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Reaktionen auf die Geiselnahme von Beslan

"Ich weiß nicht, was in diesen Tagen Russland mehr erschüttert hat – die Tötung der Kinder oder die damit verbundene offene Deklaration des Hasses", schreibt Viktor Jerofejew in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der 58jährige gehört zu den wichtigsten Schriftstellern Russlands. Jerofejew fährt fort: "Russland ist es nicht gewohnt, gehasst zu werden. Es findet an sich viele feminine Züge und gefällt sich selbst. Jedenfalls mögen es die Russen nicht, wenn man ihnen ins Gesicht spuckt. Und Bassajew hat das getan. Sein Spucken war eine Kriegserklärung".

Von Jochen Thies |
    Der Schriftsteller weiter: "Bassajes Spucken bedeutet für Russland den Beginn jenes dritten Weltkrieges, den die gesamte westliche Zivilisation mit Recht fürchtet und mit aller Kraft hinauszuschieben versucht oder gar nicht erst wahrhaben will. Ich bedaure, dass Beslan Bush in die Hände spielt, aber das ist nicht zu ändern. Russland ist aus verschiedenen Gründen eine Schwachstelle in der westlichen Zivilisation, vor allem aber ist es durchaus nicht davon überzeugt, dass es zu dieser Zivilisation eine wesentliche Beziehung hat. Äußerlich ja, den Westen benutzen – das natürlich! Aber im Innern sind wir anders. Keiner hat indessen große Lust, einen Blick in unser Inneres zu werfen".

    Jerofejew konstatiert: "Russland stellt für den internationalen Terrorismus ein leicht verwundbares Ziel dar. Beslan hat ein weiteres Mal gezeigt, dass Russland schwach ist. Schwach sind seine Geheimdienste, die Armee, die Regierung. Es glänzt nicht durch offensiven, an Initiative reichen Verstand. Die Dreistigkeit des Feindes versetzt Russland in eine Art Stupor. Es blickt mit nostalgischen Gefühlen zurück auf Stalins geschickten imperiale Schachzüge, auf seine freche Inbesitznahme halb Europas".

    Zur Rolle von Präsident Putin meint Jerofejw: "objektiv gesehen bildet er eine Brücke zwischen Russland und dem Westen. Da es weder eine reale politische Opposition noch eine Zivilgesellschaft gibt, muss der Präsident die Entscheidung treffen, auf wessen Seiten Russland in Zeiten des Krieges steht,...nach Beslan müssen die Russen wirklich den Kontakt zum Westen suchen".

    Der in Zürich lehrende Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers schreibt in der Süddeutschen Zeitung: "Die weiche Stelle der Gesellschaft im terroristischen Kalkül sind Kinder. Stärker als hier, bei den Kindern, kann man eine Gesellschaft kaum erschüttern. Angegriffen wurde nicht nur eine staatliche Schule, angegriffen wurde das Konzept der geschützten, unantastbaren und friedlichen Kindheit. Sie zu gewährleisten, ist die wesentliche Errungenschaft der modernen Erziehung, die in Beslan auf schockierende Weise in Frage gestellt wurde".

    Oelkers resümiert: "Wer über den Köpfen von zusammengepferchten Kindern Minen anbringt, wer ältere Kinder zwingt, an der Wand den Sprengstoff zu befestigen, der sie selbst töten soll, wer Kinder erschießt, fliehende, von hinten, verübt mehr als eine brutalen Akt des Terrors, nämlich einen Anschlag auf die Gesellschaft und ihre Erziehung. Es war ein Akt der Entzivilisierung, dessen Auswirkungen kaum abzuschätzen sind".

    Joachim Güntner berichtet in der Neuen Zürcher Zeitung von den Eindrücken, die er beim Gang durch die niedergebrannte Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar gesammelt hat. Sein Fazit: man hatte Glück im Unglück. Es hätte alles noch viel schlimmer kommen können. Die Politik, die sich bislang zierte, der weltberühmten Bibliothek die erforderlichen Mittel zu gewähren, zeigt sich nun spendabel. Joachim Güntner bemerkt daher zu recht: "Hier dürfte der Brand als Sanierungsbeschleuniger wirken".

    "Als schlimmsten Verlust bezeichnet Michael Knoche", der Direktor der Bibliothek, Güntner zufolge "die verbrannten Noten zu Goethes Singspiel "Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilen", vertont durch Anna Amalia und vermutlich von der Herzogin selbst notiert". Das es nicht noch schlimmer kam, ist den alten Baumeistern zuzuschreiben. Sie zogen eine so genannte Mann-an-Mann-Decke in das Gebäude ein, eine überaus solide Holzbalkenkonstruktion. Im Gegensatz zu modernen heutigen Stahlkonstruktionen, die bei Feuer nach zwei oder drei Stunden schmelzen, hielt die gute alte Holzdecke.

    Aus Dresden kommt derweilen eine neue gute Nachricht. Zur Neuentstehung des "Grünen Gewölbes" schreibt Ira Mazzoni in der Süddeutschen Zeitung: "Dresden leuchtet. Und dieses Leuchten geht von der alten Kunst aus, die Träume wahr werden lässt. Wer immer am Aufbau des Schlosses gezweifelt hat, wer immer die sentimentale geschichtssymbolische Neuinszenierung der Museen kritisiert hat – mit der Rückkehr der Kunst- und Schatzkammer in den Westflügel der Residenz geht das Konzept der Musealisierung auf. Es sind die vollständig erhaltenen Sammlungen der Wettiner, die dieses ehrgeizige Rekonstruktionsprojekt legitimieren. Und es sind Größe und Qualität des Schatzes, die eine Doppelung der Institution "Grünes Gewölbe" rechtfertigen".

    Dieter Bartetzko ergänzt in der Frankfurter Allgemeinen: "Ungestört entfaltet sich die Faszination der Kunstwerke. Erstmals allseitig anzusehen, gewinnen sie mit der intimen Nähe zum Betrachter auch die Magie zurück, die sie auf ihre einstigen Besitzer ausübten".

    Wenige Tage vor dem Auftritt der arabischen Welt bei der Frankfurter Buchmesse zeichnet Hassan Dawud, der Feuilletonchef der libanesischen Tageszeitung "Al Mustaqbal", in der Neuen Zürcher Zeitung ein düsteres Bild der Lage: "Es gibt kein zwingendes Bedürfnis mehr nach Büchern. Ein arabisches Buch aus einem bestimmten Land verlässt dieses Land praktisch nicht mehr und wandert jenseits seiner Grenzen bestenfalls durch die Hände einiger Intellektueller. Ich weiß nicht, ob es heute noch möglich wäre, dass eine neue künstlerische oder kulturelle Strömung eine solche Wirkung auf die arabische Kultur hätte, wie das zum Beispiel einst bei der irakischen Lyrik der Fall war, die Mitte der vierziger Jahre die arabische Poesie erneuerte. Wahrscheinlich kann man das gar nicht und von niemandem mehr erwarten". Mancher meint, dass das Satellitenfernsehen der Tod der arabischen Literatur war, die einmal ihr Zentrum in Beirut hatte.

    Ludger Lütkehaus befasst sich, ebenfalls in der Neuen Zürcher Zeitung, mit der neuen Rücksichtslosigkeit, die seiner Meinung nach die Gesellschaft kennzeichnet. Einer Renaissance guten Benehmens im privaten Raum stehe eine Verrohung der Sitten im öffentlichen Bereich gegenüber. Lütkehaus zählt hier verwahrloste Bahnhofshallen, die Umgebung von Fast-Food-Restaurants oder das Verhalten der Raucher auf, die ihre Kippen zumeist einfach fallen lassen, Stichwort "Wegwerfgesellschaft".

    Lütkehaus resümiert: "Umso mehr sind die öffentlichen Räume von heute Verhaltensweisen preisgegeben, die "unhöflich" zu nennen eine sehr höfliche Untertreibung wäre". Statt vom "Umgang mit Menschen" müsste der Freiherr von Knigge heute "Über den Umgang mit Menschen und Dingen" reden.