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Ramadan - Fasten mit allen Sinnen

Der erste Tag des Ramadan in Kairo. Die Familie von Zein verbringt ihn traditionell gemeinsam - Brüder, Schwestern und Schwager, Mutter und Großmutter - ein gutes Dutzend Familienmitglieder. Weil sie arm sind, wohnen sie in der Totenstadt, einem der großen, bewohnten Friedhöfe von Kairo, in einem schmucklosen, eckigen Grabgebäude. Von den hohen Wänden bröckeln Putz und Farbe. Es riecht etwas modrig. Aber alle sind entspannt und gut gelaunt. Es ist kurz vor dem 'iftar , dem Fastenbrechen. Zein rückt einen Tisch zurecht, und wer dort keinen Platz mehr findet, setzt sich zum Essen rund um ein großes Tablett auf den Boden.

Beate Hinrichs |
    Der islamische Fastenmonat Ramadan gleicht einem Ausnahmezustand - nicht nur, weil die Mehrzahl der Muslime dann tagsüber fastet und die Nacht zum Tage macht. Der Ramadan ist auch ein gesellschaftliches und familiäres Ereignis. Darin gleicht er dem christlichen Weihnachtsfest - vom gemeinsamen Feiern über das üppige Essen bis zu den Geschenken und neuen Kleidern. Gleichzeitig ist der Ramadan aber auch eine alljährlich wiederkehrende Form des Alltags - wie bei uns die Vorweihnachtszeit etwa. Von diesem Alltag einen Eindruck zu vermitteln, ohne auf abgedroschene Klischees vom "Orient" zurückzugreifen, ist das Verdienst der Islamwissenschaftlerin Angela Grünert und der Photojournalistin Christel Becker-Rau. In dem Bildband "Ramadan - Fasten mit allen Sinnen" beschreiben sie die oft lebensfrohe und fröhliche Stimmung im Ramadan.

    Manchmal hat das Fasten, das Reinigen des Körpers und der Seele, auch etwas Geheiligtes - die algerische Schriftstellerin Assia Djebar erinnert sich im Vorwort, wie sie als Mädchen das erste Mal fastet:

    Wir konnten es kaum erwarten, oh ja, unsere Ungeduld rissig vor Stolz, endlich zu sein wie die Großen! Einen ganzen Tag (den ersten in unserem Leben) Durst und Hunger zu leiden, sogar Schwindel zu spüren, bevor einem die Sinne schwinden, vor allem zu Beginn des Nachmittags (falls der Ramadan, der mit den Jahreszeiten wechselt, da er dem Mondkalender folgt, auf die Hundstage im Sommer fiel). Dann die größte Hitze erleiden, mit schmerzendem Kopf, weil nicht einmal ein Tropfen Wasser (der tatsächlich ein Brechen des Fastens bedeuten würde) unsere rissigen Lippen befeuchten durfte! Fasten wie die Großen, stoisch leiden und dabei manche Verwandte übertreffen, das wollten wir, das heißt, meine gleichaltrige, direkte Kusine und ich, wie ich mich noch gut entsinne, in einem außergewöhnlich trockenen, harten und grausamen Sommer, als wir den Mittagsschlaf verweigerten, um den Frauen in der vielköpfigen Familie zu beweisen, dass ein solcher Tag der Prüfung uns, den kleinen Mädchen, nichts anhaben konnte! ..."

    Das Buch "Ramadan - Fasten mit allen Sinnen" nimmt uns mit in die Kindheit von Assia Djebar, aber auch zu Muslimen, die sich exquisites Essen und elegante neue Kleider leisten können, und zu armen Familien. Wie der von Zein. Zeins Schwestern stellen jetzt Schüsseln mit dampfenden Speisen auf Tisch und Tablett. Sobald die Dämmerung anbricht und das tägliche Fasten beendet, greifen alle zu und es wird still. Jeder interessiert sich nur für gebratenes Huhn, dicke weiße Bohnen und Zucchini in Tomatensauce, für in Entensuppe gekochten Reis mit braunen Nudeln, die ägyptische Spinatsuppe Molukheya, Salat aus Petersilie, Tomaten und Möhren und Fladenbrot. So ein Festessen gibt es nicht jeden Tag.

    Eine ägyptische Statistik besagt: Während des Ramadan werden 20 Prozent mehr Lebensmittel verbraucht - mit 100 Prozent mehr Kalorien. Es gibt 50 Prozent weniger Kriminalität und 30 Prozent mehr Verkehrsunfälle. Diese Daten dürften für alle muslimisch geprägten Länder gelten.

    Das tägliche Verkehrschaos kurz vor dem Fastenbrechen, wenn alle nur noch nach Hause an die gedeckte Tafel streben, ungeduldig und ausgehungert, gehört unweigerlich zum Ramadan. Die Autorin Angela Grünert schildert es ebenso wie die ramadan-typischen, familien-freundlichen Quizsendungen, die das Fernsehprogramm beherrschen. Ihre Beispiele führen von Casablanca bis nach Jakarta, die meisten allerdings stammen aus arabischen Ländern.

    Rund ein Vierteljahr vor Beginn des Ramadan werden in Algerien die meisten Kühl- und Gefrierschränke verkauft. Zu dieser Zeit fällt es leicht, ausgediente Geräte auf dem Gebrauchtwarenmarkt loswerden. Schwieriger dagegen ist es, ein defektes Gerät in Reparatur zu geben, um es rechtzeitig vor Beginn des Fastenmonats zurückzuerhalten.

    Und in einer ägyptischen Kleinstadt auf dem Sinai gibt es einen unerwarteten Kontrollbesuch in der Stadtverwaltung - von den 270 dort arbeitenden Beamten sind während dieses Ramadantages nur neun auf ihrem Posten. Strafen für die 261 abwesenden Beamten gibt es nicht - aber viel Spott und Gelächter im ganzen Land.

    Zu diesen Geschichten stellt die Autorin Koranverse, Sprüche des Propheten Mohammad und poetische Schilderungen des Fastens aus vergangenen Jahrhunderten.

    Die Texte werden ergänzt durch die atmosphärisch dichten Farbphotos von Christel Becker-Rau. Sie portraitiert nicht nur religiöse Zeremonien wie das Beten Hunderter Gläubiger auf öffentlichen Plätzen oder das Koranlesen hingebungsvoller Studenten in einer Moschee. Die Photos zeigen auch überquellende Bahnsteige, lachende Marktfrauen oder einfach Hände, die in eine große Blechschüssel mit tiefgelbem Safranreis, Zwiebeln und gebratenen Hähnchenschenkeln greifen. Die lauten, überschäumenden ebenso wie die kontemplativen Momente des Ramadan, die Gesichter und Stimmungen der Menschen einzufangen, ist ganz wesentlich das Verdienst der Photographien von Christel Becker-Rau.

    Der Kleidermarkt im Kairoer Stadtteil Bulaq heißt "Wikàlit al-Balah" - "Dattelmarkt". Aber statt Datteln gibt es hier Kleidung und Stoffe. In den engen, mit Planen überdachten Gassen hängen Jeans und Pullover an meterhohen Gestellen bunt durcheinander. Unzählige Glühbirnen tauchen alles in helles Licht. Auf Karren türmen sich Berge von Unterwäsche, die die Kundinnen prüfend mit den Händen durchpflügen. Andere Stände sind bis unters Dach voller farbenfroher Stoffballen. Fliegende Händler verkaufen Nüsse oder kleine Sesambrote. In den Marktgassen drängen sich die Menschen, weil Ramadan ist. Denn zum Fest des Fastenbrechens an dessen Ende, zum 'Aid al-fitr, bekommen alle neue Kleider. Vor allem die Kinder. So will es der Brauch. Arme Familien müssen sich auf diese Weise wenigstens einmal im Jahr neu einkleiden. Manche sparen das ganze Jahr über in Sparclubs darauf, in die jeder einen monatlichen Betrag einzahlt. Und manche können sich trotzdem keine neue Kleidung leisten - sie sind auf Almosen angewiesen.

    Der Ramadan-Bildband geht ausführlich auf die soziale Dimension des Ramadan ein. Denn zum Ramadan gehören auch Almosen und Fürsorge für die Armen. Sie werden zum Fastenbrechen tatsächlich oft an lange, mit Speisen überhäufte Tafeln geladen.

    ... in vielen armen Ländern ist für die Not Leidenden der Fastenmonat paradoxerweise der einzige Monat, in dem sie sich richtig satt essen und damit Mangelerscheinungen entgegenwirken können.

    Das verführt Politiker und profilsüchtige Reiche aber auch oft zu einem "Wohltätigkeitsmarathon", der mehr mit Narzißmus als mit Nächstenliebe zu tun hat. Und der keineswegs die Ursachen von Armut beseitigen, sondern die Auswüchse lediglich für kurze Zeit lindern will.

    Das Buch zeigt aber auch die religiöse Funktion der Ramadan, der zur inneren Einkehr und zur Einheit der Gläubigen anhält. Da der Beginn des Ramadan sich nach der Stellung des Mondes richtet, wird jedes Jahr erneut nach einer komplizierten Prozedur entschieden, wann genau der Fastenmonat anfängt. Dabei wetteifern Religionsgelehrte mit Astronomen, wer das letzte Wort hat.

    Und schließlich hat der Ramadan auch eine politische Bedeutung: So bekommen Palästinenser in den Autonomiegebieten Ramadan-Sonderzuteilungen des Nothilfeprogramms der UNO - doch oft riegeln die Israelis zum Beispiel den Gazastreifen so hermetisch ab, dass die Hilfsgüter erst gegen Ende des Fastenmonats eintreffen.

    "Ramadan karim!" Im Dezember 1998 wünschte Präsident Bill Clinton den Muslimen in aller Welt eine gesegnete Fastenzeit. Zwei Tage später kritzelten die Soldaten der US-Marine dieses Segenswünsche auf Marschflugkörper, die auf Bagdad gerichtet waren: "Ramadan karim!" Die ist unser Glückwunsch an den Irak!

    Eine zusammenhängende Schilderung des Treibens im und um den Ramadan bietet der Band nicht - wohl aber viele interessante Einblicke und Aspekte. Wer sich darauf einläßt, kann etliches über muslimisches Leben insgesamt erfahren - anschaulich interkulturell lernen, "mit allen Sinnen".

    Als in Kairo, bei der Familie von Zein am ersten Tag des Ramadan, alle schon satt sind und wieder durcheinander reden, gibt es zum Nachtisch Qamr ed-din - eingedickten Aprikosensaft mit Kokosflocken, gehackten Nüssen und Rosinen. Da schweigen die Familienmitglieder noch einmal genießerisch.