Zuckmayer räumt gegenüber den Auftraggebern ein: Natürlich gäbe es "Überreste von Nazi-Doktrinen und Propaganda", die "die Allierten etwa für das momentane Elend in Deutschland allein verantwortlich machten", sie seien politisch jedoch nicht organisiert, geschweige denn aktiv.
Das mag in ein paar Jahren anders sein – wenn wir jetzt versagen.
Wir, die Amerikaner. Sein Vorwurf lautet, die amerikanischen Besatzer beschränkten sich auf reine "Verwaltungskommunikation". Wer von ihnen wüsste schon, wie es in einem "durchschnittlichen Haus mit den übervollen Wohnungen" aussähe, wie "in einem Massenquartier in einem Jugendbunker", wie "in den Waschräumen eines Bahnhofs". Oder gar in den Wohnungsämtern, den Behörden für Arbeitsgenehmigungen, für Lebensmittelkarten. Dort ständen die Menschen stundenlang, manchmal tagelang an.
Was wir den Deutschen heute antun, werden wir uns selbst antun. Kultureller Wiederaufbau in Deutschland und Reorientierung ist keine Angelegenheit von 'Wohltätigkeit', sondern von Vernunft und Selbsterhaltung. Hier beginnt das, was man den Komplex einer 'zivilisierten Welt' nennen könnte.
Mehr als alles andere erschreckt ihn Bayern. "Viele Menschen schmutzig, finster und bitter in München", notiert er, obwohl die Stadt längst nicht so zerstört sei wie andere deutsche Städte. Und wenn "einige Beamte in den Behörden in Deutschland noch immer Nazis" seien, die in Bayern seien "offen reaktionär". Da dann KZ-ler sein, sei eine "schlechte Empfehlung". Schon deshalb, weil "normale Kriminelle" sich gerne als NS-Opfer ausgäben, um Vorteile zu ergattern. Solange das Problem der Displaced Persons aus den ehemaligen KZs nicht international gelöst sei, gäbe es keine Möglichkeit, "den Antisemitismus in Deutschland auszurotten". Manche D.P.-Lager hätten sich zu geheimen Lagern und Handelszentren des Schwarzen Markts entwickelt. Viele KZ-Rückkehrer könnten sich nur so über Wasser halten. Die Figur des "Billigen Jakobs".
Die Leute sagen: Die werden an unserem Hunger reich. Und sie nennen sie: "die Juden!"
In Frankfurt freut sich Zuckmayer, vom Hotelportier als Autor des "Hauptmann von Köpenick" begrüßt zu werden. Im fast unzerstörten Heidelberg wird das Stück gerade gespielt.
Die Deutschen hungern nach Kultur und Bildung, obwohl sie wirklich und ganz real hungrig sind. Die Theater sind überall voll, selbst wenn sie schlecht geheizt sind. Wir wissen, dass wir während des vergangenen Jahrzehnts unwissend und dumm gehalten wurden, sagten viele zu mir, lasst uns das jetzt um Gottes willen wettmachen.
Soweit der offizielle Autor Zuckmayer. Privat im Brief an seine Frau bricht die ganze Erschütterung durch. Heute sei er erst acht Tage zurück und zum ersten Mal halbwegs imstande, ein Briefchen zusammenzukriegen, schreibt er ihr aus New York. Es sei doch mehr gewesen, als ein Mensch eigentlich aushalten könne. Aber er hoffe für sich und Pare Lorentz, seinen Vorgesetzten, dass seine beiden Reports wie eine Bombe einschlagen würden:
Und entweder den sofortigen "Abschied" von Pare und mir zur Folge haben, oder aber die sofortige Einsetzung eines neuen Stabs für drüben, in dem ich dann eine entscheidende Stellung übernehmen werde.
Ungelesen wandert sein Bericht in den Papierkorb. In Amerika hat sich der Wind gedreht. Die Truman-Doktrin vom 12. März markiert den Beginn des Kalten Kriegs und der McCarthy-Ära. Das zieht auch eine neue Deutschlandpolitik nach sich. Jetzt ist "ein stabiles und produktives Deutschland" gefragt. Nur vier Tage nach dem ersten Brief erfährt Zuckmayers Frau:
Pare ist investigiert worden, das heißt, wie ein criminal verhört usw., als 'subversives element', Roter, Communistenfreund (ausgerechnet). Es gibt jenes fatale und verhängnisvolle disloyalty Gesetz, so etwas wie es unter Hitler das 'Heimtückegesetz' war, jeder Staatsangestellte kann plötzlich auf Grund irgendwelcher Denunziationen investigiert, verdächtigt, beurlaubt, entlassen und sogar bestraft werden, es ist da eine reguläre witch hunt (Hexenjagd) los.
Hätte Zuckmayer der Veröffentlichung des in mehrfacher Hinsicht fehlgelaufenen "Deutschlandberichts" zugestimmt? Ohne Korrekturen? Man möchte es bezweifeln - trotz des großzügig aufbereiteten wissenschaftlichen Apparats, der übrigens mehr Text aufbietet als der eigentliche Text selbst. Das kann man freilich auch kritisch sehen.
Carl Zuckmayer: "Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika". Er wird herausgegeben von Gunther Nickel, Johanna Schrön und Hans Wagener. Der Band hat 307 Seiten, kostet 28,-- Euro und ist erschienen im Göttinger Wallstein Verlag.