rilke kennt die Tücken der Sprache. Worte sind für ihn Geburtshelfer neuer Erkenntnis - und gleichzeitig Erkenntnisschranke. Im Laufe seines Lebens wächst seine Skepsis, die Wirklichkeit Gottes durch Worte – und seien es poetische Verse – erfassen zu können.
    "Man wird einsehen lernen, dass Worte nur eine von vielen Brücken sind, die das Eiland unserer Seele mit dem großen Kontinent des gemeinsamen Lebens verbinden, dass Worte nie ganz aufrichtig sein können, weil sie viel zu grobe Zangen sind, welche an die zartesten Räder in dem großen Werke gar nicht rühren können ohne es zu zerdrücken. Ja es scheint mir, als wären Worte solcher Art vor den Menschen wie Mauern. Frage jeder sich selbst, ob an den Höhepunkten seines Lebens Worte stehen.
    Jedes Wort ist eine Frage. Und welches sich als Antwort fühlt, erst recht."
    Jedes Wort ist eine Frage
    Das Werk des Dichters durchzieht die Leitlinie: Das Unmögliche wagen und an den Rändern der Sprache das Göttliche berühren. Nach seiner ersten Russlandreise schreibt Rilke in Berlin den ersten Teil des Stundenbuchs mit dem Titel: "Die Gebete". Darin bekennt er sich auf programmatische Weise zum Einklang von poetischem Schaffen und Gottsuche.
    "Die Dichter haben dich zerstreut (es ging ein Sturm durch alles Stammeln),
    ich aber will dich sammeln
    in dem Gefäß, das dich erfreut.
    Du siehst, dass ich ein Sucher bin.
    Einer, der träumt, dich zu vollenden
    Und: Dass er sich vollenden wird"
    "Ich glaube, dass Rilke für uns deshalb wichtig ist, weil er eine Sprache findet, in denen sich heute viele Menschen wiederfinden können. Denn unsere herkömmliche Sprache ist irgendwie verbraucht, sie hat Formen gefunden, die nicht mehr sehr viel beim Menschen auslösen. Er hat ja mal gesagt: 'Ich glaube an alles noch nie gesagte', also dass was neu aufbricht an Einsicht und Erfahrung, dass das zur Sprache drängt. Es gibt im Stundenbuch diese Zeile: 'Ich finde dich in allen Dingen, denen ich gut und wie ein Bruder bin'. Also die Unscheinbarkeit Gottes, dass er sich finden lässt nicht nur in dem Großen, dem Gewaltigen, sondern eben auch in dem, was man erst entdecken muss."
    Der Dichter schreibt zahllose Gedichte, in denen er die Transzendenz der Dinge anspricht: Blume, Brunnen, Fels, das Durchscheinen des Göttlichen in einer blauen Hortensie. Und doch ist der Versuch, sein Gottesverständnis auf ein pantheistisches Weltbild zu beschränken, irreführend. Denn in diesem wirkt immer noch der Sog des Alten Testaments.
    "Denn was suche ich mehr als den einen Punkt, den alttestamentarischen, an dem das Schreckliche mit dem Größten zusammenfällt."
    "Vor diesem umfassenden Gott ist der Mensch winzig klein, er verschwindet beinah. Auf der anderen Seite: Von diesem kleinen Menschen wird erwartet, dass er das Göttliche in sich zum Ausdruck bringt. Also beides ist da: Die Demut und die Aufgabe, die er vor sich stehen hat, dass in seiner Realisierung etwas von der göttlichen Kraft in die Welt hineinwirkt. Er glaubt ja sogar, dass der Mensch eine Aufgabe hat in der Verwandlung der Welt."
    Die Suche nach einem starken und schwachen Gott
    Rilke sucht einen starken und schwachen Gott, dessen Kraft im einzelnen Menschen wirkt. Größe und Verborgenheit als die polaren Enden der Gottesdynamik. Unendlich fern und gleichzeitig hautnah.
    "Du, Nachbar Gott, wenn ich dich Manchesmal
    In langer Nacht mit harten Klopfen störe.
    So ists, weil ich dich atmen höre
    Und weiß: du bist allein im Saal.
    Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da
    Um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
    Ich horche immer: gib ein kleines Zeichen.
    Ich bin ganz nah"
    "Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
    durch Zufall; denn es könnte sein:
    ein Rufen deines oder meines Munds
    und sie bricht ein
    ganz ohne Lärm und Laut."
    In einer der "Geschichten vom lieben Gott", dem "Märchen vom Tod", entwirft Rilke seine Variante der oft beklagten Gottesferne:
    "Als Gott auf die Erde nieder blickte, erschrak er. Neben den vielen gefalteten Händen hatte man viele gotische Kirchen gebaut, und so streckten sich ihm die Hände und die Dächer, gleich steil und scharf, wie feindliche Waffen entgegen. Bei Gott ist eine andere Tapferkeit. Er kehrte in seine Himmel zurück, und als er merkte, dass die Türme und die neuen Gebete hinter ihm her wuchsen, da ging er auf der anderen Seite aus seinen Himmeln hinaus und entzog sich so der Verfolgung.
    Er war selbst überrascht, jenseits von seiner strahlenden Heimat ein beginnendes Dunkel zu finden, das ihn schweigend empfing, und er ging mit einem seltsamen Gefühl immer weiter in dieser Dämmerung, welche ihn an die Herzen der Menschen erinnerte. Da fiel es ihm zuerst ein, dass die Köpfe der Menschen licht, ihre Herzen aber voll eines ähnlichen Dunkels sind, und eine Sehnsucht überkam ihn, in den Herzen der Menschen zu wohnen und nicht mehr durch das klare, kalte Wachsein ihrer Gedanken zu gehen."
    Rilkes Spekulationen über die gegenseitige Abhängigkeit von Gott und Mensch sind oft auf Unverständnis gestoßen und haben manche seiner Leser verwirrt.
    "Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
    Ich bin dein Krug, wenn ich zerscherbe?
    Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)
    Bin dein Gewand und dein Gewerbe
    mit mir verlierst du deinen Sinn.
    Was wirst du tun? Ich bin bange."
    "Da hat man den Eindruck, dass er von einem werdenden Gott spricht und dass der Mensch dazu beitragen kann. Mit dem menschlichen Reifen nimmt zugleich die Gottesrealität Gestalt an. Diese Vorstellung von dem werdenden und zu sich selbst kommenden Gott kommt in der späteren Zeit eigentlich nicht mehr vor. Da ist Gott der umfassende, der Große, der aber nicht genau ausbuchstabiert werden kann. Dieses Beziehungsgeflecht zu diesem Gott ist ihm wichtig, aber nicht das Gefühl, dass ich über Gott verfügen kann, dass ich ihn eindeutig machen kann. Es muss immer diese Offenheit bleiben."
    Rilke geht durch dunkle Zeiten, fühlt sich trotz zahlreicher Kontakte zu anderen Menschen oft einsam, leidet unter Depressionen. Und ist sich trotzdem sicher, dass es an der "Güte und Herrlichkeit" des Lebens letztlich nichts zu zweifeln gibt.
    Im Kriegsherbst 1918, in einer Zeit furchtbarer Not, schreibt er einer jungen Frau zu deren Hochzeit:
    "Ich halte das Leben für ein Ding von der unantastbarsten Köstlichkeit, und die Verknotung so vieler Verhängnisse und Entsetzlichkeiten kann mich nicht irremachen an der Fülle und Güte und Zugeneigtheit des Daseins".
    Rilke rühmt die Erde, die Dinge, das Hiesige als Erscheinung des Göttlichen in der Welt. Zu den zentralen Themen seines Spätwerks gehört das ausdrückliche Bekenntnis zur Erde, zum "Hiesigen".
    "Hiersein ist herrlich."
    Die Erde ist der menschliche Lebensbereich, hier bewältigen Menschen ihr Leben, hier machen sie ihre Erfahrungen. Gleichzeitig geht Rilke in seinem vehementen Bekenntnis zum Hiesigen immer davon aus, dass "das Ganze des Daseins" größer ist, dass es den Bereich der Lebenden und der Toten umfasst, das Vorläufige und das Endgültige. Rilke wehrt sich, dass Irdisches wie personale Liebe und Sexualität von den Konfessionen beargwöhnt wird, beklagt, dass die Menschen auf ein Jenseits vertröstet werden.
    "Ich liebe die christlichen Vorstellungen eines Jenseits nicht, ich entferne mich von ihnen immer mehr; ich werfe es allen modernen Religionen vor, dass sie ihren Gläubigen Tröstungen und Beschönigungen des Todes geliefert haben, statt ihnen Mittel ins Gemüt zu geben, sich mit ihm zu vertragen und zu verständigen.
    Diese zunehmende Ausbeutung des Lebens, ist sie nicht eine Folge der durch die Jahrhunderte fortgesetzten Entwertung des Hiesigen? Welcher Wahnsinn, uns nach einem Jenseits abzulenken, wo wir hier von Aufgaben und Erwartungen und Zukünften umstellt sind. Welcher Betrug, Bilder hiesigen Entzückens abzuwenden, um sie hinter unseren Rücken an den Himmel zu verkaufen."
    "Rilke ist sehr gegen die Scheidung bestimmter Bereiche, die er für zusammengehörend hält. Also zum Beispiel Diesseits und Jenseits."
    Auch wenn in Rilkes späten Werken oft vom Lob und vom Rühmen die Rede ist. Es geht immer um ein Rühmen im Angesicht von Schmerz, Leid und Absurdität des menschlichen Lebens. Und nie um eine verharmlosende Betrachtung der Wirklichkeit.
    "Diese ambivalente Erfahrung war ihm wichtig, weil wir die Wirklichkeit auch in dieser Doppelartigkeit erleben. Wir erleben die Welt in ihrer Schönheit und in ihrer Schrecklichkeit. Und der religiöse Impetus sollte den Menschen ermöglichen, dass er die Schönheit und den Schrecken annehmen kann, denn sie sind eben nur in dieser Doppelheit erlebbar und erfahrbar."
    "Ich möchte werden wie die ganz Geheimen;
    Nicht auf der Stirne die Gedanken denken,
    nur eine Sehnsucht reichen in den Reimen,
    mit allen Blicken nur ein leises Keimen,
    mit meinem Schweigen nur ein Schauern schenken"