Archiv

Realzeit-Thriller "Victoria"
Große Filmkunst ohne Schnitt

Vier Jungen und ein Mädchen in einer Sommernacht. Erst Bier und Zigaretten, dann vier Pistolen, ein Fluchtauto. Sebastian Schippers neuester Film "Victoria" hätte leicht banalstes Genrekino sein können. Aber die Schauspieler improvisieren meisterhaft.

Von Wolfgang Martin Hamdorf |
    Szene aus dem Film "Victoria" von Sebastian Schipper mit Frederick Lau, Franz Rogowski und Laia Costa.
    "Victoria" beginnt wie eine Komödie über verlorene Partygänger und endet im ersten Tageslicht als tragischer Actionfilm. (Senator Film)
    Die dumpfen Bässe vibrieren im Kellerklub. Aus Lichtblitzen und dunklen Schemen löst sich langsam eine junge Frau: Victoria tanzt zur Technomusik in der Menge, völlig in sich versunken. Die junge Spanierin lebt seit drei Monaten in Berlin. Es ist Sommer. Es ist vier Uhr nachts. Als sie hinausgeht, trifft sie vier junge Deutsche, gut gelaunt, albern und unternehmenslustig:
    "Mann, jetzt lass mich doch mal quatschen. What´s your name?"
    "Victoria."
    "Victoria, nice to meet you. Mine is Sonne"
    "How?"
    "Sonne, it's like the sun, always smile and always happy. That´s Boxer, and here that is Fuss, it's his birthday today."
    Victoria begleitet das muntere Quartett durch die nächtlich leeren Straßen der Stadt. Sie trinken, rauchen, albern herum, aber man erfährt nicht viel über sie: Sonne ist lustig und charmant, der kahlköpfige Boxer ist schnell aggressiv und war im Knast, Fuss hat Geburtstag und ist völlig betrunken, Blinker hält sich zurück. Sie klauen Bier und Erdnüsse und steigen auf ein Hochhausdach, von dem aus sich ein wunderbarer Blick über das Stadtzentrum bietet.
    Ein Verbrechen bahnt sich an
    Sonne begleitet Victoria zu dem Café, in dem sie arbeitet und das sie um sieben Uhr öffnen muss. Sonne und Victoria flirten, aber bevor sich daraus eine Liebesgeschichte entwickeln kann, wird der Film höchst dramatisch, denn Boxer muss seinem Beschützer aus dem Knast eine Schuld zurück zahlen und für ihn im Morgengrauen eine Bank ausrauben. Seine Kumpels kommen mit, Victoria auch:
    "Gut, wer macht den Druck? Wer macht den Druck bei Euch? Wer macht die Ansagen?"
    "Er macht die Ansagen!"
    "Überschreit Euch nicht gegenseitig. Alles klar? Steigt aus, zügig, nicht rennen. Wenn ihr hereinkommt, zwei Schüsse in die Luft, damit alles klar ist."
    "Wie hieß die Bank?"
    "Limburg."
    "Limburg & Co, Zimmerstraße 26! Bitch! Zimmerstraße 26. Download."
    Victoria fährt das gestohlene Auto. Im entscheidenden Moment springt es nicht an. Die Flucht gelingt, aber im ersten Tageslicht kommt es zur tödlichen Auseinandersetzung. Und plötzlich ist ein Baby im Spiel...
    "Los, alle auf den Boden!"
    "Victoria" erzählt eine uralte Geschichte: Vier Jungen und ein Mädchen in einer Sommernacht. Erst Bier und Zigaretten, dann vier Pistolen, ein Fluchtauto und frische Geldscheine. Jugendliche Delinquenten, Dilettanten; Kumpels, die sich in den Untergang stürzen. Mittendrin ein Mädchen, das durch Zufall in die Tragödie gerutscht ist.
    Das hätte banalstes Genrekino sein können, aber die Schauspieler improvisieren meisterhaft und so wirkt die Geschichte von Anfang an authentisch und natürlich. Ganz hervorragend sind Laia Costa als Victoria und Frederik Lau als Sonne. Sebastian Schippers neuster Film beginnt wie eine Komödie über verlorenen Partygänger, könnte sich dann zur Liebesgeschichte entwickeln, schwenkt stattdessen brüsk ins Gangstergenre über und endet schon im ersten Tageslicht als tragischer Actionfilm.
    Die Kamera entführt den Zuschauer aus der Vorhersehbarkeit des Genres
    Aber darüber hinaus ist "Victoria" etwas ganz Besonderes, es ist die Geschichte einer Nacht in einer Einstellung. Zwei Stunden und 20 Minuten lang bleibt der norwegische Kameramann Stüren Brandt Grøvren immer eng an den Protagonisten dran, immer im Weitwinkel, in der gleichen Brennweite, mit schnellen und überraschenden Bewegungen und immer neuen Drehorten: Vom unterirdischen Techno-Club, über Hochhausdach und Tiefgarage in eine Wohnung und schließlich in ein Luxushotel. Ein Caféhaus und ein Aufzug ergänzen als Schauplätze die endlosen Autofahrten. Der Film entwickelt einen ganz eigenartigen Sog. Die Kamera entführt den Zuschauer, entführt ihn aus der Vorhersehbarkeit des Genres. Sie nimmt ihm die Orientierung, die Schnitt und unterschiedliche Einstellungsgrößen, sonst gerade im Krimi- und Gangsterfilmen, herstellen. "Victoria" ist weitaus mehr als ein Kamera- und Schauspielexperiment: nämlich wirkliche Filmkunst. Die lange Odyssee durch die Berliner Nacht widerlegt die ebenso alte, wie falsche Filmförderweisheit, dass es doch eigentlich nur auf die richtige Geschichte ankomme und sticht deutlich aus der großen Zahl mittelmäßiger, aber fernsehdramaturgisch korrekter, deutscher Kinofilme heraus.