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Raserei sprengt die strenge Form der Arie

Gaetano Donizettis "Lucia di Lammermoor" feierte einen triumphalen Erfolg auf den Bühnen in Europa und Amerika. Sie zählt zu den wenigen Opern aus der Glanzzeit des Italienischen, die sich einen Platz im internationalen Musiktheaterrepertoire erobern konnte. Am 26. September 1835 wurde das Werk in Neapel uraufgeführt.

Von Sabine Fringes | 26.09.2010
    "Unsere Theater werden immer schlechter, die Opern fallen durch, das Publikum zischt, der Besuch ist spärlich. Jetzt werden wir am San Carlo meine 'Lucia di Lammermoor' geben, die nun fertig ist. Die Krise ist nahe, das Publikum hat Verdauungsstörungen, die Società teatrale wird demnächst aufgelöst werden, der Vesuv raucht, und der Ausbruch steht nahe bevor."

    Gaetano Donizetti im Juli 1835 zur angespannten Lage der neapolitanischen Theater. Die Oper in Italien war zu seiner Zeit ein reiner Unterhaltungsbetrieb, ein Geschäft, das sich lohnen musste: Um das Publikum bei Laune zu halten, wurden ständig neue Opern auf die Bühne gebracht und ein Komponist musste vor allem eins sein, wenn er von seinem Metier leben wollte: schnell.

    "Was mir gut gelang, habe ich immer schnell gemacht; und oft wurde mir gerade für das Nachlässigkeit vorgeworfen, was mich am meisten Zeit gekostet hat."

    Für seine irrwitzige Geschwindigkeit war Donizetti berühmt. Heinrich Heine spottete, in seiner Fruchtbarkeit stehe er nur den Kaninchen nach. Mit 38 hatte er bereits 50 Opern komponiert, darunter ragten "L'elisir d'amore" und "Anna Bolena" heraus. Nun brauchte das bankrotte Theater San Carlo dringend einen neuen Publikumsrenner.

    Am 26. September 1835 hob sich der Vorhang für "Lucia di Lammermoor" zum ersten Mal.
    Die Geschichte um die unglückliche Lucia, die durch eine Intrige dazu gedrängt wird, ihren Geliebten zu verlassen, um eine Ehe mit einem anderen einzugehen, stammt aus "Die Braut von Lammermoor" von Walter Scott, dessen Schauergeschichten damals Mode waren. Das Libretto von Salvatore Cammarano inspirierte Donizetti zu effektvollen Ensembleszenen, Liebesarien und Duetten, die ihn als einen Meister des Belcanto zeigen.
    Höhepunkt der Oper ist die Wahnsinnsarie der Lucia, die noch in der Hochzeitsnacht von der Intrige erfährt und darauf ihren Gatten ersticht. Ihre Raserei sprengt die strenge Form der Arie, in der melodische Erinnerungsfetzen, virtuose Koloraturen und lyrische Momente für schroffe Kontraste sorgen.

    Den sonst gerne plaudernden und sich mit Spielen die Zeit vertreibenden Zuschauern blieben bei der Aufführung buchstäblich die Worte im Halse stecken blieben. Donizetti:

    "Erlauben Sie mir auf freundschaftliche Weise schamhaft die Wahrheit zu sagen. (Lucia di Lammermoor) gefiel, und sie gefiel überaus. Man hörte allen Nummern mit andächtigem Schweigen zu und zeichnete sie mit spontanen vivas aus."

    Der Erfolg der Premiere wiederholte sich, bald war das Werk in allen großen Opernhäusern der Welt zu sehen. Die Rolle der Lucia wurde zur Paraderolle für koloratursichere Soprane: Primadonnen wie Henriette Sontag und Adelina Patti brillierten in ihr, später gaben ihr Sängerinnen wie Joan Sutherland, Edita Gruberova oder Maria Callas ein eigenes, unverwechselbares Profil.

    "Lucia di Lammermoor" entwickelte sich zum Inbegriff der romantischen italienischen Oper und hielt auch Einzug in die Literatur: Tolstoi lässt sie in seiner "Anna Karenina" erklingen und Flauberts "Madame Bovary" erkennt in der Abschiedsszene ihre eigene Liebe:

    "Die gesamte Stretta wurde wiederholt, die Liebenden sprachen von den Blumen auf ihren Gräbern, von Eiden, von Exil, von Fatalität, von Hoffnung, und als sie schließlich voneinander Abschied nahmen, stieß Emma einen scharfen Schrei aus, der sich mit den Schwingungen der Schlussakkorde vermischte."