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Reaktionär oder verkappter Kommunist?

Carl Zuckmayer, der Autor des Hauptmanns von Köpenick, stieß bei seinen Zeitgenossen auf gnadenlose Ablehnung wie auf überschwängliche Bewunderung. Den einen galt der 1939 in die USA emigrierte Dramatiker als hoffnungsloser Reaktionär, andere wollten in dem Erfolgsschriftsteller, der 1946 mit des "Teufels General" einen gewichtigen und gefeierten Beitrag zur Verharmlosung des Nationalsozialismus lieferte, gar einen verkappten Kommunisten sehen. Vor zwei Jahren hat der Göttinger Wallstein Verlag unter dem Titel "Geheimreport" erstmals jene Dossiers über Künstler und Intellektuelle in Nazi Deutschland veröffentlicht, die Zuckmayer für den amerikanischen Geheimdienst angelegt hatte, nun legt der Verlag nach und bringt einen bislang nicht veröffentlichten "Deutschlandbericht" Zuckmayers vor, in dem Erstaunliches und überaus Versöhnliches über Deutschland im Winter 46/ 47 zu lesen ist.

Von Ariane Thomalla |
    Von November 1946 bis März 1947, im eiskalten zweiten Nachkriegswinter, reiste ein sehr begabter deutscher Dramatiker, seit kurzem amerikanischer Staatsbürger, durch das besetzte Deutschland. Genauer: durch die amerikanische Besatzungszone, also Hessen, Württemberg-Baden, Bayern, Berlin. Einer, der erlebte Begegnungen in knappe Dialoge zu fassen weiß, doch - seine Feder ist gebremst. Die Reise ist eine Auftragsreise. Und er hält sich dran. Der amerikanische Kulturoffizier in Zivil, Carl Zuckmayer, ist sich nach sieben Jahren Exil in den Staaten seiner Identität nicht sicher. Zehn Jahre später wird er Amerika den Rücken kehren und zurück nach Europa gehen, allerdings in die Schweiz, nicht nach Deutschland. Deutschland hatte er verlassen müssen, weil seine Mutter Jüdin war. Was er somit im März 47 über Deutschland schreibt, ist Auftragsbericht, ein Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten. Tendenziös auch in dem Sinn, dass Zuckmayer als leidenschaftlicher Gegner der Kollektivschuld-These die noch unter dem Fraternisierungsverbot und im Entnazifizierungseifer stehende Besatzungsmacht umstimmen will. Deshalb fährt er in seinen beiden Texten viele quasi aus dem Kollektiv herausgezogene Einzelschicksale auf. Vom Hitlerjungen, der sich im Nachhinein als "Kanonenfutter" der Nazibonzen empfindet, vom aus dem Lager fast zu Tode geschunden zurückgekommenen Verleger Peter Suhrkamp bis zu den Witwen der Widerständler des 20. Juli, Freya von Moltke und Marion Yorck von Wartenburg. Von jugendlichen Schwarzmarkthändlern bis zu Kindern, die sich prostituieren, stehlen und gänzlich zu verwahrlosen drohen. Der Vater gefallen, die Mutter hat sich erhängt. Oft rührselige Detailstories, nicht ohne Pathos mit Blick auf die Wirkung jenseits des Ozeans verfasst. Die Deutschen im Elend und in der Kälte der Trümmer, in Hunger und Verzweiflung über die vielen Toten und Vermissten. Ein verwirrter alter Mann an einem U-Bahn-Schacht, dessen Sohn mit hundert anderen Hitlerjungen in den Wassern ertrank, die vom Wasserwerk hereinschossen, weil die Nazis während der letzten Kämpfe die Schächte für Panzersperren sprengten. Er habe nach oben auf die hundert leeren Fenster einer Ruine gezeigt, durch die die Wintersonne schien, und gesagt: "Viel Licht. Die Welt hat noch nie so hell ausgesehen." Hat da der Dramatiker an King Lear gedacht?

    Zuckmayer räumt gegenüber den Auftraggebern ein: Natürlich gäbe es "Überreste von Nazi-Doktrinen und Propaganda", die "die Allierten etwa für das momentane Elend in Deutschland allein verantwortlich machten", sie seien politisch jedoch nicht organisiert, geschweige denn aktiv.

    Das mag in ein paar Jahren anders sein – wenn wir jetzt versagen.

    Wir, die Amerikaner. Sein Vorwurf lautet, die amerikanischen Besatzer beschränkten sich auf reine "Verwaltungskommunikation". Wer von ihnen wüsste schon, wie es in einem "durchschnittlichen Haus mit den übervollen Wohnungen" aussähe, wie "in einem Massenquartier in einem Jugendbunker", wie "in den Waschräumen eines Bahnhofs". Oder gar in den Wohnungsämtern, den Behörden für Arbeitsgenehmigungen, für Lebensmittelkarten. Dort ständen die Menschen stundenlang, manchmal tagelang an.

    Was wir den Deutschen heute antun, werden wir uns selbst antun. Kultureller Wiederaufbau in Deutschland und Reorientierung ist keine Angelegenheit von 'Wohltätigkeit', sondern von Vernunft und Selbsterhaltung. Hier beginnt das, was man den Komplex einer 'zivilisierten Welt' nennen könnte.

    Mehr als alles andere erschreckt ihn Bayern. "Viele Menschen schmutzig, finster und bitter in München", notiert er, obwohl die Stadt längst nicht so zerstört sei wie andere deutsche Städte. Und wenn "einige Beamte in den Behörden in Deutschland noch immer Nazis" seien, die in Bayern seien "offen reaktionär". Da dann KZ-ler sein, sei eine "schlechte Empfehlung". Schon deshalb, weil "normale Kriminelle" sich gerne als NS-Opfer ausgäben, um Vorteile zu ergattern. Solange das Problem der Displaced Persons aus den ehemaligen KZs nicht international gelöst sei, gäbe es keine Möglichkeit, "den Antisemitismus in Deutschland auszurotten". Manche D.P.-Lager hätten sich zu geheimen Lagern und Handelszentren des Schwarzen Markts entwickelt. Viele KZ-Rückkehrer könnten sich nur so über Wasser halten. Die Figur des "Billigen Jakobs".

    Die Leute sagen: Die werden an unserem Hunger reich. Und sie nennen sie: "die Juden!"

    In Frankfurt freut sich Zuckmayer, vom Hotelportier als Autor des "Hauptmann von Köpenick" begrüßt zu werden. Im fast unzerstörten Heidelberg wird das Stück gerade gespielt.

    Die Deutschen hungern nach Kultur und Bildung, obwohl sie wirklich und ganz real hungrig sind. Die Theater sind überall voll, selbst wenn sie schlecht geheizt sind. Wir wissen, dass wir während des vergangenen Jahrzehnts unwissend und dumm gehalten wurden, sagten viele zu mir, lasst uns das jetzt um Gottes willen wettmachen.

    Soweit der offizielle Autor Zuckmayer. Privat im Brief an seine Frau bricht die ganze Erschütterung durch. Heute sei er erst acht Tage zurück und zum ersten Mal halbwegs imstande, ein Briefchen zusammenzukriegen, schreibt er ihr aus New York. Es sei doch mehr gewesen, als ein Mensch eigentlich aushalten könne. Aber er hoffe für sich und Pare Lorentz, seinen Vorgesetzten, dass seine beiden Reports wie eine Bombe einschlagen würden:

    Und entweder den sofortigen "Abschied" von Pare und mir zur Folge haben, oder aber die sofortige Einsetzung eines neuen Stabs für drüben, in dem ich dann eine entscheidende Stellung übernehmen werde.

    Ungelesen wandert sein Bericht in den Papierkorb. In Amerika hat sich der Wind gedreht. Die Truman-Doktrin vom 12. März markiert den Beginn des Kalten Kriegs und der McCarthy-Ära. Das zieht auch eine neue Deutschlandpolitik nach sich. Jetzt ist "ein stabiles und produktives Deutschland" gefragt. Nur vier Tage nach dem ersten Brief erfährt Zuckmayers Frau:

    Pare ist investigiert worden, das heißt, wie ein criminal verhört usw., als 'subversives element', Roter, Communistenfreund (ausgerechnet). Es gibt jenes fatale und verhängnisvolle disloyalty Gesetz, so etwas wie es unter Hitler das 'Heimtückegesetz' war, jeder Staatsangestellte kann plötzlich auf Grund irgendwelcher Denunziationen investigiert, verdächtigt, beurlaubt, entlassen und sogar bestraft werden, es ist da eine reguläre witch hunt (Hexenjagd) los.

    Hätte Zuckmayer der Veröffentlichung des in mehrfacher Hinsicht fehlgelaufenen "Deutschlandberichts" zugestimmt? Ohne Korrekturen? Man möchte es bezweifeln - trotz des großzügig aufbereiteten wissenschaftlichen Apparats, der übrigens mehr Text aufbietet als der eigentliche Text selbst. Das kann man freilich auch kritisch sehen.

    Carl Zuckmayer: "Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika". Er wird herausgegeben von Gunther Nickel, Johanna Schrön und Hans Wagener. Der Band hat 307 Seiten, kostet 28,-- Euro und ist erschienen im Göttinger Wallstein Verlag.