Freitag, 03. Mai 2024

Archiv


Realität und Menschlichkeit

Der spanische Maler Diego Velazquez gilt als einer der bedeutendsten Bildnismaler aller Zeiten - sein Ziel war es naturalistisch zu malen, also die Natur in einer möglichst objektiven Weise nachzuahmen und dabei aber auch eine individuelle und zugleich intelligente Interpretation derselben zu bieten. Besonders in seinem Spätwerk kam er dabei der impressionistischen Auffassung sehr nah.

Von Hans Pietsch | 18.10.2006
    Neun Gemälde des spanischen Meisters besitzt die National Gallery, aus allen Werkphasen - von einer Genreszene des 19-Jährigen, an der sich schon erkennen lässt, wozu er fähig sein wird, bis zu einem 1657, also drei Jahre vor seinem Tod, entstandenen Porträt seines alternden Arbeitgebers, des Habsburger Königs Philip der Vierte von Spanien. Dazu hat sich die Schau weitere 36 Ölgemälde ausgeliehen, acht Werke allein aus dem Madrider Prado. Mit ihnen erzählt sie die Geschichte dieses "Malers für Maler", wie Edouard Manet ihn nannte, der wie kein anderer mit Pinsel und Farbe Realität zu schaffen verstand, gepaart mit großer Menschlichkeit.

    Der junge Maler, der in seiner Heimatstadt Sevilla mit Genreszenen und Darstellungen einfacher Menschen wie dem wunderbaren "Wasserverkäufer" von 1618 bis 22 brilliert hatte, ging 1623 nach Madrid und stieg in kürzester Zeit zum ersten Hofmaler auf. So große Stücke hielt der König auf ihn, dass er nach der Geburt des Thronfolgers zwei Jahre wartete, ehe er ihn malen ließ - Velazquez weilte in der Zeit in Rom.

    Die Schau folgt seiner Entwicklung als Maler. Immer virtuoser wird er, sowohl was seine Maltechnik angeht, als auch seine Kompositionen. Er ist nicht der Handwerker, für den Künstler damals gehalten wurden - seine Kunst ist für ihn ein intellektuelles Unterfangen. Er strebt nach Nobilität und erreicht sie, gipfelnd in den Porträts der königlichen Familie. Noble Porträts, die aber nie schmeicheln, immer ganze Menschen darstellen. Philips zweite Frau Mariana als 17-Jährige etwa, die vor wenigen Wochen ihr erstes Kind gebar - ihr verkrampftes Gesicht sagt: ich habe eine schwere Zeit hinter mir.

    Wenn man ganz nahe an die Leinwände herangeht, kann man sehen, mit welcher Leichtigkeit Velazquez malte. Keine verkrustete Farbe, sondern ganz dünne Schichten. Die oberste Farbschicht einiger Gemälde wurde im Verlauf der Jahrhunderte dünner und dünner, fast durchsichtig. Auf einem Porträt des Königs im Jagdanzug wurde sichtbar, dass der Monarch ursprünglich seinen Hut in der linken Hand hielt, und ihn nicht wie jetzt, auf dem Kopf trägt. Denn der Hut scheint heute durch die oberste Farbschicht hindurch.

    Velazquezs einmalige Technik lässt sich ganz besonders schön an einem Schatz der National Gallery beobachten: "La Tela Real" von 1636 bis 38 zeigt den König und sein Gefolge bei der Wildschweinjagd. Das großformatige Bild war im 19. Jahrhundert äußerst un-fachgemäß restauriert worden und hatte viel Schmutz angesetzt. In den letzten 18 Monaten ist es von Chefkonservator Martin Wyld wunderbar restauriert worden. Nun kann man die flüssigen Pinselstriche studieren und die Geschwindigkeit, mit der er etwa, mit wenigen Strichen, den Schwung eines Pferdeschwanzes auf die Leinwand zaubert.

    Der größte Schatz des Museums ist natürlich die so genannte "Rokeby Venus" von 1647 bis 51 - der berühmte Rückenakt, die Göttin der Liebe bei der morgendlichen Toilette. Doch der Künstler lässt den Betrachter nicht zum Voyeur werden. Ihr Gesicht, das man, wenn auch etwas unscharf, in einem Spiegel sieht, stellt klar, dass sich ihr Blick mit dem ihres Liebhabers trifft.

    Neben dieser Darstellung wahrer Schönheit erlaubt sich Kurator Dawson Carr einen kleinen Scherz: er hängt dort einen "Mars" von 1638. Der Gott des Krieges, ebenfalls nackt, mit rosa Lendenschurz, ist alles andere als ein muskelbepackter Krieger. Die Arme etwas dünn, auf dem Bauch Speckfalten, der Helm eine Nummer zu groß. Velazquez zeigt ihn auf einem ungemachten Bett und deutet so an, dass er und seine Geliebte Venus gerade von deren Mann Vulkan in flagranti ertappt wurden. Mars bleibt alleine zurück, besiegt nicht im Kampf, sondern durch fleischliche Lust, und tut sich selber leid.

    Das letzte Bild im letzten Raum zeigt den griechischen Fabeldichter Äsop, in braunem Mantel und grauem Wuschelkopf, ein Buch unter dem Arm. Ein weiser Beobachter menschlicher Stärken und Schwächen, leicht amüsiert, und doch voller Verständnis und Mitgefühl. Man kann nicht umhin, ihn als eine Art Selbstporträt zu sehen, denn auch Velazquez sah seine Arbeit als eine Suche nach der Wahrheit. Und obwohl er den größten Teil seiner Karriere im Dienst des mächtigsten Monarchen Europas stand, zeigen seine Werke, dass er in jedem Menschen, den er malte, eine ganz individuelle und gleichzeitig universelle Würde fand, unabhängig von dessen sozialer Position.