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Rausch auf Rezept

Rausch auf Rezept – in Kalifornien ist das bereits seit knapp 15 Jahren möglich. Patienten brauchen dort nur eine Bescheinigung von ihrem Arzt, um sich mit Marihuana selbst behandeln zu dürfen. HIV-Patienten zum Beispiel dämpfen damit Schmerzen und regen ihren Appetit an. Menschen, die an Krebs leiden, bekämpfen mit Cannabis ihre Übelkeit nach einer Chemotherapie.

Von Arndt Reuning | 31.10.2010
    David Goldman öffnet einen kleinen Glasbehälter, in dem er seine Medizin frisch hält: haselnussgroße Kügelchen aus getrockneten Pflanzenblättern. Dann beugt er sich auf seiner Couch nach vorne und nimmt etwas vom Wohnzimmertisch, was wie ein Pillendöschen aus Metall aussieht.

    Ein Mahlwerk, mit dem er seine Medizin zu einem feinen Pulver zerkleinert. Das Pulver füllt er in einen blauen Zylinder, aus dem seitlich ein Mundstück herausragt – eine Art Wasserpfeife. Dann greift er zu seinem Feuerzeug.

    David Goldman nimmt einen tiefen Zug, hält ihn einen Moment lang im Mund und atmet dann aus. Und so, erklärt er, nimmt man für gewöhnlich jene Medizin ein – jene Medizin namens Marihuana.

    Rausch auf Rezept - Marihuana drängt in die Medizin

    Von Arndt Reuning


    David Goldman nimmt einen Schluck Fruchtsaft, um seinen Hals zu kühlen, lehnt sich auf seiner lindgrünen Couch zurück und zieht sein hautenges T-Shirt zurecht. Die kalifornische Herbstsonne scheint in das Wohnzimmer seines Appartements in San Francisco. Der Rauch der Wasserpfeife wabert in der Luft.


    Der ehemalige Lehrer ist einer von unzähligen Patienten in Kalifornien, die ihre Krankheit mit einem ganz speziellen Kraut selbst behandeln –, mit der Hanfpflanze Cannabis sativa. Die getrockneten weiblichen Blütenstände und die Blätter werden als Marihuana bezeichnet, das Harz der Pflanze als Haschisch. Ihre Karriere hat die Pflanze vor allem als Rauschdroge gemacht, aber sie soll auch bei einer ganzen Reihe von Krankheiten Linderung bringen – HIV-Patienten dämpfen damit Schmerzen und regen ihren Appetit an. Menschen, die an Krebs leiden, bekämpfen ihre Übelkeit nach einer Chemotherapie. Aber auch Alzheimer, Multiple Sklerose und Migräneanfälle können mit Cannabis behandelt werden.

    "Ich benutze Marihuana schon seit einigen Jahren als Medizin. Seit ich im Ruhestand bin, leide ich unter schweren Kopfschmerzen. Das geht von meinen Nasennebenhöhlen aus. Die Schmerzen waren am Anfang einfach unerträglich. Und herkömmliche Schmerzmittel kann ich nicht nehmen, denn die verträgt mein Magen nicht."

    Also besorgte er sich von seinem Arzt die Lizenz zum Rauchen. Die Medizin bezieht er aus einer örtlichen Marihuana-Apotheke.

    "Cannabis hält meine Kopfschmerzen in Schach. Ich habe festgestellt, dass ich die Dosis, die ich brauche, genau einstellen kann – ein, zwei oder drei Züge, je nach Schwere der Kopfschmerzen. Für mich ist das die einzige Arznei, die schnell und zuverlässig wirkt – ohne die Nebenwirkungen der Schmerzmittel: Magenprobleme, möglicherweise Leberschäden und weiß der Himmel was noch."

    Menschen wie David Goldman bewegen sich im Moment in einer rechtlichen und medizinischen Grauzone. Ein US-Bundesgesetz verbietet zwar den Konsum der Droge. Aber in 14 Staaten und im District of Columbia dürfen Patienten Marihuana zu medizinischen Zwecken anwenden. Kalifornien war der Vorreiter der Bewegung. Dort ist das Kraut schon seit 1996 als Medikament legal. Und in wenigen Tagen schon könnte der Bundesstaat nun den nächsten Schritt zur Liberalisierung gehen: Die Bürgerinnen und Bürger werden darüber abstimmen, Marihuana generell für den privaten Gebrauch zu legalisieren. Proposition 19 nennt sich diese Initiative. Auch in anderen Teilen der Welt hat Cannabis als Arzneimittel neuen Aufwind erfahren: Kanada, Großbritannien und Spanien haben ein Extrakt aus dem Kraut als Medikament zugelassen. Und Deutschland könnte schon bald nachziehen.

    "Es hat in der Vergangenheit eine gewisse Anzahl von Einzelberichten und Fallstudien über den möglichen Nutzen von Marihuana in der Medizin gegeben. Im Jahr 1999 hat das amerikanische "Institute of Medicine" einen Bericht heraus gegeben, in dem der Stand der Forschung zusammengefasst wurde. Aber ich möchte behaupten, dass es nicht viele klinische Studien zum Marihuana-Rauchen gegeben hat, bevor unser Zentrum gegründet wurde."

    Das sagt Igor Grant, Professor an der Universität von Kalifornien in San Diego und der Leiter des Zentrums für medizinische Cannabis-Forschung, CMCR. Der Forschungsverbund aus mehreren kalifornischen Universitäten hat zum ersten Mal nach 20 Jahren wieder in den Vereinigten Staaten Studien durchgeführt, bei denen Patienten Cannabis rauchten. Nach dem neu erwachten Interesse an den Cannabiswirkstoffen Ende der 90er-Jahre hat das Zentrum es sich zum Ziel gesetzt, die praktischen Anwendungen auf eine wissenschaftlich fundierte Basis zu stellen. Konzentriert haben sich die Mediziner dabei auf die krampflösende und die schmerzstillende Wirkung der Pflanzendroge, zum Beispiel bei peripherer Neuropathie.

    "Das sind Schmerzen, die als Begleiterscheinung anderer Krankheiten auftreten können, zum Beispiel Aids oder Diabetes. Ein brennendes, schmerzhaftes Gefühl typischerweise in den Füßen und Beinen. Die unterscheiden sich grundlegend von anderen Schmerzen, wenn man sich zum Beispiel einen Knochen gebrochen hat oder so etwas. Neuropathische Schmerzen lassen sich sehr viel schlechter mit klassischen Schmerzmitteln unterdrücken, wie etwa mit Morphin oder mit Opioiden. Es gibt einige Behandlungsmethoden für dieses Leiden, aber sie sind alle nicht besonders wirksam. Aufgrund von Informationen aus Tierversuchen dachten wir, dass Cannabis hier eine Therapiemöglichkeit darstellen könnte."

    Am CMCR wurden mehrere Studien zu neuropathischen Schmerzen durchgeführt, in denen vor allem die kurzfristige Wirkung der Droge untersucht wurde – und zwar nach dem Goldstandard in der Medizin.

    "In den meisten Fällen handelte es sich um eine Placebo kontrollierte Untersuchung. Entweder wurden die Patienten in zwei Gruppen unterteilt. Die eine erhielt das Placebo, ein Scheinmedikament, und die andere den echten Wirkstoff. Oder jeder Patient erhielt beides, zum Beispiel zuerst das Placebo und dann nach einer Weile das Cannabis. Oder eben umgekehrt. Das ist dann eine sogenannte Crossover-Studie."

    Als Placebo dienten Marihuana-Zigaretten, denen man den Hauptwirkstoff THC entzogen hatte, vergleichbar etwa entkoffeiniertem Kaffee. Auf diese Weise wurden die neuropathischen Schmerzen von 50 HIV-Patienten behandelt. Für die Dauer der Studie begaben sie sich in ein Krankenhaus.

    "Dort hatten sie erst einmal etwas Zeit zum Eingewöhnen. Dann rauchten sie entweder eine echte Marihuana-Zigarette oder das Placebo. Die Studie dauerte eine Woche. Danach wurden die Patienten untersucht. Bei den Patienten, die den echten Wirkstoff erhalten hatten, ließen die neuropathischen Schmerzen deutlich nach. Und nach dem Ende der Behandlung kamen sie allmählich wieder zurück."

    Neben den schmerzstillenden Eigenschaften konnten die kalifornischen Cannabis-Forscher auch nachweisen, dass die Joints Krämpfe lindern können, unter denen manche Patienten mit Multipler Sklerose leiden. Außerdem interessierte die Mediziner, ob Nebenwirkungen der Droge den Probanden zu schaffen machten. Sie fanden dabei nichts Unerwartetes: Eine leicht erhöhte Herzfrequenz, einen leicht abgesunkenen Blutdruck, teilweise Husten. Und natürlich die Stimmungsänderung durch die Droge.

    "Was wir nicht beobachtet haben, waren schwere Nebenwirkungen, die einen Abbruch der Studien zur Folge gehabt hätten. Keine Psychosen, keine Panikattacken, wie sie im Zusammenhang mit Marihuana in einigen Fällen bereits berichtet worden sind."

    Einschränkend muss man allerdings sagen, dass an den verschiedenen Studien selten mehr als 30 Patienten teilgenommen haben. Das ist verhältnismäßig wenig. Und die Dauer einer Testrunde bewegte sich im Zeitraum von Wochen.
    Nebenwirkungen wie etwa Schädigungen der Atemwege oder auch eine Abhängigkeit von der Droge, die sich erst über eine lange Zeit entwickeln, hätten so also gar nicht erst festgestellt werden können. Trotzdem glaubt Igor Grant, dass Cannabis sich nur wenig von anderen Schmerzmitteln unterscheidet, die in der Medizin standardmäßig verwendet werden, wie etwa Valium und Morphin. Auch bei diesen Mitteln besteht zum Beispiel die Gefahr, dass die Patienten davon abhängig werden können.

    "Aber aus meiner Sicht ist das bei Cannabis kein besonders großes Risiko. Von Marihuana wird man sicher nicht in einem ähnlichen Ausmaß abhängig wie von Opium zum Beispiel und von anderen Substanzen dieser Wirkstoffklasse."

    Das amerikanische Bundesgesetz, das den Umgang mit solchen Stoffen regelt, ist der "Controlled Substances Act". Es ordnet Rauschmittel in verschiedene Kategorien ein. Marihuana gehört derzeit zusammen mit LSD und Heroin in die erste Kategorie. Solche Stoffe bergen aus Sicht der Gesetzgeber ein hohes Missbrauchspotenzial und haben medizinisch gesehen keinen Nutzen. Diese Einschätzung sollte man überdenken, fordert Grant.

    "Meiner Meinung nach sprechen alle wissenschaftlichen Daten dafür, Marihuana auf eine Stufe mit den Schmerzmitteln auf Opioid-Basis zu stellen. Oder sogar der Kategorie drei zuzuordnen. Diese Stoffe haben auch ein gewisses Suchtpotential, aber deutlich schwächer. Realistischerweise muss ich jedoch sagen: Hier in den USA wird man wohl höchstens Kategorie zwei erwarten dürfen, wenn man bedenkt, welchen Ruf Marihuana in der breiten Öffentlichkeit hat."

    Oakland, am östlichen Ufer der Bucht von San Francisco. Ein Industriegebiet am Rand der Stadt. Hinter einer Reihe von Bäumen verbirgt sich ein einstöckiges, braunes Gebäude.

    Auf dem Parkplatz davor herrscht reges Kommen und Gehen. Menschen mit braunen Papiertüten in der Hand steigen in ihre Fahrzeuge. Das "Harborside Health Center" ist eine von vier Verkaufsstellen für medizinisches Marihuana in Oakland. Steve DeAngelo leitet hier die Geschäfte.

    "Wir stehen hier am Vordereingang des Harborside Health Center. Alle Patienten müssen hier durch einen Metalldetektor hindurch, wie am Flughafen. Denn wir sind hier in Oakland, Kalifornien. In dieser Stadt gibt es eine ganze Menge Schusswaffen. Und wir wollen nicht, dass irgendjemand auch nur eine davon hier herein bringt",

    sagt der Geschäftsführer, der mit seinen beiden fein geflochtenen Zöpfen und seinem Pork Pie Hut so gar nicht wie ein Geschäftsmann aussieht – eher wie ein Jazzmusiker. Der Empfangsraum der Marihuana-Apotheke ähnelt aber keinem Musikclub, sondern eher einer Bankfiliale. Im Verkaufssaal stehen acht Glasvitrinen auf einem knapp 20 Meter langen Tresen. In Schälchen die getrockneten Hanfblätter, die sich nicht nur im Gehalt des Hauptwirkstoffes THC unterscheiden, sondern auch in den anderen Inhaltsstoffen – und damit im Aroma. Super Silver Haze, Purple Princess und East Coast Sour Diesel sind nur einige der Namen der Cannabis-Zubereitungen.

    Steve DeAngelo legt seinen Daumen auf einen Fingerabdruck-Scanner und öffnet damit die Tür zum nicht-öffentlichen Trakt der Marihuana-Apotheke. Hier sitzt die Verwaltung. Es gibt eine Sicherheitszentrale, in der die Bilder der Überwachungskameras zusammen laufen, und ein kleines Labor. In einem anderen Raum sitzen vier Mitarbeiter mit Handschuhen und Kopftüchern.

    "In diesem Raum verarbeiten wir unsere Produkte. Dort an den Stahltischen verpacken unsere Mitarbeiter die Medizin. Auf jede einzelne Portion, die bei uns über die Theke geht, kommt ein Strichcode, damit wir den Weg sorgfältig nachverfolgen können."

    Nebenan in einem künstlich beleuchteten Raum quellen die Regale von jungen Hanfpflanzen förmlich über. Ein würziger Geruch liegt in der Luft. Das ist die Pflanzschule, bis zu 50 verschiedene Sorten Hanf werden hier kultiviert.

    "Mit Cannabis ist es wie mit Wein, bei dem es ja auch verschiedene Rebsorten gibt. Doch statt Burgunder oder Merlot heißen sie hier Grapefruit oder Grandaddy Purple. Die Sorten unterscheiden sich leicht in ihrer medizinischen und psychoaktiven Wirkung. Deshalb wollen wir hier so viele Varietäten wie möglich sammeln, damit jeder Patient etwas Passendes findet."

    Dann geht es weiter, den zentralen, fensterlosen Gang hinab. Tief im Inneren des Gebäudes liegt der am stärksten gesicherte Bereich: hinter einer schweren Stahltür die Tresorkammer.

    Einige schwere Panzerschränke bergen das eingenommene Bargeld und noch unverarbeitetes Marihuana. Rechts an der Wand lagern auf langen Regalen die fertig verpackten Produkte. Nicht nur Marihuana und Haschisch, das Harz der Pflanze, sondern auch andere Zubereitungen: Pillen, Tinkturen, Sprays, Tees und sogar Hautsalben.

    "Welche Wirkung Cannabis entfaltet, hängt davon ab, in welcher Form ich es zu mir nehme. Wenn zum Beispiel ein Patient zu mir käme, der wegen Schmerzen unter Schlaflosigkeit leidet, dann würde ich ihm wohl eine dieser Kapseln hier empfehlen. Sie enthalten gemahlenen Cannabis in Öl. Wenn der Patient eine davon nimmt, dann dauert es 45 Minuten, bis er die Wirkung verspürt. Die wird dann aber auch über sechs bis acht Stunden lang anhalten – genug für eine erholsame Nacht."

    Eine solche Kapsel wäre aber keine angemessene Arznei für jemanden, der unter morgendlicher Übelkeit leidet. Die Wirkung einer Kapsel würde zu spät einsetzen und sich über den ganzen Arbeitstag erstrecken. Steve DeAngelo empfiehlt in einem solchen Fall ein Spray.

    "Es genügt, dieses Mittel ein paar Mal unter die Zunge zu sprühen. Die Medizin muss nicht über das Verdauungssystem aufgenommen werden und wirkt daher bereits nach zehn Minuten. Nach 90 Minuten lässt der Effekt aber schon wieder nach. Der Patient kann also seine Übelkeit unter Kontrolle bringen und dann mit klarem Kopf an die Arbeit gehen."

    Wissenschaftliche Studien, auch zu den verschiedenen Formen, in denen die Droge konsumiert werden kann, sind noch immer Mangelware. Kritiker des medizinischen Marihuana äußern etwa die Sorge, dass der Rauch aus den Joints oder den Wasserpfeifen die Atemwege schädigen könnte.


    San Francisco General Hospital. In einem der alten Backsteingebäude sitzt der Mediziner Donald Abrams in seinem winzigen Büro. Der Professor des Zentrums für medizinische Cannabisforschung der Universität von Kalifornien hat sich mit einem Gerät beschäftigt, das sich Vaporisator nennt, also Verdampfer.

    "Im Gegensatz zu einer Zigarette, bei der die Verbrennungsrückstände eingeatmet werden, erhitzt der Vaporisator bloß den Cannabis. Die Wirkstoffe verdampfen dabei unterhalb der Verbrennungstemperatur. Und diese Dämpfe werden in einem Beutel gesammelt, aus dem der Patient sie anschließend einatmet."

    Die Vorteile liegen auf der Hand: Der Patient atmet weniger schädliche Stoffe ein, die ansonsten bei der Verbrennung entstehen würden, wie etwa Staub- und Aschepartikel oder möglicherweise krebserregende Stoffe. Donald Abrams und seine Mitarbeiter wollten aber auf Nummer sicher gehen und überprüften diese These in einer klinischen Studie an gesunden Probanden, die regelmäßig Marihuana konsumierten. Über einen Zeitraum von sechs Tagen erhielt jeder Teilnehmer täglich eine halbe Marihuana-Zigarette. In einer Gruppe wurde sie geraucht, in einer zweiten wurden die Dämpfe mithilfe des Vaporisators inhaliert.

    "Die physiologischen Effekte, also wie high die Patienten waren, unterschieden sich nicht. Auch nicht die Blutspiegel des THC. Allerdings: Die Probanden, die das Marihuana geraucht hatten, hatten einen starken Anstieg an Kohlenmonoxid im Blut. Bei denjenigen, die die Dämpfe inhaliert hatten, war das nicht der Fall. Für uns sieht es also so aus, als sei das Einatmen der Dämpfe mit dem Vaporisator die sicherere Methode. Und es war auch so, dass die Studienteilnehmer sie bevorzugt haben."

    Noch ungefährlicher wäre es natürlich, Cannabis-Medikamente zu verschreiben, welche die reinen Wirkstoffe der Pflanze enthalten. Das ist vor allem Delta-9-Tetrahydrocannabinol, meist einfach nur THC genannt. Vor allem dieser Stoff ist für die berauschende Wirkung und wohl auch für die meisten medizinischen Wirkungen des Krauts verantwortlich. Und tatsächlich gibt es in den USA ein Medikament, das ein im Chemielabor hergestelltes THC enthält, Dronabinol. Auch in Deutschland können Patienten dieses Mittel nutzen, im Moment bezahlen sie es noch aus eigener Tasche. Doch die Situation könnte sich zumindest für einige Patienten in absehbarer Zeit ändern, sagt Mechthild Dyckmans, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung.

    "Wir haben gesehen, dass es Menschen gibt, denen dieses Arzneimittel helfen kann. Und dann ist die Entscheidung der Bundesregierung, das auch eben zu ermöglichen."

    In diesem Jahr hat ein Expertengremium vorgeschlagen, die Stellung von Cannabis-Medikamenten im deutschen Betäubungsmittelrecht zu ändern. Das würde den Weg dafür frei machen, dass ein Medikament mit Hanf-Extrakten in Deutschland zugelassen werden könnte. Die Krankenkassen müssten dann die Kosten für eine Behandlung übernehmen. Eine Entscheidung darüber dürfte im kommenden Jahr fallen.

    "Die Bundesregierung hat ja einen Referentenentwurf zur 25. Betäubungsmittelrechtsänderungsverordnung vorgelegt, wo diese Veränderung vorgenommen werden soll, womit es dann möglich wird, dass dieses Fertigarzneimittel zugelassen werden kann. Und es ist ja eben auch so, dass dieses Fertigarzneimittel in Großbritannien und in Spanien schon zugelassen ist. Und insofern muss dann auch die Möglichkeit bestehen, dass auch in Deutschland Patienten davon profitieren."

    Solche Fertigarzneimittel enthalten nur einen oder zwei Wirkstoffe aus der Hanfpflanze – von insgesamt gut 40 verschiedenen aktiven Substanzen, von gut 40 Cannabinoiden. Aktivisten für medizinisches Marihuana in den USA lehnen diese Medikamente daher eher ab. So auch David Goldman, der ehemalige Lehrer, der seine Kopfschmerzen mit Marihuana behandelt und mittlerweile die Organisation "Americans for Safe Access" als Patientenberater unterstützt. Arzneimittel, die nur das künstliche THC Dronabinol enthalten, seien von den amerikanischen Patienten nicht angenommen worden, erklärt er.

    "Wir fordern, dass wir alle Cannabinoide nutzen dürfen. Patienten, die ein Dronabinol-Medikament ausprobiert haben, mussten feststellen, dass es nicht so gut wirkt wie gerauchter Cannabis. Wir denken, dass es nicht genügt, einfach nur THC in einen Menschen hineinzupumpen. Man sollte das ganze Spektrum der Cannabinoide verabreichen, denn sie wirken gemeinsam miteinander. Nehmen wir zum Beispiel einen weiteren wichtigen Inhaltsstoff, das Cannabidiol, CBD. Es scheint so, als könne es die Wirkung von THC modulieren. Es wirkt eher beruhigend statt anregend. Das ist von Vorteil für solche Patienten, die ihre Stimmung ein wenig aufhellen wollen – aber nicht so sehr, dass sie überhaupt nicht mehr davon runterkommen."

    Die meisten Cannabis-Sorten, die für den Drogenmarkt gezüchtet wurden, sind reich an dem berauschenden THC, enthalten aber nur wenig CBD, das ein wenig wie eine THC-Bremse wirkt. Für medizinische Zwecke bieten sich vielleicht ganz andere Züchtungen an, erklärt der Patienten-Berater.

    "Uns wird langsam klar, wie viele verschiedene Sorten von Cannabis es gibt, die ganzen Züchtungen mit eingerechnet, müssen das Tausende sein. Und einige davon eignen sich besonders gut für bestimmte Krankheiten und Patienten. Zum Beispiel gibt es jetzt eine kultivierte Form, die wenig THC enthält, dafür aber deutlich mehr CBD als sonst. Wir haben Grund zur Annahme, dass die Sorte sehr gut wirkt gegen Angstzustände, Schmerzen und Entzündungen – ohne dass die Patienten davon berauscht werden. Denn gerade ältere Patienten möchten das oft nicht. Sie befürchten, dass sie ihre Koordination verlieren und stürzen. Oder sie mögen einfach dieses Gefühl nicht. Wir denken, dass Züchtungen mit einem hohen CBD-Gehalt gerade solchen Patienten helfen könnten."

    Allerdings gilt auch hier wieder: Die Wirksamkeit und die Nebenwirkungen dieser neuen Cannabis-Sorten müssen noch durch medizinische Studien näher untersucht werden. Solche neuen Varietäten sind für die Forschung jedoch nicht zugelassen. Manche Wissenschaftler haben daher einen anderen Weg eingeschlagen: Sie untersuchen auf molekularer Ebene, wie die Inhaltsstoffe der Hanfpflanzen den menschlichen Organismus beeinflussen. Mitte der 1990er-Jahre hatten Grundlagenforscher entdeckt, welche Molekül-Schalter das THC in unserem Körper betätigt, erläutert Igor Grant vom Zentrum für medizinische Cannabis-Forschung in San Diego:

    "Wir haben schrittweise erkannt, dass unser Körper über ein internes System verfügt, das mit Substanzen arbeitet, die den Cannabinoiden wie THC ähneln. Sie übertragen Signale zwischen verschiedenen Teilen des Körpers. Im Gehirn gibt es Netzwerke, die darauf aufbauen. Wir nennen das das Endocannabinoid-System. Bisher wurden mindestens zwei Rezeptoren dafür entdeckt: Andockstellen für THC oder körpereigene THC-ähnliche Substanzen. Und wir lernen immer mehr hinzu, wozu dieses System aus Rezeptoren und Netzwerken dient."

    Zum Beispiel beeinflusst das System die Koordination von Bewegungen, steuert unsere Aufmerksamkeit, Erregbarkeit, Gedächtnisbildung und den Appetit. Je mehr die Forscher über diese Zusammenhänge in Erfahrung bringen, desto näher kommen sie möglicherweise auch neuen Wirkstoffen.

    "Die Marihuana-Forschung führt uns also zu Fragen, die eigentlich noch viel spannender sind: Wie können wir Moleküle entwerfen, die das Endocannabinoid-System direkt beeinflussen, es aktivieren oder blockieren – um bestimmte therapeutische Ziele zu erreichen? In der Vergangenheit hat es das ja schon oft gegeben, dass Wirkstoffe zunächst aus Pflanzen gewonnen wurden, bevor aus ihnen ein richtiges Medikament wurde. Zum Beispiel Chinin gegen Malaria. Ich denke, mit den Cannabinoiden sieht es ähnlich aus."

    Für die Zukunft der Cannabis-Forschung ist Igor Grant optimistisch. Denn nach einer langen Zeit des Stillstandes sei jetzt wieder Bewegung in dieses Fachgebiet gekommen.

    "Die Grundlagenforschung hat stark zugelegt, seitdem das menschliche Endocannabinoid-System entdeckt worden ist. Was die klinischen Studien angeht: Ich glaube, viele von ihnen sind durch die Berichte von Patienten angeregt worden – weil Marihuana ihnen wirklich geholfen hat. In den Vereinigten Staaten sind viele Menschen der Meinung, dass das eine potenziell nützliche Medizin ist. Warum sollte man sie den Patienten vorenthalten? Und hier in Kalifornien haben wir nun mit Proposition 19 die Abstimmung darüber, ob man es für den persönlichen Gebrauch – und damit auch für den medizinischen – legalisieren soll. Warten wir mal ab, wie das ausgeht."