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Ralph Vaughan Williams - A London Symphony (Sinfonie Nr. 2)

Ludwig Rink |
    Neun Sinfonien komponierte er - wie Beethoven. Volkslieder sammelte er - wie Bartok und Kodaly. Er wurde fast so alt wie Sibelius, in seiner Heimat war er spätestens ab 1934, dem Tode Edward Elgars, die Nummer 1 des Musiklebens: Die Rede ist von Ralph Vaughan Williams, dem englischen Komponisten, der 1872 geboren wurde und 1958 hochbetagt in London starb, von Vaughan Williams und seiner 2. Sinfonie, die das London Symphony Orchestra unter Leitung von Richard Hickox jetzt in der Fassung von 1913 aufgenommen hat. Warum die CD-Firma Chandos in diesem Zusammenhang von einer "Weltersteinspielung" spricht und was es mit dieser 2. Sinfonie sonst noch auf sich hat, erzählt Ihnen in den kommenden 20 Minuten Ludwig Rink. * Musikbeispiel: Vaughan Williams - Beginn des Scherzos aus: Sinfonie Nr. 2

    Aus zwei Quellen schöpfte der junge Ralph Vaughan Williams bei seiner Suche nach einem eigenen Personalstil, der, der Gedankenwelt der Zeit entsprechend, gleichzeitig auch eine nationale Färbung haben sollte: die eine war die englische Volksmusik, die er in verschiedenen Gegenden sammelte und in Bearbeitungen veröffentlichte, die andere waren die Werke vergangener Epochen, vor allem der Tudor-Ära. Kontrapunktische Schreibweise durchzieht viele Sätze, ansonsten schloss er sich im Hinblick auf Probleme der Form und der symphonischen Charaktere eng an Sibelius, auch an Dvorak an. Wesentlich häufiger als bei Beethoven, der ja nur seine 6. Sinfonie mit entsprechenden Titeln versah, begegnen wir bei Vaughan Williams' 9 Sinfonien außermusikalischen Programmen. Seine "maritime" 1. Sinfonie erschien als "A Sea Symphony" und bezieht von vorne bis hinten die menschliche Stimme in Form von Chor und Solisten mit ein. Sie könnte man fast bruchlos in die typisch englische Oratorientradition einordnen. Thema der 2. Sinfonie ist die Großstadt London, Thema der 3. eher das Ländliche. Damit ist sie ein Vorläufer der aus früheren Filmmusiken zusammengestellten 7. Sinfonie, die den Titel "Antartica" trägt und dementsprechend Bilder von den eisigen Weiten der Landschaften des Südpols heraufbeschwört. Ein ähnlicher Bogen spannt sich von der herben, bisweilen geradezu gewalttätigen 4. Sinfonie zu seiner 6., die er im und kurz nach dem 2. Weltkrieg komponierte, als Reaktion eines sensiblen, mitfühlenden Komponisten auf die Schrecken der Zeit.

    Die Komposition seiner 2., der "London-Symphony", schloss Vaughan Williams zunächst Ende 1913 ab. Doch nach verschiedenen Aufführungen überprüfte und änderte er das Werk mehrfach: 1918, 1920 und noch einmal 1933. Veröffentlicht wurde diese Sinfonie dann Mitte der dreißiger Jahre in der letzten, der "revidierten Fassung". Einzig und allein der erste Satz mit seiner sehr ruhigen, den Schlaf der Großstadt London schildernden Einleitung, den von der Harfe nachgemachten Big Ben Glockenschlägen und der daraufhin zu fröhlichem Leben erwachenden Metropole hat alle Überarbeitungen unverändert überstanden. * Musikbeispiel: Vaughan Williams - 1. Satz (Ausschnitt) aus: Sinfonie Nr. 2

    In allen weiteren Sätzen außer diesem ersten hat Vaughan Williams eine Vielzahl von Änderungen, im Wesentlichen Weglassungen vorgenommen, was die ursprünglich einstündige Sinfonie um etwa ein Drittel verkürzte. Die vorliegende Neuaufnahme bietet somit zum ersten Mal die Möglichkeit, diese zusätzlichen etwa 20 Minuten Musik überhaupt zu hören. Sie entstand mit besonderer, allerdings nur für diese Aufnahme einmal gegebener Genehmigung der Familie des Komponisten, denn es soll klar sein und bleiben, dass die Originalversion von 1913 nicht die spätere überarbeitete Fassung ersetzt. Die Partitur von 1936 entspricht der Sinfonie, wie der Komponist sie der Nachwelt hinterlassen wollte. Die Striche und Umarbeitungen waren seine eigenen Entscheidungen, und gerade angesichts der durch diese CD erfahrbaren Längen der Urfassung wird deutlich, dass die Prägnanz der späteren, gestrafften Fassung für das Ganze ein Gewinn ist, zumal Vaughan Williams auch für einen dichteren strukturellen Zusammenhang sorgte. Dennoch wird auch klar, dass viele schöne Einfälle und Episoden unter den Tisch fielen, Klänge aus einer Zeit, in der sich Vaughan Williams' Kompositionsstil durch besondere Frische und Melodienreichtum auszeichnete. Und durch die Vielzahl dessen, was wegfiel, wurde auch der gesamte Charakter des Werkes ein anderer: die "London Symphony" von 1913 ist geheimnisvoller, wehmütiger, betont das Ruhige ausführlicher als die spätere Fassung. Oder, wie Vaughan Williams-Experte Michael Kennedy es im CD-Beiheft formuliert: "Das Werk in der ursprünglichen Form erinnert - wenn ich mir erlauben darf, ...einen Vergleich anzustellen, der Vaughan Williams entsetzt hätte - durch seine großzügige Art, 'alles zu umfassen', in noch höherem Maß an (Gustav) Mahler." * Musikbeispiel: Musikbeispiel: Vaughan Williams - aus: Sinfonie Nr. 2

    Welche Gründe mag Vaughan Williams gehabt haben, derart häufig und heftig an seiner "London Symphony" herumzubasteln? Zum einen wollte er das Werk vielleicht "modernisieren" und die Eigenständigkeit der Erfindung unterstreichen. Auffällig ist jedenfalls, dass gerade Melodien mit Volkmusikcharakter den Strichen zum Opfer fielen. Zum anderen steckt sicherlich auch die uralte, in Teilen Europas weit verbreitete Angst vor allzu deskriptiver Musik dahinter. Möglicherweise wollte er etwas weg vom Image, seinen Sinfonien lägen oft außermusikalische Anregungen oder gar Programme zugrunde. Aufschlussreich sind jedenfalls die Verrenkungen, die es um detaillierte Satz-Überschriften zur "London Symphony" gegeben hat, Überschriften, die Vaughan Williams angeblich zur Veröffentlichung in Amerika freigegeben hatte. Madelon Coates, die dem Komponisten solche poetischen Programmnotizen entlockt hatte, hatte jedenfalls den Eindruck, dass es ihm nicht daran gelegen war, dass die Leute hierzulande das alles erfahren, denn er habe "einige recht kuriose Ansichten darüber, dass diese Musik schlicht als Musik gehört werden müsse, ohne irgendwelche zugehörigen Bilder." * Musikbeispiel: Vaughan Williams - 2. Hälfte des Scherzos aus: Sinfonie Nr. 2

    In unserer Sonntagsreihe "Die Neue Platte" ging es heute um die Erstaufnahme der 2. Sinfonie von Ralph Vaughan Williams, der sogenannten "London Symphony" in der ursprünglichen Fassung von 1913. Sie hörten das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Richard Hickox. Und mit diesen Klängen aus Londons Nachtleben verabschiedet sich hier im Studio Ludwig Rink.