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Ralph Vaughan Williams: Sinfonien 4 und 6

Neun Sinfonien komponierte er - wie Beethoven. Volkslieder sammelte er - wie Bartok und Kodaly. Er wurde fast so alt wie Sibelius, in seiner Heimat war er spätestens ab 1934, dem Tode Edward Elgars, die Nummer 1 des Musiklebens, und der Dirigent unserer heutigen "neuen Platte", der inzwischen geadelte und auch nicht mehr ganz junge Roger Norrington sagt über ihn :"Einem größeren Menschen dürfte ich nicht mehr begegnen". Die Rede ist von Ralph Vaughan Williams, dem englischen Komponisten, der 1872 geboren wurde und 1958 hochbetagt in London starb, von Vaughan Williams und zwei seiner Sinfonien, die das London Philharmonic Orchestra unter Norringtons Leitung und im Rahmen einer Gesamtaufnahme der Sinfonien jetzt bei Decca veröffentlicht hat. Am Mikrofon begrüßt Sie dazu Ludwig Rink. * Musikbeispiel: Ralph Vaughan Williams - aus Sinfonie Nr. 4 Aus zwei Quellen schöpfte der junge Ralph Vaughan Williams bei seiner Suche nach einem eigenen Personalstil, der, der Gedankenwelt der Zeit entsprechend, gleichzeitig auch eine nationale Färbung haben sollte: die eine war die englische Volksmusik, die er in verschiedenen Gegenden sammelte und in Bearbeitungen veröffentlichte, die andere waren die Werke vergangener Epochen, vor allem der Tudor-Ära. Kontrapunktische Schreibweise durchzieht viele Sätze, hierfür war das eben gehörte Fugato aus dem Scherzo der 4. Sinfonie ein gutes Beispiel, ansonsten schloß er sich im Hinblick auf Probleme der Form und der symphonischen Charaktere eng an Sibelius, auch an Dvorák an. Die Einleitung seiner 4. Sinfonie hat Vaughan Williams bewußt dem Finale der 9. Sinfonie Beethovens entlehnt, jenem Werk, wo ein plötzlich hinzukommender Sänger dem Orchester in die Parade fährt mit den Worten: "O Freunde, nicht diese Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen, und freudenvollere." Was Beethoven noch gelang, nämlich eine wilde Kakophonie umzumünzen in eine hymnische Vision von der Brüderlichkeit des Menschen, das endet bei Vaughan Williams wie es begonnen hat: düster, drohend und unheimlich. Herb und bisweilen geradezu gewalttätig kommt sie daher, diese 4. Sinfonie, 1935 komponiert. Vaughan Williams hatte die Schrecken des 1. Weltkriegs als Sanitäter in Frankreich selbst miterlebt und er brauchte Jahre, um das erlebte Leid einigermaßen zu bewältigen. Die Wut darüber, daß so etwas überhaupt geschehen konnte, vielleicht auch eine Ahnung, daß die Menschen sich anschickten, bald erneut blind in eine weitere Katastrophe zu laufen, mögen den harschen Tonfall dieser Sinfonie erklären. * Musikbeispiel: Ralph Vaughan Williams - aus Sinfonie Nr. 4 Wesentlich häufiger als bei Beethoven, der ja nur seine 6. Sinfonie mit entsprechenden Titeln versah, begegnen wir bei Vaughan Williams' 9 Sinfonien außermusikalischen Programmen. Seine "maritime" 1. Sinfonie erschien als "A Sea Symphony" und bezieht von vorne bis hinten die menschliche Stimme in Form von Chor und Solisten mit ein. Sie könnte man fast bruchlos in die typisch englische Oratorientradition einordnen. Thema der 2. Sinfonie ist die Großstadt London, Thema der 3. eher das Ländliche. Damit ist sie ein Vorläufer der aus früheren Filmmusiken zusammengestellten 7. Sinfonie, die den Titel "Antartica" trägt und dementsprechend Bilder von den eisigen Weiten der Landschaften des Südpols heraufbeschwört. Ein ähnlicher Bogen spannt sich von der eben in Ausschnitten erklungenen, kriegerischen 4. Sinfonie zu seiner 6., die er im und kurz nach dem 2. Weltkrieg komponierte, als Reaktion eines sensiblen, mitfühlenden Komponisten auf die Verheerungen dieses Krieges. Vaughan Williams hatte 1937 Deutschland besucht. Erschüttert von der Brutalität, mit der man dort die Juden und andere Minderheiten verfolgte, half er nach seiner Heimkehr Flüchtlingen dabei, in England Schutz vor dem Nationalsozialismus zu finden. Diese politische Haltung führte ab 1939 zu einem Aufführungsverbot seiner Musik in Deutschland. Das alptraumhafte Scherzo der 6. Sinfonie, dessen leichtes Saxophonsolo zum stechenden Marsch gerät, kann man als Ausdruck der Empörung Vaughan Williams' über das Übel eines solchen totalitären Staates verstehen. * Musikbeispiel: Ralph Vaughan Williams - aus Sinfonie Nr. 6 Das verblüffendste an dieser insgesamt geheimnisvoll funkelnden 6. Sinfonie von Ralph Vaughan Williams ist jedoch der vierte und letzte Satz. An die Stelle, wo sonst ein tänzerisches Rondo oder der Beifall heischende lautstarke Höhepunkt plaziert wird, stellt Williams einen längeren, ausschließlich im piano gehaltenen "Epilog", eine regelrechte "Anti-Klimax", ein ruhiges, geradezu in Erstarrung geratenes Stück, das bei den Londoner Philharmonikern unter Roger Norringtons Leitung zu einer ebenso düsteren wie eindringlichen Meditation wird. Ist es, wie nach der Uraufführung vermutet, die Darstellung einer durch Atombomben erzeugten Wüste oder geht es um die Einsamkeit des modernen Menschen, wird eine Klage angestimmt angesichts der Vergänglichkeit allen Lebens oder könnte es nicht auch eine Schilderung der fatalen Folgen jedweder Umweltzerstörung sein? Die außermusikalischen Assoziationen bei diesem ungewöhnlichen Ende einer Sinfonie mögen noch so ins Kraut schießen - bewundernswert bleibt, mit welch vergleichsweise traditionellen und einfachen Mitteln es Vaughan Williams gelingt, eine derart intensive Musik zu komponieren. * Musikbeispiel: Ralph Vaughan Williams - aus Sinfonie Nr. 6 In unserer Sonntagsreihe "Die Neue Platte" ging es heute um die 4. und die 6. Sinfonie von Ralph Vaughan Williams, die jetzt zusammen auf einer neuen CD der Firma Decca erschienen sind. Es spielte das London Philharmonic Orchestra, die Leitung hatte Roger Norrington, und hier im Studio verabschiedet sich jetzt Ludwig Rink.

Ludwig Rink |