Ich sehe heute für das Amt des Bundespräsidenten eine doppelte Aufgabe: Er muss für die Deutschen sprechen und er muss Minderheiten zur Sprache verhelfen. Ich will das mit meinen Gaben und auf meine Weise tun. Ich will zuhören, damit niemand ungehört bleibt. Ich will Gesprächsfäden neu knüpfen, wo sie abgerissen sind, zwischen Ost und West, zwischen Jung und Alt.
Trotz dieser Ankündigung sind die ersten Monate seiner Amtszeit höchst umstritten. Die Kritiker fühlen sich bestätigt. Der Präsident wirke müde und krank, heißt es immer wieder. Manche sprechen von einer Fehlbesetzung, zweifeln, ob er noch in der Lage ist, eigene politische Akzente zu setzen. Im Februar 2000 bei seiner Reise nach Israel, einem Land, das er zuvor bereits 32 Mal besucht hat, hält er seine wohl wichtigste Rede. Als erster deutscher Bundespräsident tritt er vor dem israelischen Parlament, der Knesset auf. In deutscher Sprache entschuldigt er sich für die Verfolgung der Juden während des Nationalsozialismus in Deutschland:
Ich bitte um Vergebung für das, was Deutsche getan haben, für mich und meine Generation um unserer Kinder und Kindeskinder Willen, deren Zukunft ich an der Seite der Kinder Israels sehen möchte.
Für seine Rede erhält er weltweit Respekt und Anerkennung. Im eigenen Land knüpft er an die Tradition seines Vorgängers Roman Herzog und bezieht in seinen Berliner Reden Stellung zu brennenden gesellschaftlichen Themen. Im Mai 2000 äußert er sich über das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern. Im Berliner Haus der Kulturen der Welt kritisiert er Politiker, die als Wahlkämpfer versuchen, mit fremdenfeindlichen Stimmungen auf Wählerfang zu gehen. Aber auch von vielen in Deutschland lebenden Ausländern verlangt er mehr Integrationsbereitschaft:
Integration kommt nicht von allein. Man muss etwas dafür tun. Das ist oft anstrengend. Wir dürfen diese neue Anstrengung nicht missverstehen als einen mildtätigen Akt, mit dem wir Ausländern einen Gefallen tun. Wenn wir etwas für bessere Integration tun, dann tun wir das nicht nur aus Mitmenschlichkeit oder christlicher Nächstenliebe, sondern in unserem aufgeklärten Eigeninteresse. Mit dieser Rede gewinnt Rau auch auf nationaler Ebene öffentliche Akzeptanz. Der Versöhner findet klare Worte, formuliert schärfer und bleibt sich dennoch treu als Brückenbauer und als Versöhner. Ein Jahr später schaltet sich in die Debatte über Gentechnik ein. Im Widerspruch zum Bundeskanzler, der eine Diskussion ohne Scheuklappen fordert, warnt er in seiner zweiten Berliner Rede vor unkritischem Fortschrittsglauben:
Was ist das Menschliche am menschlichen Maß? Ist nicht gerade das Menschliche eine sehr vieldeutige Kategorie? Ich glaube, dass es Dinge gibt, die wir um keines tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteiles Willen tun dürfen. Tabus sind keine Relikte vormoderner Gesellschaften, keine Zeichen von Irrationalität. Ja, Tabus anzuerkennen, das kann ein Ergebnis aufgeklärten Denkens und Handelns sein. Die Heilung von schweren und schwersten Krankheiten, das ist es, was viele Menschen sich in erster Linie von den Fortschritten in der Bio- und Gentechnik versprechen. Ökonomische Interessen sind legitim und wichtig. Sie können aber nicht gegen die Menschenwürde und den Schutz des Lebens aufgewogen werden.
Im Juni 2002 unterzeichnet Rau das umstrittene Zuwanderungsgesetz. Danach rügt er mit ungewöhnlich scharfen Worten das parteipolitische Gezerre um dieses wichtige Gesetz. Der Versöhner kann auch ein unbequemer Staatsmann sein:
Ich bin der Auffassung, dass die Art und Weise, wie die Sitzung des Bundesrates am 22. März verlaufen ist, dem Ansehen von Staat und Politik Schaden zugefügt hat. Ich rüge das Verhalten des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und seines Stellvertreters. Ich rüge und ermahne aber auch alle übrigen, die zu diesem Ansehensverlust beigetragen haben.
Als der Bundespräsident im Mai diesen Jahres das Königreich Schweden besucht und in der Bundesrepublik leidenschaftlich über die Neuorganisation der Arbeitsvermittlung diskutiert wird, zeigt Johannes Rau Fingerspitzengefühl, er arbeitet mit leisen Tönen und hat dennoch einiges zu sagen:
Mir ist aufgefallen die sehr lebendige und persönliche Zuwendung der Beschäftigten des Arbeitsamtes gegenüber den Arbeitslosen, also der Versuch, deren Interessen zu erfahren und danach einen Arbeitsplatz zu suchen, und weniger der statistische Hinweis, wo gibt es Arbeit und wen stecken wir dahin? Das ist eine andere Denkweise als ich sie von manchen Behörden her kenne, und das scheint mir vorbildlich zu sein.
All diejenigen, die bereit sind, Zwischentöne zu hören, werden es verstanden haben. Auch bei seinen jüngsten Einlassungen zum Thema Rente:
Es muss älteren Menschen zuerst einmal das Bewusstsein vermittelt werden, eure Rente ist kein Gnadenbrot, sie ist ein Dank für eure Lebensleistung, dafür, dass ihr Deutschland wiederaufgebaut habt, und das wird euch nicht einfach weggenommen. Aber dann darf man das andere auch sagen, man darf sagen, dass wir aufgrund der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland der jungen Generation von heute eine große Last mitgeben und dass sie Hilfe beim Tragen braucht. Ich glaube, dass ältere Menschen dazu bereit sind, eine solche Hilfe zu leisten, und ich habe in mehreren Reden versucht deutlich zu machen, es darf nicht zum Konflikt der Generationen kommen, sondern es muss zu einem neuen Miteinander kommen zwischen der Erfahrung der Alten und dem Elan der Jungen.