Donnerstag, 28. März 2024

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"really ground zero"

Große Katastrophen machen Menschen sprachlos. Zugleich jedoch verlangen sie nach Artikulation. Aus diesem Paradox heraus entstehen Zeitzeugnisse, die - medial fixiert - den Zeugen wenig später peinlich werden. Man hat gestammelt und gestottert, nach Worten gerungen und mit Tränen gekämpft. Wie schnell die Alltagssprache vor der Tragödie kapituliert - schon das Wort "Tragödie" entstammt längst vergangenen Tagen -, zeigen die rhetorischen Leerformeln von Politikern und Journalisten nach dem 11. September. Beschwörungen von Gott und Schicksal, alttestamentarische Bilder und austauschbare Betroffenheitsbekundungen. Das Sagbare kapitulierte vor dem Unsäglichen.

Florian Felix Weyh | 01.03.2002
    Kathrin Röggla hatte das zweifelhafte Glück, am 11. September 2001 in New York zu residieren. Anders als ein beliebiger Tourist musste sich die junge Berliner Autorin mit österreichischem Paß zum furchtbaren Geschehen irgendwie verhalten. Das entspricht ihrem inneren Auftrag, ihre Berufung. Privatleute dürfen abwarten, wohin sich die Angelegenheit entwickelt, bevor sie eine Bewertung wagen, eine Autorin darf das nicht. Schon gar nicht, wenn sie bereits in den ersten Stunden nach dem Terroranschlag "Informationsgestörtheit" diagnostiziert. Auf allen Kanälen zieht "jingoismn" auf, rhetorisches Geplänkel ohne inhaltliche Substanz. Obwohl die Wirklichkeit - die qualmende, staubige Wirklichkeit der brennenden WTC-Trümmer - sich bei jedem Atemzug auf die Lungen legt, laufen ihr die audiovisuellen Medien den Rang ab. Ein Wettbewerb um Hegemonie: Denn wenn die Folgen des 11. Septembers beherrschbar sein sollen, muss man zuerst die Bilder beherrschen. Der schrecklichste Triumph der Terroristen liegt nicht in der konkreten Zerstörung zweier architektonischer Wahrzeichen, sondern darin, dass sich diese Live-Bilder nachträglich nicht zensieren lassen: Die Bildermacht USA mit Bildern geschlagen. Verzweifelt suchen Reporter nach visuellen Gegenmitteln und finden sie in flatternden Fahnen, abgekämpften Feuerwehrleuten. Auch Kathrin Röggla sucht mit der Kamera nach Orientierungspunkten und fügt die Ergebnisse dem schmalen Bändchen bei: schwarzweiße Schnappschüsse, schmutziggraue, unheroische Momentaufnahmen des Alltags. Bilder, wie man sie im Fernsehen kaum zu sehen bekommt, denn ihre Botschaft ist für propagandistische Zwecke ungeeignet: "Seht her", sagen sie, "es hat sich nicht viel verändert. Jedenfalls nichts, wofür sich ein Krieg lohnen würde."

    In "großen Zeiten" ist der genaue Blick viel wert. Deshalb lesen wir heute noch die Tagebücher von Victor Klemperer, und darum ist der um Fassung bemühte New-York-Bericht Kathrin Rögglas mehr als ein bloßes Zeitzeugnis. Die Autorin kennt den Zwiespalt zwischen unbearbeiteter, schrankenloser Ich-Authentizität - wie sie ihre beinahe gleichaltrige Kollegin Else Buschheuer zur selben Zeit in ihrem Internettagebuch förmlich herauskotzt - und reflexiver publizistischen Betrachtung sehr wohl. Die zunächst störend wirkende konsequente Kleinschreibung kühlt den Text auf eine mittlere Temperatur herab, das Herz tritt zugunsten des Auges zurück. Ein Auge, das mehr sieht, als man zu diesem Zeitpunkt in Deutschland und Amerika artikulieren darf: dass es Widerstände gibt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gegen den Wahn des unbegrenzten Terrorfeldzugs. Wahn aller Orten - "Geheimamerika" nennt Kathrin Röggla die zunehmend paranoide Tendenz, das Reich des Bösen hinter jeder fremdländischen Physiognomie zu wittern. Literarisch sicher kein Meilenstein, ragt das schmale Bändchen unter den publizistischen Rohrkrepierern des 11. Septembers angenehm heraus. Wenn man die Wahrheit schon nicht kennt, kann man sich zumindest um Differenziertheit bemühen. Die Geschichte spricht ihr letztes Wort nach dem letzten Krieg.