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Rasante Urbanisierung und die Folgen

Derzeit setzt Indien ganz auf die Wachstumskarte. Der Subkontinent will nicht länger als Hort des Elends, sondern als zweiter asiatischer Gigant neben China wahrgenommen werden und öffnet sich immer weiter für die Globalisierung. Der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft führt zu Konflikten.

Von Sandra Petersmann | 02.01.2013
    "Unglaubliches Indien" - mit dieser internationalen Werbekampagne poliert das Land schon seit geraumer Zeit sein Image auf. Indien will nicht länger als Hort des Elends, sondern als zweiter asiatischer Gigant neben China wahrgenommen werden.

    Indien das ist die Finanzwelt von Mumbai und die glitzernde Kinowelt von Bollywood. Das Land erlebt eine rasende Urbanisierung.

    Gleichzeitig ist Indien ein Dorf mit Lehmhütten ohne Strom und fließendes Wasser. In keinem anderen Land der Welt leiden mehr Kinder unter Hunger. Noch immer leben viele hundert Millionen Menschen von weniger als einem Euro am Tag.

    Das Indien von heute hat über 1,2 Milliarden Einwohner, Tendenz steigend. Schon bald wird es mehr Inder als Chinesen geben. Die Bevölkerung ist jung und bildungshungrig. Politik-Wissenschaftler Sunil Khilnani glaubt, dass die größte Demokratie der Welt vor ihrer Schicksalsfrage steht:

    "Indien ist ein Land, das gerade eine der größten Umwandlungen in der menschlichen Geschichte durchläuft - von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Und wir versuchen diesen Prozess als Erstes Land in der Geschichte der Menschheit unter den Bedingungen einer Demokratie zu gestalten. Wie werden wir mit den Folgen unseres wirtschaftlichen Wachstums fertig? Wie verändern wir den Kapitalismus, damit er zu Indiens Bedürfnissen passt' Wenn wir darauf nicht zeitnah eine Antwort finden, stellen die Menschen das System in Frage."

    Derzeit folgt Indien dem Modell der westlichen Industrienationen und vertraut auf die Wachstumskarte. Das Land, das bis 1990 ein sozialistisches Wirtschaftsmodell verfolgte, öffnet sich immer weiter für die Globalisierung. Sozialaktivistin Aruna Roy hält das für den falschen Weg:

    "Was gut für Amerika ist muss noch lange nicht gut für alle anderen sein. Was gut für mich ist, ist nicht automatisch gut für eine arme indische Frau. Sie braucht eine andere Politik, eine andere Strategie. Aber wir ignorieren die Pluralität. Wir wollen eine Coca Cola für alle. Das spaltet die Gesellschaft und sorgt für Ausbeutung und Korruption."

    Im ostindischen Bundesstaat Orissa kämpft das indische Urvolk der Dongria Kondh gegen das globale Rohstoffunternehmen Vedanta.

    Die Dongria Kondh sind Jäger und Sammler, die bis heute entrückt von der indischen Moderne in den Wäldern der Nyamgiri-Berge leben. Ohne staatliche Fürsorge und abgeschieden. Lado ist einer ihrer Anführer.

    "Nyamgiri gibt uns alles, was wir zum Leben brauchen. Das hier sind die Berge unserer Ahnen. Nyamgiri ist unser Vater, unsere Mutter und unser Gott. Ohne Nyamgiri sind wir verloren. Ein Leben ohne unseren Gott bedeutet unseren Tod."

    Der internationale Rohstoffkonzern Vedanta ist an der Londoner Börse notiert und hat zu Füßen der heiligen Berge der Dongria Kondh eine riesige Aluminium-Raffinerie gebaut. Anil Agarwal ist der Gründer und Vorstandsvorsitzende von Vedanta:

    "Ich bin hochsensibel für die Bedürfnisse unserer Urbevölkerung. Aber hier geht es um Bauxit. Orissa hat nichts anderes als Bauxit. Und wir wollen es zu Aluminium verarbeiten. Indien verfügt über eine der größten Bauxit-Reserven der Welt. Sollen wir denn für immer arm bleiben?"

    Für den indischen Großindustriellen, der sich vom Schrotthändler zum globalen Multi hochgearbeitet hat, ist die Ausbeutung von Rohstoffen gleichbedeutend mit Wachstum, Entwicklung und Wohlstand. Doch für die Dongria Kondh bedeutet der geplante Abbau den Verlust ihres Lebensraums. Zu ihren prominentesten Unterstützern gehört Arundathi Roy, Autorin des weltweiten Bestsellers "Der Gott der kleinen Dinge":

    "Die entscheidende Frage ist: werden wir jemals in der Lage sein, unsere Umwelt nicht nur als Rohstofflager für den Kapitalismus zu begreifen, der unseren Planeten in die Krise stürzt' Ich sage ja nicht, dass wir alle wieder mit Lendenschutz und Pfeil und Bogen rumlaufen sollten. Aber wir müssen die Bedeutung von Moderne und Glück anders definieren."

    Bauxit, Eisenerz, Kohle: Kaum ein anderer Wirtschaftszweig in Indien boomt stärker als der Bergbau. Kaum einer liefert mehr Korruptionsskandale. Die internationalen Märkte sind gierig sind, es geht um sehr viel Geld. In Indien gehören die Dschungel im Osten und im Zentrum des riesigen Landes zu den rohstoffreichsten Gebieten überhaupt. Nirgendwo sonst ist der bewaffnete Aufstand der maoistischen Naxaliten stärker. Die indische Regierung bezeichnet die Naxaliten als größte Bedrohung für den inneren Frieden und reagiert mit militärischer Härte.

    Ob Vedanta in den Nyamgiri-Bergen in Orissa tatsächlich Bauxit abbauen darf, muss nun das höchste indische Gericht entscheiden, doch das Verfahren zieht sich hin. Das Nyamgiri-Urteil der Obersten Richter wird Signalwirkung für die Grenzen des indischen Wachstums haben.