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Reaktion aus der EU
EU-Parlamentspräsident Schulz: "Mich erleichtert das Ergebnis"

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz äußerte sich im Deutschlandfunk erfreut über die Ablehnung des Unabhängigkeitsreferendums in Schottland. Schulz sprach von einem anerkannten demokratischen Prozess innerhalb Großbritanniens. Allerdings müsse sich die EU Gedanken machen, wie sie künftig mit Regionen umgehe, die sich von EU-Ländern abspalten wollten.

Martin Schultz im Gespräch mit Bettina Klein | 19.09.2014
    Martin Schulz gestikuliert, während er spricht.
    Martin Schulz, EU-Parlamentspräsident (Alessandro Di Marco, dpa picture-alliance)
    Schulz sieht es nicht als Aufgabe der Europäischen Union an, sich in innerstaatliche Prozesse wie das Unabhängigkeitsreferendum in Schottland einzumischen. Die EU habe bereits das Problem, die 28 Staaten zusammenzuhalten. Von ihren Organen auch zu verlangen, dass sie innerstaatliche Probleme von Autonomiebestrebungen von Brüssel aus löse, "das halte ich für nicht möglich".
    Die EU muss sich laut dem SPD-Politiker Schulz aber auch Gedanken machen, welche Prozeduren sie habe, wenn ein neuer Staat entstehe. Es gebe Instrumente für den Ein- und Austritt von Ländern, da müsse es auch welche geben, um Autonomiebestrebungen zu ermöglichen. "Da müssen wir noch'n bisschen Gehirnschmalz reinstecken", sagte Schulz im Deutschlandfunk.
    "Vereinigtes Königreich in vereintem Europa"
    Dass neue Staaten durch Abspaltungen künftig per Mehrheitsentscheidung in die EU aufgenommen werden statt einstimmig, hält der EU-Parlamentspräsident nicht für sinnvoll. Er rate dazu, dieses Fass nicht aufzumachen, sagte Schulz. Dann würde mehr gespalten als vereint.
    Angesprochen auf die angekündigte Abstimmung Großbritanniens über eine EU-Mitgliedschaft sagte Schulz, das nächste Mal, wenn er Premierminister David Cameron treffe, werde er ihm sagen: "Ein Vereinigtes Königreich in einem vereinten Europa finde ich gut."

    Das Interview in voller Länge:

    Bettina Klein: Mitgehört hat am Telefon der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz von der SPD. Schönen guten Morgen, Herr Schulz.
    Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Klein.
    Klein: Bei Ihnen auch durchweg Erleichterung und Freude?
    Schulz: Ich bin mit dem Ergebnis zufrieden - aus zwei Gründen. Ich glaube, dass es ein innerstaatlich demokratischer Prozess in Großbritannien war, wo ja das Referendum anerkannt wurde durch die Regierung in London. Das ist, wie ja auch Herr Münchenberg richtig gesagt hat, ein innerstaatlicher Prozess Großbritanniens gewesen. Dass der so abgelaufen ist, das befriedigt mich, und ich gebe zu: Mich erleichtert das Ergebnis.
    Klein: Es gab ja offenbar keinen Plan B in Europa. Die Rechnung scheint aufgegangen zu sein. Aber war es eventuell doch ein wenig fahrlässig, sich nicht auf eine mögliche Abspaltung Schottlands einzurichten?
    Schulz: Wir hatten nicht mal einen Plan A. Deshalb kann man auch gar keinen Plan B haben, weil die Voraussetzungen zunächst mal im innerstaatlichen Recht der Mitgliedsstaaten liegen, also nicht im europäischen Recht, und B daraus resultiert, in den Verträgen, die diese selbstständigen Staaten miteinander geschlossen haben, den EU-Verträgen, ist es nicht vorgesehen, was passiert, wenn sich ein Teil eines Mitgliedsstaates abspaltet und selbstständig macht. Das ist nicht im Vertrag vorgesehen. Die Interpretation bisher war, es entsteht dann ein neuer Staat, der der EU beitreten kann und die notwendigen Prozeduren dafür über sich ergehen lassen muss und alle Kriterien erfüllen muss. Ein Beispiel: Würde Schottland selbstständig geworden sein, treten sie dem Euro bei? Das ist eine Frage, die im Vertrag nicht vorgesehen ist. Wir werden aber sicher darüber diskutieren müssen, wie man im Fall der Fälle damit umgeht.
    Klein: Es ist nicht vorgesehen, sagen Sie selber. Das ist ja möglicherweise gerade das Problem, denn das Thema, einzelne Regionen möchten sich gerne abspalten, unabhängig werden, ist ja mit dem gestrigen Tag und dem heutigen Morgen nicht vom Tisch. Wir haben es mehrfach angesprochen: Auch Katalonien, Flandern, Norditalien, dort regen sich solche Bestrebungen. Wie konkret wird sich die EU denn darauf jetzt vorbereiten?
    "Da müssen wir noch ein bisschen Gehirnschmalz reinstecken"
    Schulz: Die EU hat das Problem, Frau Klein, dass sie zunächst einmal die 28 souveränen Staaten zusammenhalten muss. Wir beide haben ja schon oft miteinander darüber diskutiert, wie schwierig das ist. Von der Europäischen Union, von den Organen der EU zu verlangen, jetzt innerstaatliche Probleme der Regionalpolitik, der Autonomiebestrebungen, der ethnischen Differenzen, die es gibt, von Brüssel aus zu lösen - sagen wir es mal ganz offen -, das halte ich für nicht möglich. Allerdings muss man sich überlegen, welche Prozeduren haben wir, wenn ein neuer Staat entsteht? Ich verweise darauf: Wir haben die Möglichkeit, dass Länder austreten und beitreten können. Ich würde dann darauf verweisen, dass wir die Instrumente zum Beitritt so überprüfen, ob die dann für die neu entstandenen Staaten greifen.
    Klein: Das heißt, es könnte sich auch um vertragliche Änderungen handeln, die sich da durchschlagen?
    Schulz: Nein! Man muss zunächst mal schauen, ob man mit den Vertragsgegenständen, die wir haben, auskommt. Sehen Sie, wenn sich Schottland heute für autonom, für souverän erklärt hätte, dann hätten alle anderen 28 jetzigen Mitgliedsstaaten inklusive England, das ja dann übrig bleibt, dem Beitritt Schottlands zustimmen müssen. Ich weiß nicht, ob das so einfach gegangen wäre. Da müssen wir noch ein bisschen Gehirnschmalz reinstecken.
    Klein: Das heißt, es könnte ja dann theoretisch darauf hinauslaufen, dass man sagt, da würde eine Mehrheitsentscheidung genügen?
    Schulz: Das geht nicht. In der Europäischen Union können Sie nur Erweiterungen vornehmen, wenn alle zustimmen, und ich rate dazu, das Fass nicht aufzumachen. Wenn Sie die Erweiterung der Europäischen Union per Mehrheitsentscheidung durchführen wollen, dann spalten Sie sie eher, als dass Sie sie vereinen.
    "Damit beschäftigen, warum gibt es diese Abspaltungstendenzen"
    Klein: Aber wir sprechen hier auch eher über einen Sonderfall der Erweiterung, was Fachleute auch Binnenerweiterung oder Innenerweiterung nennen. Das heißt, die durch eine Art Zellteilung entsteht, weil Staaten sich abspalten oder Regionen sich abspalten. Müsste man denn diesen Fall doch noch mal getrennt betrachten und als Sonderfall vielleicht auch vertraglich regeln?
    Schulz: Ja, ich kenne diese Experten. Die haben mir allerdings auf meine Gegenfrage nie irgendeine Antwort geben können: Könnt ihr mir helfen, die zentrifugalen Kräfte, die wir jetzt in der Europäischen Union ohne eure Zellteilung haben, zusammenzuhalten? Darauf haben sie selten eine Antwort. Wir müssen uns zum Beispiel damit beschäftigen, warum gibt es eigentlich diese Abspaltungstendenzen. Die gibt es häufig, weil es soziale Ungleichgewichte gibt. Die gibt es häufig, weil es einen Reichtums-Separatismus gibt, wo reiche Regionen sagen, wir wollen nicht in Solidarleistung für andere Regionen eintreten. Ich bin dringend dafür, dass wir über Ursachen reden, und das ist vor allen Dingen in Europa nach wie vor ein anderes Problem: Massenarbeitslosigkeit vor allen Dingen für junge Leute, das Abhängen der ländlichen Räume von den urbanen Zentren und zum dritten das soziale Ungleichgewicht bei den Einkommen. Darüber will ich gerne reden. Dann kriegen Sie die Union auch viel leichter zusammengehalten.
    Klein: Die Optimisten verweisen ja immer auf die Formulierung „Europa der Regionen". Das haben wir doch immer alle gerne haben wollen. Was spricht denn dagegen Ihrer Meinung nach?
    Schulz: Europa der Regionen heißt ja nicht Europa der Vervielfältigung der souveränen Staaten. Das sind zwei unterschiedliche Konzepte. Das Europa der Regionen heißt die Förderung regionaler Eigenheiten und vor allen Dingen die ökonomische Gleichbehandlung der Regionen. Das Erfolgsrezept des deutschen Föderalismus, Frau Klein, besteht ja darin, dass wir im Grundgesetz geregelt haben, dass alle deutschen Regionen gleichbehandelt werden müssen. Wenn wir vom Europa der Regionen sprechen, möchte ich nicht, dass wir Regionen haben, in denen es 60 Prozent arbeitslose Jugendliche gibt, und andere, in denen die jungen Leute sich die Ausbildungsstellen aussuchen können. Das ist das Europa der Regionen, das ich mir wünsche, regionale Gleichgewichte. Aber das muss nicht darüber gehen, dass wir die souveränen Staaten auflösen.
    "Mehr soziale Gerechtigkeit"
    Klein: Wie sehr sind Sie denn besorgt, Herr Schulz, darüber, dass die Zentrifugalkräfte offenbar immer noch relativ stark sind? Wir haben jetzt heute keine Abspaltung gesehen, aber das Grummeln bleibt ja erhalten. Wir haben über einige Staaten gesprochen. Welche politische Antwort kann und muss denn die Europäische Union darauf möglicherweise finden, um genau das zu verhindern, was Sie gerade auch beschrieben haben?
    Schulz: Zentrifugalkräfte sind eben nicht nur separatistische oder Autonomiebewegungen. Zentrifugalkräfte sind zum Beispiel auch stark anwachsende populistische rechts- oder linksextreme Tendenzen in Europa, die ihren Nährboden finden in dem gerade von mir erwähnten sozialen Ungleichgewicht. Wir erleben zum ersten Mal, ich jedenfalls in meiner Lebenszeit und Sie ja auch in Ihrer Lebenszeit, dass an den Grenzen Europas Krieg herrscht. Ich glaube, das sind zentrifugale Kräfte; diejenigen, die das gut finden, oder diejenigen, die unser Wertemodell, die Gleichberechtigung, die wir innerhalb der Gesellschaft zwischen unterschiedlichen Gruppen, zwischen den Geschlechtern erreicht haben, infrage stellen wollen, weil sie unser Gesellschafts-, unser Demokratiemodell für dekadent halten, zum Beispiel Fundamentalisten, die wir auch im Inneren unserer Gesellschaft haben, die bedrohen uns doch deutlich mehr als die Debatte um Regionalisierung, und die Ursache dafür ist sehr häufig sozialer Natur. Deshalb kämpfe ich nach wie vor dafür, dass wir mehr soziale Gerechtigkeit zwischen Menschen und zwischen Staaten und auch zwischen Regionen innerhalb von Staaten haben. Ich glaube, dann lösen sich viele dieser Probleme auf.
    Klein: Herr Schulz, in der Tat: Wir haben in den vergangenen Wochen hier mehrfach über die Ukraine-Krise und die notwendigen Konsequenzen und Reaktionen aufseiten der Europäischen Union gesprochen. Wir haben heute zwar einen anderen Schwerpunkt in unserem Thema, aber Sie haben den Bogen jetzt gerade noch mal geschlagen zu diesen Ereignissen, die uns ja auch sehr, sehr lange beschäftigt haben und sicher auch noch weiter beschäftigen werden. Vielleicht noch mal abschließend mit Blick auf Länder wie Spanien, die Niederlande und Italien: Ist denn aus Ihrer Sicht der Domino-Effekt, der ja auch von vielen in der EU befürchtet wurde, mit dem heutigen Tage gebannt? Ist das eher ein Signal, Ihrer Meinung nach, zu sagen, das hat eigentlich am Ende keinen Sinn und diese Abspaltungsbestrebungen sind am Ende doch nicht von Erfolg gekrönt?
    Schulz: Ich glaube, dass die Beantwortung dieser Frage ganz stark davon abhängt, was jetzt geschieht. Alex Salmond, der Führer der schottischen Nationalpartei, der Premierminister in Schottland, der erste Minister, wie er da heißt, hat heute erklärt, dass man verhandeln will. Ich glaube, wenn man jetzt zu einer vernünftigen kulturellen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Selbstbestimmung in Schottland kommt, aber gleichzeitig unter dem Dach des Vereinigten Königreiches bleibt, dann kann das ein Modell werden, das auch zur Befriedung in anderen Regionen beitragen kann.
    Klein: Und Sie sind auch zufrieden darüber, dass ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union jetzt nicht wahrscheinlicher geworden ist, wie man das ja im anderen Falle auch befürchtet hätte?
    Schulz: Wenn ich David Cameron beim nächsten Mal treffe, werde ich ihm sagen, ein Vereinigtes Königreich in einem vereinten Europa, das finde ich gut.
    Klein: Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Danke Ihnen für das Gespräch, Herr Schulz.
    Schulz: Danke, Frau Klein.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.