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Rebellion als Interruptus

Nebelschwaden, rhythmisches Zucken, rasende Körper und eine angedeutete Hinrichtung auf der Bühne - der israelische Star-Choreograf Hofesh Schechter provoziert und spielt gerne mit der Lust an der Unterwerfung.

Von Nicole Strecker | 30.09.2011
    Glaubt man Choreograf Hofesh Shechter, dann verhält es sich mit einem Tanzstück wie mit einem Menschen: Schon in den ersten 15 Sekunden werde über Sympathie und Antipathie entschieden: Man mag die Show oder man mag sie nicht. Das erzählt eine Stimme aus dem Off zu Beginn von "Violet Kid", und vorsichtshalber bleibt erstmal alles so dunkel auf der Bühne, dass man ohnehin kaum erkennen kann, was hier gut oder schlecht sein soll.

    Bühnennebel kräuselt sich im bräunlichen Licht, und als arbeiteten sie sich erst aus einer schlammigen Ursuppe heraus, rückt eine Gruppe Tänzer aus dem Bühnenhintergrund langsam näher. Zwei Männer mimen für einen kurzen Augenblick eine Exekution, der eine kniet, der andere hält ihm die Finger in Pistolengeste an die Schläfe - wie eine universelle Chiffre für militärische Gewalt. Doch soviel Macht bekommt im übrigen Stück kein Tänzer mehr. Ihre Körper rasen zwar, die Arme zucken, als wollten sie nach vorne schnellen, doch dann schlagen sie nur auf die eigene Brust, als bekämen sie nicht genug Luft. Es sind die Aggressionen von Unterdrückten, ein Aufstand, der im Inneren des Körpers erstickt. Rebellion als Interruptus.

    Der aus Israel stammende, in Großbritannien lebende Choreograf Hofesh Shechter zählt derzeit zu den begehrten It-Boys der Szene. Er arbeitete bereits für diverse europäische Kompanien, und überall, wo er war, hinterlässt er choreografische Menetekel von Zorn und Protest. Tänzer, die sich zu einer Meute zusammenrotten und wie in einem Rave ekstatisch zucken. Die als aggressive Kampfmaschine auf die Bühne bersten oder sich in militärisch gedrillter Dressur einem harten Beat ängstlich unterwerfen.

    Diesmal war Shechter in New York beim Cedar Lake Contemporary Ballet. Ein Ensemble aus 16 aufregend individuellen Tänzern, die eigentlich nur eines gemeinsam haben: extrem ausgeprägte Sixpacks und Bizepse.

    Flankiert wurde sein Stück von einem wunderschön choreografierten Traumtanz der Kanadierin Crystal Pite über Augenblicke tiefster Humanität, wenn Menschen sich gegenseitig beschützen und erretten. Sowie einem Spottstück des Schweden Alexander Ekman, das sehr ironisch mit ambitionierten Tanzexegeten abrechnet, die meinen, jedes gehobene Bein auf einer Tanzbühne zweifelsfrei interpretieren zu können. Das wirkte wie ein Kommentar zur Lesart von Shechter-Schöpfungen, dessen Wutstücke immer wieder auf seine israelische Herkunft bezogen werden.

    Also bedient er in "Violet Kid" gleich den begrenzten Blick: Subtil flicht er in seine adrenalin-durchpulste Choreografie Bewegungselemente ein, die der jüdischen Kultur zu entstammen scheinen: vor- und zurückschaukelnde Oberkörper - wie bei Betenden an der Klagemauer, doch so heftig wie von Pogotänzern auf einem Punkkonzert. Hochgehobene Arme, die zunächst rhythmisch wippen wie im Volkstanz, dann in die Luft hämmern wie die geballten Hände von Protestlern. Eine Folkloregeste als Faustschlag, Ritus als Rock.

    Solche Kombinationen disparater Codes sind ästhetisch genial und geben Shechters Wucht- und Wutstil Raffinesse und Komplexität. Und sie irritieren. Weil hier Massenbewegungen analogisiert werden, ganz gleich ob es sich um Gebet oder Gefecht handelt, um Kult oder Krawall.

    Doch letztlich ist Shechter wohl nur das ungezogene Kind, das mit provozierenden Gedanken zündelt, ohne gleich ein kritisches Fanal entfachen zu wollen. Mehr radical Chic als revolutionär gemeinter Schock. So rast sein Tanz auch gegen jede Reflexion und der Beat seiner selbst komponierten Musik rumpelt so heftig im Unterleib, dass Shechter letztlich das in seinem Publikum provoziert, was er zugleich verunglimpft: die Lust an der Unterwerfung.

    Linktipp:
    Oper Bonn - Informationen zum Stück "Violet Kid"