Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Rainer Rother über das filmische Erbe
Bewegtbilder als Gedächtnis der Nation

"Bildmedien, die auf Bewegtbild basieren, wie Film, Fernsehen, mittlerweile auch das Internet, sind tatsächlich eine Art Gedächtnis der Nation", sagte Rainer Rother, Leiter der Deutschen Kinemathek, im Dlf. Unter anderem sei deshalb die Digitalisierung die große Aufgabe für die Zukunft.

Rainer Rother im Gespräch mit Mascha Drost | 25.08.2018
    Rainer Rother, Leiter der Retrospektive der Berlinale
    Rainer Rother, Leiter der Retrospektive der Berlinale (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Mascha Drost: Herr Rother, was zählt denn überhaupt zum filmischen Gedächtnis, zum Filmerbe? Reden wir da nur von künstlerischen Produktionen?
    Rainer Rother: Nein, ganz gewiss nicht. Aus der Sicht der Archive ist natürlich zunächst mal jeder Film, der in einem Archiv ist, Bestandteil des filmischen Erbes, weil durch die Aufnahme in das Archiv ist er, wie der Ausdruck heißt, archivwürdig geworden. Das ist schon eine Entscheidung, die zeigt: Das ist ein Film, der soll für die Zukunft erhalten sein. Und das sind nicht nur Spielfilme, es sind auch nicht nur Dokumentarfilme; es ist die ganze Spanne des filmischen Schaffens, wo die Archive auswählen, was sie für erhaltenswert betrachten.
    Drost: Was sind da die Kriterien? Was ist archivwürdig?
    Rother: Sicherlich sind archivwürdig alle Filme, die in irgendeiner Form Wirkung gezeigt haben. Das können auch Filme mit Stars sein, es könnten Unterhaltungs-Genres sein. Dann gehören sicherlich dokumentarische Aufnahmen dazu, und das müssen nicht klassische Dokumentarfilme sein. Es können auch Aufnahmen von Amateuren sein oder mit regionalspezifischem Bezug, weil dort in diesem Filmmaterial tatsächlich ja das Gedächtnis der Nation schon vorhanden ist. Es sind Aufnahmen, die wir so sonst nirgendwo haben würden. Und dann spielen die Erwägungen, ob es für die ästhetische Weiterentwicklung des Films eine Rolle gespielt hat, natürlich eine Rolle. Insofern kann man sagen, das filmische Erbe ist relativ breit gestreut, aber das unterscheidet es zunächst einmal nicht von dem schriftlichen Erbe. Das ist ja auch sehr breit gestreut, vom Journalismus bis zum großen Roman von Thomas Mann.
    Authentisch, wie keine andere Kunstgattung
    Drost: Welche Bedeutung haben Filme für das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft, für das Gedächtnis der Nation, wie Sie es gerade gesagt haben?
    Rother: Ich glaube, wenn man jetzt unter Film nicht nur den klassischen Kinofilm versteht, sondern wenn man das ausweitet auf das Audiovisuelle, dann sind die Bildmedien, die auf Bewegbild basieren, Film, Fernsehen, mittlerweile auch das Internet, tatsächlich eine Art Gedächtnis der Nation schon in ihrer Entstehung, weil sie die Zeit, in der sie entstanden sind, auf eine Art und Weise festhalten, so unmittelbar oder scheinbar unmittelbar und so authentisch, wie keine andere Kunstgattung, kein anderes Medium es vermag.
    Drost: Wie hat sich dann mit dem Film die kulturelle Erinnerung verändert?
    Rother: Wenn wir nur an die Art und Weise denken, wie im Fernsehen zum Beispiel, aber auch in Kompilationsfilmen versucht wird, über Vergangenheit zu handeln, dann greifen die immer auf Archivmaterial zurück. Es sind sogenannte Kompilationsfilme, die mit diesem Material arbeiten und wie ein Historiker, aber in einem ganz anderen Medium Geschichte erzählen, Geschichte präsentieren. Das hat unser Verhältnis zu dem, was wir kollektive Erinnerung nennen, natürlich ganz massiv verändert.
    Wenn es ein Foto gibt vom Kniefall in Warschau, oder einen Film, eine Fernsehaufnahme von Willy Brandts Geste in Warschau, dann ist das für uns genau das Zeugnis, was für dieses Ereignis steht. Wenn Sie an 9.11 denken oder an andere Ereignisse – das müssen nicht immer Katastrophen sein, es können auch sehr erfreuliche Ereignisse sein, die so festgehalten werden -, sie sind für uns auf eine Art und Weise präsent, wie es anders nicht geschehen kann.
    Drost: Der Umgang mit dem filmischen Erbe hat ja viele Jahre für Diskussionen gesorgt. Jetzt ist man langsam einen Schritt weitergekommen – Stichwort Digitalisierung. Bis zu zehn Millionen Euro jährlich wollen Bund und Länder jetzt bald zur Verfügung stellen. Darauf will ich später noch mal genauer zu sprechen kommen. Jetzt aber erst mal die Frage: In welchem Zustand befinden sich denn die Filme im Archiv?
    Großer Restaurierungsaufwand
    Rother: Das ist unterschiedlich. Zunächst mal würde ich sagen: Filme, die im Archiv sind, denen geht es besser als den Filmen, die nicht im Archiv sind, weil sie sind dort unter Bedingungen gelagert, die dem jeweiligen Material entsprechen. Nun altert Film und Film altert sehr unterschiedlich. Das heißt, es gibt auch Zersetzungserscheinungen, um die wir uns dann kümmern müssen. Das sind Filme, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen und die umkopiert oder digitalisiert gehören.
    Es sind auch nicht nur die ganz alten Filme, die in diesem prekären Zustand sind. Bestimmte Farbsysteme der 50er-, 60er-, 70er-Jahre sind nicht besonders farbstabil. Da ist ein großer Restaurierungsaufwand, der uns noch bevorsteht, auch für die nächsten Jahrzehnte. Das sind Aufgaben, denen die Archive sich stellen, und da bedarf es natürlich finanzieller Unterstützung, ganz klar.
    Drost: Das Zauberwort lautet da Digitalisierung. Ist das denn die Lösung für alle Probleme?
    Rother: Digitalisierung ist nicht die Lösung für alle Probleme. Die Digitalisierung ist zunächst mal die Lösung für ein ganz grundsätzliches Problem, das alle audiovisuellen Materialien, die auf analogen Verfahren beruhen, betrifft. Sie sind nämlich eigentlich nicht mehr sichtbar. Das hängt damit zusammen, dass es nur noch wenige Kinos gibt, die 35 und 16 Millimeter Filme abspielen können. Ansonsten sind alle anderen Vertriebswege, sei es jetzt Fernsehen, sei es DVD, Blue-Ray oder Video on Demand, bereits digital. Das bedeutet: Wenn diese Filme sichtbar bleiben sollen, wenn diese audiovisuellen Produktionen sichtbar bleiben sollen, dann bedarf es im ersten Schritt der Digitalisierung.
    Das bedeutet nicht, dass das originale Material nicht erhalten wird. Ganz im Gegenteil! Es wird immer weiter das Ausgangsmaterial für jede weitere Bemühung sein. Aber um es sichtbar zu machen, zugänglich zu halten, dafür ist die Digitalisierung in der Tat der notwendige Schritt – kein Zauberwort, aber eine Aufgabe, die uns tatsächlich aufgegeben ist.
    Drost: Wer bestimmt dann, was digitalisiert wird und was nicht, und nach welchen Kriterien?
    Rother: Momentan gibt es ja mehrere Strukturen, in denen Digitalisierung vorgenommen wird, und das wird auch so bleiben. Natürlich sind erst mal die Rechteinhaber, die ein wirtschaftliches Interesse an ihren Filmen haben, dort gefragt. Die entscheiden das nach ihren wirtschaftlichen Erwägungen.
    Dann sind die Archive gefragt und die Archive entscheiden vor allem nach dem Zustand des Materials: Ist es konservatorisch in einem bedenklichen Zustand. Und es gibt das kuratorische Kriterium. Das heißt, wir überlegen natürlich, was sind Filme, von denen wir mit unserem filmhistorischen, mit unserem fernsehhistorischem Wissen, von denen wir sagen, das sind Filme, die auch in Zukunft für die Gesellschaft eine große Relevanz haben werden, und die würden wir natürlich gerne zugänglich halten.
    Drost: Das heißt, wenn ein Film durch alle diese Raster fällt, dann ist er quasi dem Vergessen geweiht?
    Rother: Sagen wir so: Er wäre dann dem Vergessen geweiht, wenn wir uns ausschließlich um die Top-Prioritäten kümmern würden. Das ist aber nicht die Strategie der Deutschen Kinemathek. Wir haben ja von Anfang an gesagt, Digitalisierung ist eine Aufgabe, die uns noch Jahrzehnte beschäftigen wird. Frau Grütters hat gesagt, die Digitalisierung des audiovisuellen Erbes ist eine Jahrhundertaufgabe; da hat sie auch ganz recht. Und wir haben von Beginn an gesagt, wir möchten gerne die Breite des Filmerbes auch von Anfang an in die Digitalisierung einbeziehen. Das heißt, wir gehen davon aus, dass Experimentalfilme ebenso wie große Meisterwerke des Spielfilms digitalisiert werden. Wir gehen davon aus, dass Dokumentarfilme ebenso wie Kinderfilme auch von Anfang an schon in diesen Prozess hineinkommen, auch um zu vermeiden, dass der Eindruck entsteht, nach zehn Jahren haben wir alle wichtigen Werke digitalisiert und jetzt hören wir mal auf. Das kann nicht Sinn der Sache sein.
    Analoge Konservation
    Drost: Der analoge Ausspielweg, ist der auch ein Teil des kulturellen Gedächtnisses? Müsste man sich auch um den kümmern?
    Rother: Ja, eindeutig. Der Cinematheksverbund – das ist der Zusammenschluss der drei großen Archive in Deutschland -, das Bundesarchiv, das Deutsche Filminstitut und wir, die Deutsche Kinemathek, haben ja in einer Stellungnahme auch veröffentlicht, dass wir die Vorführpraxis mit analogem Film für eine kulturelle Erfahrung halten, die durch keine andere zu ersetzen ist. Insofern plädieren wir sehr dafür, dass es Strukturen gibt, in denen auch analoge Filme wieder neu hergestellt werden, sprich vom Originalnegativ gezogen werden, umkopiert werden. Das bedarf einer anderen Anstrengung, die ist in der Digitalisierungsoffensive nicht vorgesehen. Da ist sicher auch noch Überzeugungsarbeit zu leisten. Ich denke aber, dass es auf eine Situation hinauslaufen wird, in der es, so wie es bestimmte Kunstmuseen gibt, auch bestimmte Filmmuseen gibt, in denen genau diese Erfahrung der Vorführung eines originalen 35 Millimeter Films durch den analogen Projektor nach wie vor geben wird.
    Drost: Das ist dann auch wieder eine Erinnerung an vergangene Zeiten?
    Rother: Ja, sicher! Das Rattern des Projektors ist ja oft wie übrigens auch schon im Fernsehen als Zeichen für eine authentische Kinoerfahrung eingesetzt worden, und wir würden gerne diese authentische Kinoerfahrung, die bis in die 2000er-Jahre die einzige Erfahrung war, in der man Filme hat sehen können, dass diese Erfahrung weiter zugänglich bleibt.
    Drost: Welchen Film würden Sie denn unbedingt dem Vergessen entreißen?
    Rother: Wir sind gerade dabei, einen Film von Gerhard Lamprecht – das ist der Gründungsdirektor der Deutschen Cinemathek – zu digitalisieren, und dann wird man sehen, dass das ein Preußenfilm ist, wie es ihn sonst nicht gibt. Diesem Preußenfilm klebt nicht ganz zu Unrecht das Etikett des Nationalismus an und die besondere patriotische Grundierung, und da ist "Katzensteg" eine radikale Ausnahme. Der geht ganz anders an die Epoche heran und ist für mich sicher einer der besten Filme von Gerhard Lamprecht und sicher auch einer der besten Filme der 20er-Jahre. Den gilt es zu entdecken.
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