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Rattengehirn im Computer

Neurologie. – Das Gehirn ist ein Organ, dessen Funktionsweise wir immer noch recht verstanden haben. Vor allem ist es um Potenzen leistungsfähiger als jeder Supercomputer. Forscher von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne wollen trotzdem auf mittlere Sicht ein Rattengehirn im Computer nachstellen. Derzeit fangen sie ganz klein an, mit Bündeln von 10.000 Nervenzellen.

Von Hellmuth Nordwig |
    Unter dem Mikroskop sieht eine Nervenzelle so ähnlich aus wie ein Baum. Die zahlreichen Verästelungen fangen die elektrischen Reize von Nachbarzellen auf. Im Zellkörper werden diese Signale miteinander verrechnet, und der Stamm des Zell-Baums sendet das Ergebnis wiederum nach draußen. Eine Nervenzelle ist also einem einfachen Prozessor vergleichbar, und da liegt es nahe, sie in einem Computermodell nachzubilden. An der ETH Lausanne in der Schweiz haben Forscher solche Modelle für die rund 100 verschiedenen Zellarten der Großhirnrinde entwickelt. Felix Schürmann leitet dieses Projekt namens "Blue Brain".

    "Am Anfang des Projekts stehen die experimentellen Daten. Und Sie müssen ein mathematisches Modell finden, das diese Daten beschreibt. Bei dem Detaillevel, den wir verstehen möchten, geht es darum, jede einzelne Zelle, jeden Zelltyp zu modellieren. Das heißt, der erste Schritt in so einem Modell ist die elektrische Beschreibung des Verhaltens einer Zelle. Und dafür gibt es aus der Physik Gleichungen, Kabel-Wellengleichungen und so weiter, die das beschreiben, und das verwendet man als Grundkonstrukt."

    Nervenzellen sind aber keine Kupferkabel, sondern mit einer Salzlösung gefüllt. Deren Zusammensetzung ändert sich ständig, wenn die Zellen aktiv sind. Dadurch verändert sich die elektrische Leitfähigkeit, und auch das gilt es im Computermodell zu berücksichtigen. Schürmann:

    "Und wenn man das dann hat, dann kann man das verbinden zu einem Netzwerk, weil das, was wir uns angucken, ein großes orchestriertes Netzwerk von Zellen ist. Und dann muss man sehen, dass das Modell dem entspricht, was man tatsächlich im Experiment sieht, um dann zu gucken, ob das Modell die Daten reproduziert. Und dann kann man das verwenden, um Vorhersagen zu machen und neuartige Fragen zu formulieren, also ein virtuelles Experiment zu machen."

    Zum Beispiel wollen die Forscher langfristig simulieren, wie bestimmte Medikamente das Gehirn beeinflussen. Doch soweit ist es noch lange nicht. Immerhin ist es ihnen aber im vergangenen Jahr gelungen, eine Art Standard-Bauelement der Großhirnrinde virtuell nachzubilden: eine so genannte Säule, das ist eine Gruppe von 10.000 Nervenzellen mit 50 Millionen Verbindungsstellen. In einem Video können die Forscher zum Beispiel darstellen, welchen Weg ein bestimmter Reiz durch dieses "Waldstück" aus Nervenzellen nimmt. Felix Schürmann:

    "Und das sind Experimente, die kann man auch mit Präparaten experimentell durchführen. Dadurch kann man zum Beispiel charakteristische Eigenschaften sehen, die aktiviert werden, wenn ein Gehirn vom Wach- zum Schlafzustand übergeht Und man kann zeigen, dass es ähnliche Muster in dem präparierten Gehirn gibt. Und so nähert sich das Modell über die Trittstufen, die experimentell vorgegeben sind, dem realen Gehirn. Aber offensichtlich braucht ein funktionierendes Gehirn viele andere Dinge, die momentan im Modell nicht vorhanden sind."

    Zum Beispiel ein Element, das Sinnesreize bewertet und Ballast herausfiltert. Auch diese Bestandteile wollen die Forscher nach und nach in ihr virtuelles Modell einbauen. Denn bisher sind die Unterschiede zum realen Gehirn gewaltig. 10.000 Zellen sind eine verschwindend kleine Zahl verglichen mit den 100 Milliarden Nervenzellen des menschlichen Gehirns. Und das Modell hat noch ein weiteres, entscheidendes Manko. Schürmann:

    "Dass es langsamer ist. Der schnellste Supercomputer der Welt, den man heute kaufen kann, würde ein Rattengehirn nicht in Echtzeit simulieren. Sondern Sie müssten für eine Sekunde Hirnaktivität lange warten, Tage."

    Das Ziel des Projekts ist es dennoch, bis 2015 ein gesamtes Rattengehirn zu simulieren. Und dann könnte es wirklich spannend werden: Wird dieses virtuelle Gehirn das können, was die echten grauen Zellen leisten? Wird es aus den gesammelten Reizen Neues, Unerwartetes hervorbringen, vergleichbar den Gefühlen oder einem Bewusstsein? Sicher ist, dass die Antwort auf diese Frage nicht nur Hirnforscher interessieren wird, sondern auch die Philosophen.