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Rebellion der Braven

Magersüchtige: Sie essen immer weniger. Sie werden immer dünner. Sie hungern. Sie finden sich doch immer noch zu dick. Sie tränken Wattebäuschen in Orangensaft und schlucken sie ganz langsam. Sie trinken literweise Mineralwasser. Sie joggen, rennen, schwimmen. Und sie finden sich doch immer noch zu dick. Sie hungern und hungern. Sie finden sich erst schön, wenn sie abgemagert sind bis aufs Skelett. Und etliche hungern sich zu Tode.

Von Simone Hamm |
    Die Psychoanalytikerin Hilde Bruch, die 1933 erst nach England, dann in die USA emigrierte forschte seit Ende der 30ger Jahre über Essstörungen bei Kindern. Bereits in den sechziger Jahren hat sie sich mit dem Phänomen der Magersucht auseinandergesetzt. Ihre Thesen haben bis heute Gültigkeit.

    Magersucht ist eine Zivilisationskrankheit. Sie kommt nicht in Entwicklungsländern vor.
    Warum hungern sich junge Mädchen in Ländern zu Tode, in denen niemand zu hungern braucht? Nicht nur Psychologen versuchen, darauf eine Antwort zu geben. Romane, Jugendbücher werden zu diesem Thema geschrieben - und oft sind es autobiografische Erfahrungen, die da verarbeitet werden. Lena S. ist heute Mitte zwanzig, eine selbstbewusste Frau, die anonym bleiben möchte. Jahrelang ist sie magersüchtig gewesen. In ihrem autobiografischen Roman "Auf Stelzen gehen" versucht sie zu erklären, wie es dazu kommen konnte.
    Magersüchtige sind angepasst. Sie wollen gefallen.

    "Ich wusste als Kind ganz wenig, was ich selber will. Das hab ich ganz schwer herausfinden können, was ich eigentlich will. Ich war sehr anfällig für anderer Leute Meinung und natürlich für die meiner Eltern. Ich dachte, die wissen schon, was für mich gut ist. Was ich selber wollte habe ich gar nicht richtig wahrnehmen können. Dass die Eltern auch denken, sie wissen besser, was ich will, als ich es weiß. Zum Beispiel wollte ich immer ein Herrenfahrrad haben und meine Eltern haben halt gesagt, dass ist unvernünftig. Viel praktischer ist ein Damenfahrrad, wenn man Röcke anhat und ich wusste, ich habe überhaupt keine Röcke an und habe trotzdem nicht darauf bestanden und konnte mir erst ein Herrenfahrrad kaufen, als ich ausgezogen war."

    Erzählt Lena S. Es hat lange gebraucht und sie fast das Leben gekostet bis sie herausgefunden hat, was ihre eigenen Wünsche sind.

    Lena S. gelingt mit "Auf Stelzen gehen" etwas scheinbar sehr Widersprüchliches, über ein entsetzliches Thema zu schreiben - denn es ist wahrlich nicht angenehm zu lesen, wie sich da jemand fast zu Tode hungert - und das in einer sehr poetischen, schönen Sprache.

    "Du gehst wie auf Stelzen. Bist meterhoch. Wächst meterhoch in den Himmel. Dein Kopf ist leer. Fühlst dich frei. Vogelfrei. Zum Abschuss freigegeben. Der Wind streift um Deine Beine und du hast dich besiegt, bist Sieger in dem Spiel, was du mit dir alleine spielst. Dieses Gefühl, dieser Moment ist es wert, ist alle Mühe wert."
    Lena S. magersüchtig lässt die Leser teilhaben an ihrem verzweifelten Kampf immer dünner und dünner zu werden. Beine, hoch und schmal wie Stelzen, stumpfes Haar, ein ausgemergelter Körper.

    Lena S. erzählt, wie sie langsam hineingleitet in die Magersucht. Erst möchte sie nur dünner werden, dann will sie ihren Körper völlig beherrschen, mit so wenig Nahrung wie möglich auskommen. Als sie fast verhungert ist, lässt sie sich in die Psychiatrie einweisen. Sie freundet sich mit Lukas, einem Mitpatienten an. Auch Lukas will es seinen Eltern immer recht machen. Er verzweifelt daran. Er hungert, er verhungert, er stirbt.

    Langsam erkennt Lena S., dass man niemals allen gefallen kann - und dass das auch niemand von ihr verlangt. Sie wird gesund. Heute lebt sie in Berlin und studiert.

    Fast alle Kinder und Jugendliche, die an Magersucht leiden, stammen aus der Mittel - und Oberschicht. Sie kommen aus so genannten "heilen" Familien, Familien, die auf Harmonie bedacht sind.

    "Es war schon eine heile Welt, wo alle so getan haben, als wäre alles in Ordnung. Das denke ich, ist schon sehr wesentlich gewesen bei uns zu Hause."

    Von der Wirklichkeit, der Autobiografie zur Fiktion: Brigitte Blobel erzählt in ihrem Roman "Jeansgrösse 0" von Lilja, einer kleinen Prinzessin: reich und schön, aus gutem Hause. Katharina ist vom Land nach Hamburg gezogen und wohnt in einer Wohngemeinschaft mit Lilja.

    Katharina ist beeindruckt von Lilja. Denn die ist rasend schlank und will doch immer schlanker werden. Sie hungert. Kraftlos schleppt sie sich die Treppen hoch. Sie macht ihrer neuen Mitbewohnerin Katharina das Leben zur Hölle, macht böse Bemerkungen über deren Aussehen, deren Figur. Lilja will die Schönste, die Schlankste sein. Zwar durchschaut Katharina sie, kann sich aber ihrem Einfluss nicht entziehen.

    Größe 0, denkt Katharina. Lilja trägt Jeansgröße 0! Es ist der einzige Gedanke, der Platz in ihrem Kopf hat. Der sich festkrallt. Jeansgröße 0.
    Katharina beginnt zu hungern wie Lilja. Den Weg aus der Magersucht heraus findet sie erst, als Lilja nach einem Zusammenbruch mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht wird. Auf die Intensivstation. Dort kämpft sie um ihr Leben. Und Katharina wird endlich wach.

    Es hat lange gedauert bis sich Katharina so sehen konnte, wie sie wirklich war. So wie Lilja wollte sie aussehen, so einen flachen Bauch, so dünne Beine haben. Die spitzen Knochen hat sie nicht gesehen. Und auch nicht das blasse Gesicht. Ganz nah ist Brigitte Blobel hier an der gelebten Wirklichkeit:

    Die gefühlte Realität - ich bin zu dick - stimmt nicht mit der tatsächlichen Realität überein.

    "Ich habe in den Spiegel geguckt und habe überall Fett gesehen und überall gesehen, da ist zu viel und das muss noch weg und dass muss noch weg und da war im Grunde gar nichts mehr - wenn man es mal realistisch betrachtet. Also wenn ich jetzt alte Fotos angucke, denke ich, da war ich krass dünn und jetzt wüsste ich nicht, wo ich da noch abnehmen sollte - und das habe ich überhaupt nicht so gesehen, habe immer nur gesehen, dass ich zu viel wiege,"
    wundert sich Lena S. heute. Brigitte Blobel schreibt Bücher für Erwachsene und Drehbücher. Ihre größten Erfolge aber hat sie mit Jugendbüchern, denn sie kennt sie Sehnsüchte und die Sorgen junger Mädchen genau. Sie trifft die Themen der Zeit. Da geht es um "Herzbrennen" und den "Traumboy mit Tücken", da geht es um Pferde, Ballett und die erste Liebe. Brigitte Blobel ist eine Vielschreiberin, über 90 Romane hat sie veröffentlicht.

    "Jeansgrösse 0" ist schnell geschrieben, einfach zu lesen. Blobel beschreibt das Phänomen der Magersucht - die Komplexität des Themas erfasst sie nicht. Sie malt die Schrecken der Magersucht aus: Da sind zwei junge Mädchen aus gutem Hause, die immer schlanker werden wollen, hungern, schließlich zusammenbrechen - nach den Ursachen für diesen versuchten Selbstmord auf Raten fragt sie nicht.

    Auch Marliese Arolds Roman "Völlig schwerelos" handelt von einem jungen Mädchen, das aus einer Familie kommt, in der Harmonie groß geschrieben wird. Miriams Mutter streitet nicht gern, sie leidet still. Einmal brüllt der Vater sie an.

    Ich war überzeugt, Mama würde ausrasten. Doch sie guckte nur furchtbar traurig und ging aus dem Zimmer. Darin ähnelte ich Mama. Die war genauso harmoniesüchtig wie ich. Ärger runterschlucken, einlenken, lächeln.
    Miriam findet sich zu dick, sie nimmt ein paar Kilo ab und fühlt sich besser. Sie ist eine sehr fleißige Schülerin.

    Miriam schafft sich eine Parallelwelt. Sie träumt von ihrem Paradies. Schwerelos schwebt sie im Raum. Sie steuert einen Planeten an:

    Ich liebte Orchidea vom ersten Augenblick an. Ich wusste sofort. Hier auf diesem Planeten war mein Platz. Auf der Erde war ich unglücklich gewesen. Dort gab es so viel Leid, so viel Kummer, so viel Gier. Hier herrschten Frieden und Harmonie. Hier würde ich glücklich ein. Keiner konnte mir etwas vorschreiben! Sollten sie doch meckern und nörgeln! Ich tat, was ich wollte! Und ich fühlte mich gut dabei, denn ich wusste, ich hatte Macht.

    Miriam triumphiert. Sie ist mächtig, sie ist perfekt.

    Magersüchtige sind Perfektionisten.

    "Das glaube ich ist auch ein wesentlicher Punkt. Dieser Perfektionismus, der sich dann auf den Körper und aufs Essen halt überträgt. Ich wollte abnehmen und dann hat das auch funktioniert - und dann wollte ich auch immer mehr abnehmen. Und dann war alles zu viel - und nur, wenn ich dann noch weniger gewogen habe und noch weniger, dann war es halt Okay."
    Erinnert sich Lena S. an diese trügerische Macht. Miriam schwankt zwischen Himmel hoch jauchzend und zu Tode betrübt. Sie glaubt, wenn sie hungere, sei sie glücklich und unglücklich, wenn sie gegen die selbst auferlegten Regeln verstoße, wenn sie etwa an einem Eis lecke.
    Miriam glaubt sich autark, weil sie ihren Körper und ihre Hungergefühle beherrscht. Sie sieht nicht, dass sie sterben wird, wenn sie so weiter hungert.

    Da stirbt eine Mitschülerin Miriams. Sie hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs. Auf deren Beerdigung bricht Miriam zusammen. Als sie zu sich kommt, hört sie die Worte eines Sanitäters: "Das ist auch eine, die sich tothungern will." Da wird ihr endlich klar: Sie will nicht sterben.

    Ich wollte nicht. Mit beiden Händen klammerte ich mich an die Liege. Und ich sauste mit Affentempo in das schwarze Loch hinein und wieder hinaus, und in der Ferne sah ich die Sterne.
    Wie Brigitte Blobel hat auch Marliese Arold einen kleinen, eher schlichten Roman geschrieben, in dem junge Mädchen sich oder ihre Freundinnen wieder erkennen können. Den Autorinnen kommt es weniger auf literarische Qualität an, sondern vielmehr darauf, auf ein Problem aufmerksam zu machen. Vielleicht wird ihnen das gerade deshalb gelingen, weil sie sprachlich leicht und einfach daherkommen. Wenn es jungen Mädchen dabei hilft, mit ihrem Schlankheitswahn umzugehen, mögen diese Romane ja ihren Zweck erfüllt haben.

    Das gilt auch für den Roman "Magersucht" von Uta Beutel.

    Uta Beutel geht es vor allem darum, nach den Ursachen zu fragen. Auch Mareike stammt aus einem perfektionistischen Elternhaus. Auch sie ist ein pflegeleichtes Kind gewesen. Erfolge sind ein Muss, das sie sich selbst aufoktroyiert hat. Auch sie ist eine gute Schülerin. Auch sie ist angepasst. Aber sie weiß, dass dies eine Schwäche ist:

    Wie ich mich wegen des fehlenden Raubtiers schämte, das nicht das Maul aufriss und laut brüllte. Meine Wünsche hallten mir nicht als Echo entgegen. Sie hatten sich mit denen der anderen gemischt, unauffindbar im Nebel versunken. Ich war wie eine räudige Katze. Ich schnurrte, wenn ich meine Streicheleinheiten bekam, ich hatte verlernt zu kratzen, zu fauchen, zu beißen.
    Uta Beutel thematisiert die Rolle der Mutter bei Magersüchtigen. Mareike und ihre Mutter Beate haben ein geradezu symbiotisches Verhältnis. Mareikes Mutter verhätschelt ihre19-jährige Tochter, ihr Schneckchen.

    Noch immer galt ich als Schneckchen, Sonnenschein, Kleinkind, das verhätschelt und von der mütterlichen Fürsorge erfasst werden musste. Meine einzige gewagte, mir selbst erlaubte Selbstständigkeit lag im Hungern, im Manipulieren von Nahrung, im Zählen, im Wiegen, doch das begriff ich noch nicht.
    Mareike erkennt, dass sie sich von ihrer Mutter und deren Ansprüchen befreien muss. Dass sie nicht das liebe, kleine Mädchen bleiben muss, dass sie zur Frau werden kann. Sie muss nicht vollkommen sein.

    Dennoch will sie die Schuld an ihrer Magersucht nicht allein der Mutter zuweisen. Das wäre zu einfach. Denn dann hätte sie jede Eigenverantwortung zurückgewiesen.

    Magersucht ist die Rebellin der Braven.

    "Und im Grunde ist dann auch eine Sehnsucht da gewesen, dass jemand mich doch mag. Aber halt so wie ich bin. Ich wollte nicht anders sein, dafür, dass jemand mich mag. Und hatte das Gefühl, dass muss ich aber immer, weil ich als Kind das Gefühl hatte, das ich nur halt gemocht werde, wenn ich sehr bequem auch bin für andere Leute. Und das wollte ich halt nicht mehr."
    Lena S. hat in einem langen und schmerzlichen Prozess und in vielen Therapiesitzungen gelernt, ihre Unvollkommenheit, ihre Schwächen zu akzeptieren. Und sie erkennt, dass Hungern keine wirkliche Autarkie bedeutet. Man darf ruhig abhängig sein von seinen Gefühlen, von den Menschen, die einem nahe sind. Dass heißt noch lange nicht, dass man sich ihnen willenlos ausliefert.

    Uta Beutel hat mit Mareike eine Protagonistin kreiert, der es ganz genauso geht. Auch sie ist, wie Blobel und Arold ganz nah an der Realität. Beutel dringt in ihrem Roman "Magersucht" tief in die Psyche ihrer Protagonistin ein. Sie beschreibt den Weg in die Magersucht ausführlicher und genauer als Blobel und Arold. Allerdings klingt ihr Roman allzu oft nach Küchenpsychologie. So mag es ja sein, dass eine symbiotische Mutter / Tochter Beziehung zur Magersucht des Kindes führen kann, folgerichtig ist dies aber keinesfalls.

    Vielleicht weil sie so ehrlich sind, berühren die autobiografischen Berichte von magersüchtigen Jugendlichen weit mehr als die Romane "Jeansgröße 0", "Völlig schwerelos" und "Magersucht". Sie sind authentisch, sie sind schonungslos. Das spiegelt sich auch in der Sprache wieder. Das sind keine frechen, modischen Mädchen, die spritzig über ihren Schlankheitswahn schreiben, das sind verzweifelte Mädchen, die gegen eine Krankheit ankämpfen. Sie wollen ihren Körper beherrschen und werden doch von der Sucht nach dünn und dünner zu sein beherrscht.

    Wahrhaftig ist Lena S. "Auf Stelzen gehen", wahrhaftig sind die meist kurzen Berichte junger Mädchen und auch Jungen, die in einem Hamburger psychiatrischen Krankenhaus stationär behandelt wurden. "Das Eismeer in mir - Gedanken von Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen, Depressionen und Psychosen " heißt das von Andreas Jordan herausgegebene Buch. Er ordnet nicht ein, sucht nicht nach Gründen für die Magersucht, lässt die Jugendlichen für sich selbst sprechen, nimmt sie ernst.

    Das ist alles andere als leichte Kost. Und manche Leserin, mancher Leser wird diese Bücher von Zeit zu Zeit aus der Hand legen müssen, so eindringlich sind sie geschrieben. So rückhaltlos offen. So ergreifend.
    Wir erfahren, wie unglaublich schwer es für die Jugendlichen ist, aus der Magersucht herauszukommen. Und wie leicht sie hineingleiten können.

    Ana Carolina Reston ist ein gefragtes Model gewesen. 2006 ist sie gestorben - mit 21 Jahren. Sie war 1.74 groß und wog zuletzt 40 Kilo. Sie blieb nicht das einzige Model, das an Magersucht starb. Die Modewelt war alarmiert - und reagierte. Auf der internationalen Modewoche in Madrid wurde ein Mindest Body- Mass - Index verlangt. Dennoch ist und bleibt die Mehrzahl der Models sehr, sehr dünn. Mädchen mit knochigen Schlüsselbeinen, ausgehöhlten Gesichtern, winzigen Brüsten.

    Aber ist es wirklich so einfach? Kann das Problem Magersucht auf dürre Vorbilder aus der Werbung und aus der Modewelt reduzieren?

    Die ganz dürren Skelette, die über den Laufsteg laufen haben vielleicht Größe 32, und irgendein Designer findet es toll, wenn seine XS Jeans an den dürren, kaputten Körpern nur noch schlackert. Doch wenn man den Mädchen mal ins Gesicht guckt und nicht nur auf den Körper, wie sehen sie dort aus? Gehört deren Gesicht noch zu ihnen?

    Fragt sich die siebzehnjährige Sabrina, eine der Jugendlichen, die ihre Geschichte in "Das Eismeer in mir" erzählen. Obwohl selbst magersüchtig, erschrickt sie über die Models mit den Figuren von Kindern, mit den kleinen Totenkopfschädeln, den hohlen Augen. So will sie wahrlich nicht aussehen.

    Niemand wird magersüchtig, nur weil er einem modischen Ideal entsprechen will.

    "Wenn ich aussehen will wie ein Model, dann kann ich auch aufhören, abzunehmen, wenn ich genau das erreicht habe - und das ist ja nicht so. Das sich so ein Leistungsanspruch auf die Figur bezieht, dass ist vielleicht heutzutage leichter der Fall als vielleicht früher. Aber ich glaube nicht, dass es der Punkt ist, dass man irgendwie aussehen will. Es hört ja nicht auf, wenn man es erreicht hat."

    Es hört ja nicht auf, wenn man es erreicht hat. Denn Magersucht ist eine Sucht. Die Gründe für die Magersucht liegen tief, viel tiefer. Und fast immer gibt es mehr als eine Ursache. Dürre Models tragen nicht gerade dazu bei, dass dicke Mädchen sich wohl fühlen, erzählen die Mädchen die ihre Geschichten in "Das Eismeer in mir" niedergeschrieben haben. Der Druck schön und schön dünn zu sein, ist enorm. Und sicher viel zu groß. Aber keine einzige von ihnen ist magersüchtig geworden, nur weil sie aussehen wollte wie ein Supermodel.

    Hilde Bruch hat ihr Standartwerk über die Magersucht "Der goldene Käfig" genannt. Und wer die Berichte der jungen Menschen liest, versteht, warum sie sich wie ein einem Käfig fühlen. Abgeschnitten, unverstanden vom Rest der Welt, leben sie meist im Kokon einer nach außen hin "glücklichen" Familie.

    Magersüchtige fühlen sich wie Gefangene im Käfig, wie ein Hamster, wie eine Ratte.

    "Die überall gegen läuft und nicht rauskommt. Immer wieder gegen dieselbe Wand zu laufen, nicht rauszukommen. Dieses Gefühl eingesperrt zu sein- sehr dominant. So im eigenen Körper, im eigenen Leben und zu wissen, eigentlich will ich das gar nicht so, aber nicht zu wissen, was ich denn stattdessen will."
    So Lena S. über ihre scheinbar ausweglose Situation. Jede Magersüchtige hat ihre ganz eigene Geschichte, ihre eigenen Probleme, die zur Krankheit geführt haben. Aber es fällt doch auf, dass keine der Autorinnen, keines der Mädchen, die in "Das Eismeer in mir" über ihre Magersucht schreiben, auf etwas eingehen, was sowohl Hilde Bruch als auch andere Psychoanalytikerinnen immer wieder von ihren Patientinnen erfahren haben: dass so manche Magersüchtige als Kind sexuell missbraucht worden ist. Dass sie sich deshalb weigern, Frauen zu werden. Magersucht hat viele Ursachen, eine davon ist Missbrauch, sicher eine der furchtbarsten.

    In den vorgestellten Büchern schreiben Autorinnen und Betroffene über Probleme, die viele junge Manschen kennen, dadurch sprechen sie alle Leser und Leserinnen an. Denn das Gefühl, unverstanden zu sein, die Suche nach einem eigenen Weg, die großen Sinnfragen sind ja nun nichts Außergewöhnliches in der Pubertät.

    In der "Normalität" finde ich Menschen, die nie Zeit und Ruhe haben, die Arbeiten als Lebensinhalt sehen, denen es generell "perfekt" geht ... !"Probleme gibt's nur mit den zu kleinen Brüsten oder dem zu schrotten Auto, ergo Probleme nur auf der materiellen Ebene. Die Menschheit ist besessen von einem Zwang zum glücklich sein... Das Nomen "Probleme" scheint es nie in irgendeiner Sprache gegeben zu haben. Wenn überhaupt, erinnert man sich an jenes Nomen wie an eine Seuche, die man nie ganz, aber beinahe besiegt hat,
    schreibt die siebzehnjährige Katherina in "Das Eismeer in mir". Sie hat Probleme, glaubt, sie sei sich anders als die anderen. Nach einer Routineuntersuchung hatte der Hausarzt das Mädchen ins Krankenhaus überwiesen. In der Psychiatrie fühlt sie sich wie auf einer "Quarantänestation für Irre."

    Auf jenen Stationen sitzen dann Lebensretter, die einen begutachten, nach Schweregrad wird sortiert. Schwere Seuchenfälle in Käfige, leichteren gewährt man schon mal Auslauf. Bis jetzt sind meine Erfahrungen mit den Lebensrettern ganz positiv. Sie scheinen sich ein wenig homo sapiens sapiens' Grundwerte gebunkert zu haben. Und doch schauen sie gerne mal auf die Kassenzugehörigkeit. Private Seuchenfälle bieten höhere Löhne für eine Rückführung in den "Wahnsinn der Normalität."
    Magersüchtige sind meist sehr leistungsstarke, intelligente Kinder. Sie haben keine Probleme in der Schule. Sie haben einen klaren Blick. Sie durchschauen ihre Umwelt, ihre Familien. Sie reagieren übersensibel auf alles Falsche, Vorgeheuchelte. Glasklar analysieren sie. Wie hatte doch Katharina geschrieben?

    Die Menschheit ist besessen von einem Zwang zum glücklich sein.

    Magersüchtige hungern immer weiter. Es gibt Hoffnung, es gibt Gesunden - und Rückfälle. Noch einmal Katharina, kurz vor ihrem 18. Geburtstag:

    Ich stehe schon sehr viel mehr im Leben, als an dem Tag, als ich herkam. Ich fühle mich bereit für den Weg, der noch vor mir liegt. Wer weiß, vielleicht kehre ich nach abgeschlossener Doktorarbeit in Psychologie ja noch mal hierher zurück! ( P.S. Dann aber wohlgenährt und gesund!)

    Katharina wird nicht als Psychologin zurückkehren in die Psychiatrie. Katharina ist zwei Tage nach ihrem 18. Geburtstag gestorben.