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Raskolnikov

Was verbindet ein Klavier mit Literatur? Offensichtlich eine ganze Menge. Denn das Klavier spielt in der Literatur des 20. Jahrhunderts keine kleine Rolle. Als Instrument bürgerlicher Erziehung und meist repressiver, wenn auch gewaltfreier Sozialisation erscheint es in Werk-Titeln von Else Lasker-Schüler, über Friederike Roth bis hin zu Elfriede Jelinek. Dann gibt es die Autoren, die im Klavier nur eine Abart ihrer eigenen Schreibmaschine erkennen. Dieter Kühn etwa, der dabei ins Sinnieren über die Unterschiede zwischen der indirekten Öffentlichkeit eines Autors und der direkten Öffentlichkeit eines Pianisten kommt. (Dazwischen liegt die Lesung - versteht sich). Und dann gibt es ausgewachsene Pianisten-Romane und -Erzählungen. Inzwischen haben Glenn Gould, Horowitz, Ugorski alle schon "ihren" Roman, manchmal sogar schon der Klavierstimmer, und die Literatur ist voll feinster Differenzierungen zwischen Flügeln der Marken "Blüthner", "Bösendorffer", "Steinway", bis hin zu den Player-Pianos der Firma Welte-Mignon.

Matthias Sträßner |
    So häufig und so beliebt sind solche literarischen Klimpereien inzwischen, daß es auch schon Dopplungen gibt: Bachs "Goldberg-Variationen" sind von Tabori und Kühn, Beethovens "Diaballi"-Variationen sind literarisch mal von Irene Dische, mal von Hermann Burger zu haben, und der sagenumwobene Pianist Arturo Benedetti Michelangeli, 1995 gestorben, tritt uns aus Roberto Cotroneos "Die verlorene Partitur" entgegen, wie jetzt auch im neuen Roman von Laura Mancinelli mit dem Titel "Raskolnikov".

    Laura Mancinelli sucht sich ihren Weg zum berühmten Pianisten über die literarische Figur eines Schülers mit Namen Sergej Raskolnikov, der seinerseits wieder in einem Freundeskreis in Turin verkehrt. Dieser Raskolnikov darf den Maestro bei einem Fortbildungskurs in Arezzo erleben , bei welchem der berühmte Pianist den selbstzweifelnden Nachwuchs gnädig von der vorzeitigen Abreise abhält. Damit der junge Nachwuchs-Pianist mit dem russischen Namen aber nicht nur huldigend nach oben blicken muß, sondern auch mal verächtlich nach unten schauen darf, wird ein mediokrer Berliner Pianist eingeführt , der eine Aufführung von Chopins "Nocturne" an Raskolnikov abtritt. Diagnose: Sehnenscheidenentzündung. So ein Pech aber auch, denkt sich der Leser, und erinnert sich, daß es eine ähnliche Dreierkonstellation schon in Thomas Bernhards Pianisten-Roman "Untergeher" gibt.

    Dabei hat der Roman freilich ein Problem: Es gibt nichts zu erzählen. Bei Laura Mancinelli klingen nur Gesellschaftsakkorde an, es gibt keine erzählerische Entwicklung. Da ist noch ein Maler, der mit Sonnenuntergängen seine Probleme hat. Da ist noch ein Pärchen, Luigi und Arianna, die mal umsonst die Carabinieri bemühen, um kleinere kriminalistische Verwicklungen aufkommen zu lassen, und um die überaus schwierige Frage zu beantworten: Wie begründet man eine Konzertabsage?

    Alles folgt dem Schema der Bagatelle: das wirkliche Geschehen ist zu klein und zu wenig glaubhaft, und die Namen sind zu groß. Wir ahnen, warum der Pianist den Namen einer Dostojewski-Figur tragen muß: irgendwie hat das mit der Schuld zu tun, die wir alle im Zusammenhang mit Primo Levi zu tragen haben. Aber der Leser versteht nicht, warum? Auch wenn noch so häufig im Roman über Primo Levis Buch "Ist das ein Mensch?" diskutiert wird, und schließlich sogar Platons Gedächtnislehre herhalten muß. So bekommt der Leser das Gefühl, daß das Erzählprinzip: "Ich trage einen großen Namen" allein schon ausreichen soll, aber das Name-dropping von Raskolnikov, Primo Levi und Arturo Benedetti Michelangeli macht eben noch keinen Roman. Die Suppe wird auch nicht dicker, wenn wir die Bildungsbrocken gelöffelt haben, die sich in den Text so beiläufig eingestreut finden: wenn der Leser erfährt, daß Mozart gern gebackene Frösche aß und im Januar Geburtstag hat , oder wenn die Kunstgeschichte von Tiepolo und Piero della Francesca bis hin zu Munch gestreift wird. Wozu das alles?

    Daß die Einladung zu einer Gedächtnisausstellung für Primo Levi heute nur noch funktioniert, wenn andere Plakate überklebt werden, gilt übertragen für das Buch selbst: Mancinellis Roman "Raskolnikov" handelt gleichsam von überklebten Namen und überklebter Kultur. Auch die Konzerte des Pianisten sind wenig mehr als gesellschaftliche Randereignisse, bei denen der gereichte Aperitif wichtiger ist, als der Auftritt. Kurzum, da spielt eine Autorin wie ein schlechter Pianist mit dem Pedal : wo es nichts zu erzählen gibt, wird eine Klangwolke bedeutungsvoller Namen und Geschichte erzeugt, die verhüllen sollen, daß der literarische Fingersatz nicht stimmt. Wir glauben also gerne, daß dieser Pianist seine Konzerttermine im Taschenkalender seiner Turiner Stadtbank einträgt, wahrscheinlich hätte ein noch kleinerer Kalender gereicht.