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Rebellion im Krankenzimmer

Viele Therapien und Medikamente werden von Ärzten verschrieben, obwohl sie wissenschaftlich nicht hinreichend überprüft worden sind. Für Patienten kann das fatale Folgen haben: Herzkranke wurden jahrelang mit Pillen gegen Herzrhythmusstörungen behandelt. Die brachten zwar die Herzen in Takt, aber auch tausende von Patienten um. Aufgrund sorgfältiger Studien kennt man die Zusammenhänge erst heute.

Von Martina Keller | 28.04.2006
    Vor solchen Schäden will die so genannte Evidenzbasierte Medizin Patienten schützen. Dieses junge Fach verbindet klinische Erfahrung mit systematischer Forschung. Was im Ausland längst Alltag ist, steckt hierzulande noch in den Anfängen. Erst seit kurzem existiert ein unabhängiges Institut, das Medikamente und Therapien nach wissenschaftlicher Evidenz bewertet. Nur wenige Krankenhausmediziner und niedergelassene Ärzte setzen die Erkenntnisse konsequent um, denn die Bewegung stößt bei Pharmaindustrie, Chefärzten und manchen Patienten auf Widerstand.

    Beitrag

    Eine Hausarztpraxis im Bremer Vorort Huchting. Günther Egidi empfängt die dritte Patientin an diesem Tag, sie ist stark verschnupft.

    " Einundzwanzigster Erster, seit drei Wochen erkältet. Und seit wann ist die Stimme weg?

    Patientin: Seit heute ... Gibt es da nicht ein stärkeres Antibiotikum, dass das raus geht? Gibt es doch normal!

    Egidi: Und was ist mit dem Husten, war der in der Zwischenzeit schon weg?

    Patientin: Er war schon weg, ja, ... Aber die Erkältung direkt geht nicht weg ... und ich weiß, da gibt es irgendein Antibiotikum, aber ich komm nicht auf den Namen, ...
    Egidi: Also der Lungenbefund ist anders als damals, als er richtig schlecht war. Ich werde Ihnen kein Antibiotikum aufschreiben

    Patientin: Warum nicht?

    Egidi: Weil es nicht hilft."


    Statt des gewünschten Antibiotikums verordnet Günther Egidi seiner Patientin ein Mittel gegen Halsschmerzen und schreibt sie krank.

    " Ich habe mich jetzt relativ autoritär gegen die Patientin und gegen ihren Wunsch durchgesetzt ... Da ist also evidenzbasiertes Wissen auf meiner Seite, und es erfordert so’n bisschen Standing und Mut sich durchzusetzen gegen solch einen Patientenwunsch. .. "

    Der Arzt ist 49 Jahre alt. Ein energischer Typ. Hausbesuche bei Patienten absolviert er mit dem Fahrrad.

    " Wir sind keine Antibiotikagegner, im Gegenteil, gerade weil wir Antibiotika wichtig finden, sind wir der Meinung, dass man sie ganz gezielt und sorgfältig einsetzen muss. Gerade auch die neuen. Wenn ein neues Antibiotikum auf den Markt kommt, wirkt es am Anfang am besten von allen, und das sind Schätze, die man sorgfältig bewahren muss, damit sie nicht verschlissen werden."

    Das soll auch die Patientin verstehen. Egidi gibt ihr ein Informationsblatt mit auf den Weg.

    "Akute Bronchitis und Antibiotika. Was Sie wissen sollten:
    Die Ärzte sollen Antibiotika nur gegen Erkrankungen verschreiben, gegen die sie auch wirksam sind.
    Wenn Sie keine Lungenkrankheit oder Immunschwäche haben, haben Untersuchungen gezeigt, dass Antibiotika bei akuter Bronchitis keinen Vorteil haben. "

    In der Gemeinschaftspraxis von Günther Egidi und Holger Schelp liegen mehrere solcher Informationsblätter bereit. Die beiden Ärzte haben sie selbst verfasst, um häufige Fragen ihrer Patienten zu beantworten. Sie orientieren sich dabei streng am Stand der Forschung. Egidi und Schelp führen ihre Praxis im Bremer Westen nach den Prinzipien der evidenzbasierten, beweisgestützten Medizin.

    " Das ist für uns wichtig, das ist die Basis, auf der wir arbeiten, das heißt ja nicht, dass wir nur Sachen machen, die in groß angelegten Studien bewiesen sind, aber wenn es diese Studien gibt, dann berücksichtigen wir das."

    Evidenzbasierte Medizin soll die Heilkunst besser und sicherer machen. In angelsächsischen Ländern ist sie längst etabliert. In Deutschland gewinnt sie erst langsam an Einfluss. Ihr Kernstück sind besonders sorgfältige Untersuchungen, die Fachleute sprechen von kontrollierten Studien.

    Kontrolliert bedeutet: Ein neues Medikament wird mit einem bereits bewährten Mittel verglichen oder auch mit einem Placebo, also einem Scheinmedikament. Nur durch den Vergleich lässt sich feststellen, ob das neue Mittel dem Patienten tatsächlich einen Vorteil bringt.

    Letztlich ist das Rezept der Evidenzbasierten Medizin simpel: Ärztliches Handeln muss sich am besten derzeit verfügbaren Wissensstand orientieren. Das ist keine Selbstverständlichkeit.

    " Es gibt Patienten, die gehen einfach, die gehen Türen knallend hier weg, ...und diese Entscheidung, diese Entscheidungsfreiheit haben sie ja auch, und es sortiert sich, es gibt Kollegen hier im Stadtteil auch, die überhaupt gar nicht nach Kriterien evidenzbasierter Medizin behandeln, die vielleicht gerne und viel Spritzen geben bei Rückenschmerzen und die Patienten auch ungesehen krank schreiben und ungesehen bei Husten Antibiotika verschreiben, das gibt’s, und die Patienten, die das schätzen, gehen zu diesen Kollegen. "

    Günther Egidi und Holger Schelp gehören zu einer kleinen Schar von Vorkämpfern, die den Ansatz der evidenzbasierten Medizin konsequent verfolgen. Die streitbaren Ärzte erinnern mitunter an eine Rebellengruppe im Untergrund. Sie informieren sich aus pharmakritischen Fachzeitschriften. Sie lernen während ihrer Freizeit die Interpretation von Studien und legen sich tapfer mit den Meinungsführern des eigenen Berufsstandes an. Denn viele Ärzte setzen statt auf Evidenz lieber auf Eminenz – die Meinung der Chefärzte und Klinikleiter.

    Diese heute übliche Verwissenschaftlichung des Alltags ist nur noch lächerlich. Wir tun so, als sei ein Stein erst nach unten gefallen, nachdem Newton das Freie-Fall-Gesetz formulierte hat. Vorher blieb er vielleicht in ein Meter Höhe ratlos in der Luft stehen oder stieg vielleicht sogar nach oben....Dieser ganze evidenzbasierte Schwachsinn, der uns zurzeit mit seinen Studien überrollt, dient doch nur zur Schaffung neuer Lehrstühle, Ämter und Pöstchen.

    Friedrich Walter, Deutsches Ärzteblatt. September 2004

    "Wir haben relativ früh, schon Anfang der 80er, begonnen skeptische oder belegbare Medizin zu machen, d.h. als Gegensatz zu der hierarchiebestimmten oder autoritätsbestimmten Medizin haben wir versucht, das, was wir mit Patienten tun, mit Daten zu belegen, das heißt den Patienten und auch den Ärzten zu sagen, welche Effekte haben welche Maßnahmen und wie sicher ist das, dass diese Effekte wirklich eintreten. "

    Peter Sawicki ist auch so ein Rebell. In jüngster Zeit hat er viel von sich reden gemacht, doch davon später. Vor rund zwanzig Jahren arbeitete er als junger Assistenzarzt an der Universitätsklinik Düsseldorf.

    "Die deutsche Medizin war und ist immer noch sehr hierarchisch strukturiert, d.h. der, der in einer bestimmten Position sitzt, sei es der Chefarzt, der leitende Oberarzt oder der Präsident einer Fachgesellschaft, hat Recht und legt dann ... die Schullehrmeinung fest. ...das leitet sich ab von preußischen Militärkrankenhäusern, und das ist ein grundsätzlicher Widerspruch zu einer inhaltlich festgelegten Autorität. "

    Sawicki, heute 49 Jahre alt, gehörte in Düsseldorf zum Team des mittlerweile verstorbenen Diabetologen Michael Berger. Der führte seine Abteilung nach den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin, noch ehe der Begriff Mitte der 90er Jahre von dem Kanadier David Sackett geprägt wurde.

    O-Ton 9 Sawicki
    5.23 Wir haben Schulungsprogramme entwickelt, wo die Patienten selbst ihren Blutzucker gemessen und dann die Insulindosis entsprechend angepasst haben, je nachdem, was sie machen wollten, ob sie Sport treiben, viel oder wenig essen wollten, das hat eine gewisse Freiheit für die Patienten bedeutet, das ist anfangs massiv abgelehnt worden von den Fachgesellschaften und den damaligen Autoritäten.

    " Diese strengen Diätreglementierungen, die es für Patienten mit Diabetes gab, vor allem für junge Patienten mit Diabetes, waren nicht wissenschaftsbasiert, d.h. sie waren nicht durch wissenschaftliche Studien belegt, ... und diese haben wir schrittweise immer weiter aufgehoben, und es hat sich gezeigt, dass die Patienten sehr gut zurechtkommen, wenn sie gelernt haben, eigenständig ihre Insulintherapie durchzuführen,... und das haben wir auch wissenschaftlich begleitet, und dieses Konzept war ja sehr erfolgreich, das ist eines der wenigen Dinge aus dem Bereich der Diabetologie und der Inneren Medizin, den ich überblicken kann, der aus Deutschland nach England übernommen wurde."

    Ingrid Mühlhauser, seinerzeit eine Mitstreiterin von Berger und Sawicki, ist Professorin für Gesundheitswissenschaft in Hamburg.

    "In Düsseldorf haben wir immer versucht wissenschaftsbasiert zu arbeiten, ...das hat dazu geführt, dass wir viele Behandlungsformen nicht angewandt haben, die von der Mehrheit der Ärzte, Diabetologen und Fachgesellschaften empfohlen worden sind... Wir haben viele Jahre keine blutzuckersenkenden Tabletten eingesetzt. Zu dem Zeitpunkt damals gab es nur eine große wissenschaftliche Studie, und die hatte gezeigt, dass mit diesen Medikamenten die Sterblichkeit an Herzinfarkt zunimmt und nicht abnimmt. Es gibt inzwischen neue Studien, aber die Beweislage ist weiterhin nicht ausreichend.... "

    Vorbilder fanden die jungen Deutschen vor allem im Ausland. Ein Wegbegleiter wurde der Schotte Iain Chalmers, der zu den Pionieren der Evidenzbasierten Medizin in Großbritannien zählt. Der heute 62jährige hatte vor über 35 Jahren als Kinderarzt in Palästina praktiziert.

    " I was quite young, I had worked for two years already… "

    Ich war sehr jung, ich hatte erst zwei Jahre als Arzt in Großbritannien gearbeitet, aber ich war sehr beschämt, wie wir Briten die Palästinenser betrogen hatten, als wir noch Kolonialherren in diesem Teil der Welt waren. Und in einer ziemlich erbärmlichen Geste entschied ich, in einem palästinensischen Flüchtlingscamp als Arzt zu arbeiten. Aber dort habe ich viele Fehler gemacht, weil ich auf mein Lehrbuchwissen von der Medizinischen Hochschule vertraute. Heute weiß ich, dass vieles falsch war, und weil ich so behandelte, wie man mir es beigebracht hatte, litten und starben einige meiner kleinen Patienten. Das ist eine wirklich erschütternde Feststellung und machte mich für den Rest meines Lebens sehr skeptisch gegenüber Personen, die behaupten, eine Therapie sei wirksam, ohne verlässliche Beweise dafür zu haben.

    Chalmers hatte an der Hochschule gelernt, dass Kinder mit Masern nicht gleich Antibiotika bekommen sollten. Das Problem war aber: Die unterernährten Kindern im Flüchtlingslager hätten sie gebraucht, weil sie zusätzlich zu den Masern sehr rasch eine Lungenentzündung oder Durchfall entwickelten und nicht selten daran starben.

    "Es ist eine traurige Angelegenheit: Heute weiß ich, dass es seinerzeit bereits sechs kontrollierte Studien gab, die Hinweise dafür lieferten, dass die vorbeugende Behandlung mit Antibiotika Lungenentzündungen bei Kindern mit Masern verhindern kann. Wenn ich von diesen Daten gewusst hätte, hätte ich mein Lehrbuchwissen hinterfragt und darum gebeten, mir die Belege zugänglich zu machen, aber das war nie der Fall, ich erfuhr nicht von diesen Studien."

    Aus der traurigen Erfahrung wurde eine Lebensaufgabe. Chalmers zählt zu den Gründern der Cochrane Collaboration, einem internationalen Netzwerk, das medizinische Studien sammelt und bewertet sowie systematische Überblicksartikel erstellt, sogenannte Reviews. Heute arbeiten rund 12.000 Wissenschaftler in mehr als 90 Ländern für die Organisation.

    Therapien richten mitunter mehr Schaden als Nutzen an. Das gilt insbesondere für Arzneimittel. Jeder vierte Todesfall, so eine amerikanische Studie, geht auf Nebenwirkungen von Medikamenten zurück.

    " Zum Beispiel die Hormonersatztherapie in den Wechseljahren. Das ist ein ganz klassisches Bespiel, einer der größten Medizinirrtümer oder Medizinskandale, den wir erlebt haben, wo man über viele Jahre hinweg Millionen von Frauen mit dem Versprechen behandelt hat, dass man Krankheiten verhüten und Leben verlängern kann, und das hat man gemacht aufgrund von Untersuchungen, die im Labor durchgeführt wurden, an Tieren durchgeführt wurden, Kurzzeituntersuchungen, wo man gesehen hat, dass Hormone den Cholesterinspiegel senken, dass verschiedene andere Parameter sich verbessern. Aber als man hinterher tatsächlich einmal die nötigen Langzeituntersuchungen gemacht hat, die sich über viele Jahre hingezogen haben, hat man herausgefunden, dass diese Medikamente mehr schaden als nützen. Das heißt, man hat ja immer erzählt, die Medikamente vermindern die Herzinfarktsterblichkeit um 50 Prozent, aber in Wirklichkeit haben sie sie erhöht."

    Solche Zusammenhänge kann man nur in großen kontrollierten Studien erkennen, der einzelne Arzt hat keine Chance. Misstrauen gegenüber der persönlichen Erfahrung ist deshalb eine Grundregel der Evidenzbasierten Medizin. Vermutlich haben die Düsseldorfer Ärzte um Michael Berger manchem Patienten das Leben gerettet, indem sie das zum Motto ihrer Behandlung machten. International fand das Institut für seine Arbeit große Anerkennung.

    " Wir waren das einzige WHO Zentrum für Diabetes in Deutschland, wir haben den Vorsitz der europäischen Diabetesgesellschaft übernommen, wir haben die Hauptzeitschrift für Diabetologie herausgegeben, die Diabetologia, ... Und das hat in meinen Augen zu Neid und auch zu Aggressivität bei den anderen Kollegen geführt und infolge dieser Entwicklung ist nach dem Tod von Michael Berger dieser Lehrstuhl nicht wieder besetzt und die Abteilung leider aufgelöst worden. Das ist ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die sich um eine Steigerung der Spitzenwissenschaft in Deutschland bemühen, wenn solche Institutionen einfach aus der universitären Landschaft verschwinden."

    Die evidenzbasierten Studien verkünstlichen die Therapiewirklichkeit. Der Therapiealltag ist multifaktoriell geprägt, die evidenzbasierten Studien monokausal. ...So entstehen Karikaturen von dem, was Therapie ist.

    Karlheinz Bayer, Deutsches Ärzteblatt. November 2003

    " Wir gehen jetzt auf die Station 3c, die ist geteilt zwischen Orthopäden und Internisten, wobei geteilt heißt, jeder hat ein Bettenkontingent, ..."

    Die Parkklinik in Berlin. Der Internist Stefan Müller-Lissner eilt zur Visite.

    " Müller-Lissner: Guten Morgen, wir wollten Krankenhausvisite bei Ihnen machen. Wolln Sie uns nicht begrüßen?

    Patientin: Nee

    Müller-Lissner: Nee? Warum nicht? Machen Sie doch wenigstens mal die Augen auf, schaun Se mal, wie viele Weißkittel hier sind, wolln Se mal durchzählen? Hm?"

    Die betagte Patientin ist nur schwer aus ihrem Dämmerschlaf zu wecken. Die Frau hat gleich mehrere Leiden – ein Lungenödem, Herzprobleme, vor einiger Zeit einen Schlaganfall, Inkontinenz, eine akute Harnwegsentzündung. Mit evidenzbasierter Medizin ist es da so eine Sache. Der durchschnittliche Teilnehmer einer klinischen Studie hat mit den mehrfach kranken Patienten im normalen Klinikalltag wenig gemein. Der Musterproband hat ein einziges, klar definiertes medizinisches Problem. Die vielfach Kranken brauchen mehrere Therapien zugleich, deshalb tauchen sie kaum in Studien auf.

    " Kein vernünftiger Verfechter der Evidenzbasierten Medizin sagt, dass er allein aufgrund von Studienergebnissen die Patienten behandelt, sondern wer das ernst nimmt, der sagt, diese wissenschaftliche Basis braucht er unbedingt, sonst schwimmt er völlig, was er aber außerdem braucht ist eine medizinische Erziehung und medizinische Erfahrung, wenn er die nicht hat, kann er auch nicht entscheiden, was im Einzelfall anzuwenden ist, und das Dritte ist die Einbeziehung der Persönlichkeit und der Wünsche und der persönlichen Situation des Patienten....
    Wenn ich jemandem erkläre, was Evidenzbasierte Medizin ist, sagt der hinterher, na und? Ich hab immer gedacht, dass Medizin so läuft, aber sie läuft in der Regel nicht so. "

    Deshalb hat Stefan Müller-Lissner die Dinge in seiner Abteilung selbst in die Hand genommen. Die Parkklinik gilt als das erste Krankenhaus Deutschlands, das evidenzbasierte Medizin konsequent im Klinikalltag praktiziert. Müller-Lissner verpflichtete alle festangestellten Ärzte, einen Kurs in der Interpretation wissenschaftlicher Studien zu belegen: War die Fragestellung sinnvoll? Wurden genug Patienten einbezogen, um zu verlässlichen Daten zu gelangen? Führte man die Studie so durch wie geplant oder wich man vom ursprünglichen Konzept ab, was die Aussagekraft schmälert?

    Aber das alleine reicht noch nicht. Alle fünf Jahre verdoppelt sich das medizinische Wissen, jede Woche erscheinen schätzungsweise zwei Millionen Aufsätze in medizinischen Fachzeitschriften. Wer soll das alles lesen? Die Ärzte brauchen Orientierungshilfe im Dschungel der Publikationen.

    " Ja? Guck mal in die Leitlinie, ja, müsste drin sein, man kann natürlich als Iv-Bolus was vorschicken, aber dann ist erst mal die orale Therapie, wenn man ganz sicher gehen will, wenn man schnell behandeln will, aber eigentlich nach Leitlinie ist es 80 mg, gut tschüss."

    Jan Kreutzkamp ist Assistenzarzt in der Abteilung Innere Medizin der Parkklinik.

    " Das war die Frage der Behandlung einer Arthritis temporalis rotten, das ist eine Gefäßentzündung bestimmter Arterien, die mit starken Kopfschmerzen einher geht, die ein Autoimmungeschehen ist, und wo man früh hochdosiert mit Cortison reingehen muss..., und da haben wir zum Beispiel eine Leitlinie, die ja bei uns im Haus erarbeitet werden nach Studienlage ..

    Wenn’s um Evidenzbasierte Medizin geht, ist es natürlich so, wir können natürlich nicht für jeden Patienten immer sofort alle Studien durchlesen, das ist ja nicht möglich und deswegen ist es so, dass in unserem Haus Leitlinien erarbeitet wurden, zu bestimmten Krankheitsbildern, die wir häufiger haben oder die nicht ganz selten sind."

    " Hier können Sie rumnavigieren, je nachdem was auf Ihren Patienten zutrifft..."

    Stefan Müller-Lissner klickt sich durch die hausinternen Leitlinien. Jeder Arbeitsplatz der Parkklinik hat im Intranet Zugriff darauf. Schritt für Schritt erläutern sie, was bei einem medizinischen Problem zu tun ist.

    "Wenn Sie Verdacht auf akuten Myocardinfarkt haben, akuter Herzinfarkt, können Sie schauen, was ist die Definition, wie sichert man die Diagnose; wenn Sie da rein gehen sehen Sie erstens die typische Klinik, zweitens typisches EKG, drittens Laborwerterhöhung, wann kann ich davon ausgehen, dass ich tatsächlich einen Infarkt vorliegen habe. Und wenn mal die Diagnose gesichert ist, dann ist die Frage, was mach ich, wie sieht die Akuttherapie aus, wie die konservative Therapie, was gibt’s für Komplikationen und wie kann ich die behandeln."

    Zu rund 100 Themen gibt es in der Parkklinik mittlerweile interne Leitlinien. Sie stützen sich auf die besten verfügbaren Studien - und bisweilen auf die nationalen Leitlinien von medizinischen Fachgesellschaften.

    Die Patienten profitieren von den hausgemachten Leitlinien, weil sie gesichertes Wissen selbst unter Zeitdruck nutzbar machen. Auch für junge Ärzte ist die Orientierungshilfe wertvoll.

    "Weil es sie von der Angst befreit, weil sie dann begründen können, warum sie einen Patienten in der Nacht so und nicht anders behandelt haben..."

    Peter Sawicki, der streitbare Rebell, wechselte im Jahr 2000 von der Düsseldorfer Universitätsklinik an ein ganz normalen Krankenhaus. Er wurde Chefarzt am St. Franziskus Hospital in Köln.

    "Sie können sich darauf berufen, sie können am nächsten Tag sagen, ich habe den Herzinfarkt, den Schlaganfall, die Lungenembolie so behandelt, weil wir das so grundsätzlich machen. Das schafft eine Sicherheit für junge Ärzte, das ist sehr wichtig, ich glaube, dass sich die Qualität der Arbeit der jungen Mediziner verbessern würde und auch ihr Selbstvertrauen, wenn man das in einem breiteren Maß anwenden würde. "

    Während seiner vier Jahre am St. Franziskus Hospital krempelte Sawicki die Abteilung für Innere Medizin um – nach den Prinzipien der Evidenzbasierten Medizin. Alle Ärzte belegten Kurse, in denen sie lernten, wie man wissenschaftliche Studien interpretiert. Ein Mediziner war freigestellt, um interne Leitlinien für die häufigsten medizinischen Probleme zu erarbeiten. Unzureichend geprüfte Medikamente wurden aus der Krankenhausapotheke verbannt.

    "Also gerade im Bereich der Diabetologie gab es einige Widerstände, dadurch dass wir uns auf sichere und nachweislich nützliche Wirkstoffe bei der Behandlung des Diabetes verlassen haben, gab es eine Verwerfung zur Verordnungspraxis der Diabetesschwerpunktpraxen, die das als Affront verstanden haben, die Innovation und das Neue zu blockieren. "

    Nur eine Handvoll Abteilungen in deutschen Krankenhäusern arbeitet derzeit konsequent nach den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin. Am St. Franziskus Hospital ist nach Sawickis Weggang im Jahr 2004 wieder Alltag eingekehrt.

    Die Freiheit des Arztes zu einer selbstbestimmten Therapie ist heute leider nicht mehr die Norm, sondern zur Ausnahme geworden....Ein großer Vorteil ärztlichen Urteils bleibt dabei auf der Strecke, nämlich die Bezogenheit auf den Einzelfall, die Individualisierung. Sobald aber Schemata und die Statistik die Macht übernehmen, erübrigt sich ein Arzt, denn der Kollege Computer verfügt ... über größere Speicherfazilitäten.

    Manfred Doepp, Deutsches Ärzteblatt. November 2003

    " Er sagte mir, du hättest geguckt und ich müsse nur noch die Überweisung zum HNO Arzt machen, da hat er uns ausgetrickst ...

    Egidi: Sauerei, aber du hast meinen Text gelesen?.... Er hat zu laut Disko gehört und hinterher konnte er nicht gut hören und ich hab gesagt: Da brauchen Sie nicht hin, der HNO Arzt kann sowieso nichts machen

    Schelp: Er hat mich ausgetrickst

    Egidi: Der hat uns richtig link ausgetrickst."

    Holger Schelp und Günther Egidi, die beiden Bremer Hausärzte, arbeiten halbtags und im Wechsel. Die Mittagspause nutzen sie für die Übergabe. Schelp berichtet seinem Partner Egidi, wer am Morgen in die Sprechstunde kam. Zum Beispiel eine Krebspatientin, die bereits Metastasen entwickelt hat, also nicht mehr heilbar ist.

    " Schelp: Ich hab sie noch mal gefragt, und ihre Antwort auf deine Frage, wie viel Tumornachsorge sie will und was das für Konsequenzen für sie hat, war: Sie will alles, sie würde auch alle Therapien machen, und nicht sagen, wenn ich jetzt was Ultraschlimmes habe, will ich es nicht wissen, will sie alles in Kauf nehmen

    Egidi: Individualisierte, evidenzbasierte Medizin: die Patienten werden gefragt, wie viel Tumornachsorge wollen sie haben, nicht nach Schema F, sondern die Patienten werden gefragt: Wenn was Schlimmes rauskommen würde und man nicht viel machen kann, wollen Sie es wissen? Und soll man dann die Untersuchung überhaupt machen?"

    Viele Therapieenscheidungen sind eine Frage der Abwägung, und der Arzt muss in der Lage sein, dies seinem Patienten zu vermitteln. Deshalb ist das Gespräch ein wichtiger Teil der evidenzbasierten Medizin. Auch eine dieser scheinbaren Selbstverständlichkeiten.

    In der Bremer Praxis erproben die Mediziner eine neue Form der Kommunikation. Sie kommt aus Kanada und wird an der Universität Marburg auf deutsche Verhältnisse angepasst. Niedergelassene Ärzte wie Egidi und Schelp arbeiten dabei mit. Das Konzept soll Patienten komplexe Information anschaulich machen.

    " Wir machen jetzt ja die Herz-Kreislauf-Vorsorgeuntersuchung, und ich bin ganz froh, ihnen das vorstellen zu können, von unserer Fachgesellschaft für Allgemeinmedizin, unser Beratungskonzept zum Thema, und zwar ist das Zentrale: Es gibt keine einzelnen Grenzwerte, es ist nicht wichtig wie das Cholesterin ist, nicht wichtig wie der Blutdruck ist, im einzelnen, sondern das alles zusammen ist wichtig.
    .
    Sie sind Jahrgang 53, 52 Jahre, ja, richtig? Gut, 7 Punkte.
    Cholesterin 151: -3
    HDL, das ist das Schutzcholesterin, das in Anführungszeichen gute Cholesterin: 0 Punkte
    Zucker: nischt mit Zucker, null"

    Egidi geht mehrere Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen durch und vergibt dafür Punkte. Sie werden am Ende addiert und ergeben das Gesamtrisiko der Patientin: Je höher die Punktzahl umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den nächsten fünf Jahren einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleidet.

    " Ich habe hier diese ganzen Risiken zusammen gezählt, Alter und Geschlecht, Männer stehen da immer ein bisschen schlechter da als die Frauen, ... gesamtes Cholesterin, Zucker, Blutdruck, Rauchen, da sehen Sie hier schon lauter Nullen, und wenn wir uns die gleich alten Frauen ansehen, Frauen 50 bis 59 Jahre, haben wir im Schnitt ein Risiko von 2,5. Ihr persönliches Risiko liegt bei eins, deutlich Klassen drunter."

    Mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen ist schwierig. Wer weiß zum Beispiel schon, was 40 Prozent Regenwahrscheinlichkeit bedeutet? Deshalb erläutert Egidi der Patientin ihr Risiko nicht nur mit Worten, sondern demonstriert es auch anhand einer Grafik. Auf einem Blatt Papier sind 100 Smileys aufgemalt, 93 davon gelb, drei grau.

    "Und wenn wir uns diese Smileytabelle angucken, diese 100 Smileybilder entsprechen 100 Doppelgängerinen von ihnen, dann würde das Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall in den nächsten fünf Jahren bei eins liegen, eine Doppelgängerin würde das kriegen und 99 nicht. Die gleich alten Frauen würden in zwei bis drei Fällen, so dass wir sagen können: alles, was hier unten steht mit Medikamenten zu tun hat - bei diesem Risiko verbietet sich das, Blutdrucksenkung, Cholesterinsenkung ..."

    Ein Kardiologe hatte das kürzlich noch anders gesehen. Er hatte der Patientin den Wirkstoff Acetylsalicylsäure, kurz ASS empfohlen, als Vorbeugung gegen Herzinfarkt.

    "Egidi: Im Prinzip von der Risikoberechnug, klare Sache: Abzuraten, ASS das ist das alte Aspirin, nur weniger, macht aber doch in geringem Prozentsatz Magenbluten, auch in ner kleinen Dosis, und wenn das Risiko, dem Sie ausgesetzt sind, so niedrig ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass durch ASS ein Schaden am Magen entsteht höher als dass es Ihnen fürs Herz was nützt.
    Patientin: Und da mein Magen sowieso sehr nervös ist, würde ich ihn gerne schonen.
    12.06 Ich bedanke mich.
    Egidi: tschüs
    Patientin: tschüs"

    Was bis vor kurzem die bereitwillige Annahme von Lehrmeinungen war, ist heute der Glaube an die Allmacht der Evidenzbasierten Medizin. Bei aller Euphorie über Evidenzbasierte Medizin sollte das kritische Nachdenken über ärztliches Handeln nicht auf der Strecke bleiben. Den Ärzten muss bewusst sein, dass mit dieser Methode auch Manipulationen von gewaltiger sozioökonomischer Bedeutung stattfinden.

    Feraydoon Niroomand, Deutsches Ärzteblatt, Juni 2004

    Bonn im November 2005. Die Crème de la Crème der Evidenzbasierten Medizin hat sich versammelt, Wissenschaftler aus Großbritannien, den Niederlanden, Finnland, Italien und Deutschland. Eingeladen hat ein alter Bekannter, Peter Sawicki. Seit 2004 leitet er das neu gegründete Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz IQWIG. Sawicki kann nun im Großen umsetzen, was er im Kleinen begonnen hat. Das IQWIG soll den Nutzen medizinischer Maßnahmen beurteilen, nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin. Dafür stehen dem Institut knapp 60 Mitarbeiter und ein Jahresetat von rund elf Millionen Euro zur Verfügung.

    "Ich möchte mit einer Gratulation beginnen, ich gratuliere dem IQWIG nicht nur für das, was es erreicht hat, sondern für sein Überleben. Ich sage das mit einiger Leidenschaft, weil ich als sehr jungen Mann in den späten 70er Jahren beauftragt wurde, eine Forschungsinstitution zu gründen, in einem Umfeld von intensiver politischer Anteilnahme, Aktivität und Kritik. Von daher habe ich eine Vorstellung davon, was es für Peter Sawicki und seine Kollegen bedeuten muß, eine solche Organisation in Deutschland aufzubauen. Es ist sehr schwierig und ich gratuliere Ihnen zum Überleben."

    Auch Iain Chalmers ist gekommen, der alte Kämpe aus Schottland. In Großbritannien ist die evidenzbasierte Medizin inzwischen gut etabliert. Längst gibt es ein dem IQWIG vergleichbares Institut, das National Institute for Health and Clincal Excellence, kurz Nice. Chalmers selbst wurde für seine Verdienste um die wissenschaftliche Heilkunst im Jahr 2000 sogar zum Ritter ernannt.
    "Meine Hausdisziplin ist die Geburtshilfe, und zu der Zeit, da wir in unserer Organisation aktiv waren, pflegte man uns die Bader-Meinhof-Bande der Geburtshilfe zu nennen. Das gibt Ihnen eine gewisse Vorstellung von unserem Ruf, insbesondere bei den Geburtshelfern, die Kinderärzte waren etwas milder."

    ... the paediatricians were a bit more generous.

    Sprecherin
    Im Jahr 2006 ist die Bader-Meinhof-Bande kein Thema mehr. Die Evidenzbasierte Medizin hat mit dem IQWIG die offiziellen Weihen empfangen und auch Eingang ins Sozialgesetzbuch gefunden. Sogar die Pharmaindustrie ist sehr dafür - grundsätzlich.

    "Für mich ist die Evidenzbasierte Medizin die Basis aller vernünftigen Therapie überhaupt, das heißt Substanzen, die nicht nach den Kriterien der Evidenzbasierten Medizin überprüft sind, haben für mich einen deutlich geringeren Stellenwert als solche die in sogenannten randomisierten Studien überprüft wurden."

    Michael Herschel, Leiter der klinischen Forschung bei GlaxoSmithKline in Deutschland.

    " Grundsätzlich, glaube ich, ist das die richtige Richtung."

    Andreas Barner, Vorstandsvorsitzender des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller und Deutschlands führender Pharmalobbyist.

    "Ich glaube, dass wir Empfehlungen geben sollten, aufgrund der gesamten Breite der Evidenz, und ich denke auch, dass die internationalen Fachgesellschaften, aber auch internationale Gruppen in den letzten Jahren eine sehr gute Technik entwickelt haben, wie man evidenzbasierte Handlungsempfehlungen entwickeln kann, ... und ich denke, das ist eine gute Methode, das so zu machen.
    erbittert "

    Aber wenn es konkret wird, hat die Pharmaindustrie doch einiges zu kritisieren. Gleich das erste Arbeitspapier des IQWIG rief wütenden Protest hervor. Es ging um den Cholesterinsenker Atorvastatin der Firma Pfizer, aus der Gruppe der sogenannten Statine. Angeblich soll die Pfizerpille – Markenname Sortis - besser vor Herzinfarkten schützen als andere Präparate. Dafür verlangt Pfizer einen hohen Preis. Für kein anderes Medikament mussten die Krankenkassen im Jahr 2004 mehr Geld erstatten.

    "In der Regel gibt es keine Patientengruppe, für die dieses Präparat besser ist als diese Statine, die billiger sind und besser untersucht sind..., im Gegenteil, die Nebenwirkungen von Atorvastatin sind sogar schlimmer als die von anderen Statinen, zum Beispiel von Simvastatin. Zum Beispiel die Magendarmbeschwerden sind geringer unter Simvastatin, die Schädigung der Leber fällt unter Simvastatin geringer in der Hochdosis aus als unter der Hochdosis von Atorvastatin."

    Als Konsequenz dieser Bewertung werden die Kosten für Sortis von den Krankenkassen nur noch bis zu dem Betrag übernommen, der auch für andere Statine erstattet wird. Den Rest müssen die Patienten aus der eigenen Tasche zahlen - für die 100 Tabletten Packung 50 Euro.

    In der Folge schrumpfte der Marktanteil von Sortis an den Cholesterinsenkern von rund 40 Prozent auf fünf Prozent.

    Der weltgrößte Pharmakonzern mochte sich damit nicht abfinden. Er brachte Tausende von Ärzten dazu, per Unterschrift zu protestieren, schaltete eine aufwändige Anzeigenkampagne in der Publikumspresse und zog vor Gericht. Allerdings verlor Pfizer den ersten Prozess vor dem Berliner Sozialgericht im Dezember 2005. Der Konzern geht in die Berufung.

    Die Überlebenschancen im Wettstreit der Evidenzbasierten Medizin sind definitiv ungleich...Die kostenaufwendige moderne Forschungslogistik lohnt sich bei Erkrankungen, die große Teile der Bevölkerung betreffen. Begünstigt werden pharmazeutische Unternehmen, die mit wenigen Medikamenten großen Umsatz machen. .. Viele Erfolg versprechende Therapien werden dagegen nur schlecht oder nie überprüft, zumal wenn sie sich nicht durch Patente schützen lassen.

    Gunver Kienle, Peter Matthiessen, Helmut Kiene. Deutsches Ärzteblatt. August 2003

    Die Pharmaindustrie sorgt sich also um Transparenz. Das ist erstaunlich, geradezu unverhofft. Denn die Industrie wird seit Jahren dafür kritisiert, dass sie es im Umgang mit Daten an der nötigen Transparenz mangeln lasse.

    Oft verschweigen oder ignorieren Konzerne Daten, wenn sie unerwünscht sind. Ein Beispiel aus jüngster Zeit sind Schmerzmittel aus der Klasse der sogenannten Coxibe. Noch vor drei Jahren zählten sie zu den best verkauften Medikamenten weltweit. Dann wurde bekannt, dass Coxibe die Gefahr von Herzproblemen mit sich bringen. 2004 mußte die Firma Merck ihr Mittel Vioxx vom Markt nehmen. Ein Jahr später setzte Pfizer den Verkauf von Bextra aus. Das Schwesterpräparat Celebrex von Pfizer bekam in den USA einen auffälligen Warnhinweis verpasst.

    Doch die Gefahren hätten viel früher publik sein können. Offenbar haben die Konzerne ihre Studien nicht sehr risikobewusst ausgewertet. So wären nach einer Analyse Schweizer Wissenschaftler die Risiken von Vioxx bereits Ende 2000 belegbar gewesen. Die Forscher hatten die öffentlich zugänglichen Studiendaten zu Vioxx sorgfältig analysiert.

    Ian Chalmers hat jahrelang mit dem Verband der britischen Arzneimittelhersteller und einzelnen Unternehmen verhandelt, um die Veröffentlichungspraxis transparenter zu gestalten. Bloße Worte halfen allerdings nichts.

    "Schließlich kam Bewegung in die Sache. Der Grund: Eliot Spitzer, Generalstaatsanwalt im Staat New York, hatte GlaxoSmithKline vor Gericht gebracht, weil das Unternehmen Informationen über wichtige mögliche Nebenwirkungen von Antidepressiva bei Kindern unterschlagen haben soll. "


    Die Anklage des Generalstaatsanwalts lautete auf fortgesetzten Betrug. Einige junge Patienten hatten Selbstmordgedanken entwickelt, während sie die Pille Seroxat von GlaxoSmithKline einnahmen. In der entsprechenden Publikation wurde dies zwar erwähnt, doch die Autoren spielten die bedenkliche Nebenwirkung herunter.

    Eine andere Untersuchung ergab: Ein Placebo hilft besser als Seroxat. Sie wurde gar nicht erst veröffentlicht.

    GaxoSmithKline ließ es auf den Prozess lieber nicht ankommen, sondern zahlte zwei Millionen Euro an die Staatskasse.

    In einem vertraulichen Dokument, das der BBC später zugespielt wurde, hatte eine für Marketing zuständige Abteilung des Konzerns dafür votiert, die Verbreitung der Daten "wirkungsvoll zu steuern, um jegliche negative kommerzielle Wirkung zu minimieren".

    " Das ist natürlich eine Haltung die wir als GlaxoSmithKline nicht tolerieren..."

    Michael Herschel von Glaxo Smith Kline.

    "und das ist natürlich klar, dass in der Konsequenz einer solchen Aktivität, die ethisch extrem fragwürdig ist, dass man dann konsequent sein muss, damit so was nicht wieder vorkommt."

    In der Folge richtete Glaxo Smith Kline ein Online-Register für klinische Studien ein. Auf der Website des Konzerns sollen ausführliche Zusammenfassungen aller abgeschlossenen Studien veröffentlicht werden.

    Ein gewisser Druck hilft immer noch am besten, damit den guten Vorsätzen der Pharmaindustrie auch Taten folgen. Renommierte medizinische Fachzeitschriften beschlossen nach der Anklage gegen GlaxoSmithKline, dem Verschwinden von Daten entgegen zu wirken. Im September 2004 gaben sie bekannt: Publikationen werden künftig nur noch veröffentlicht, wenn die Studien zu Beginn in einem Register gemeldet wurden, so dass ihr Schicksal nachverfolgt werden kann. Die Konzerne zogen mit einer freiwilligen Selbstverpflichtung nach. Nun wollen sie alle Studien in einem frei zugänglichen Register anmelden und die Ergebnisse anschließend veröffentlichen.

    "Offengestanden Ich glaube nichts mehr, was die Industrie sagt. Ich muss überzeugt werden, durch eine besondere Anstrengung der Industrie, damit ich das glaube, aber meine Ausgangsposition ist, ich glaube es nicht."

    Der Begriff Evidenzbasierte Medizin hat sich inzwischen lawinenartig verbreitet. ...Der Begriff infiltriert Konferenzen, Zeitschriften, Bücher und Gesetze, ohne dass die meisten Anwender genau wissen, was gemeint ist...Die Reduktion der Medizin auf die statistische Mathematik wird ihrer Humanität abträglich sein.

    Peter von Wichert, Deutsches Ärzteblatt vom Juni 2005

    Der Hausarzt schlägt sich unterdessen mit banaleren Problemen herum.

    " Sie waren ja bei Herrn Schelp gewesen, ... jetzt geht’s worum?
    Patientin Ich hätte gerne ein paar Massagen für hier oben, ich bin ab Donnerstag in Bad Wildungen, das ist ja ein Kurort, da würde ich so ne Thermen nutzen, und auch mir ein paar Massagen geben lassen."

    Der Patientin tut der Nacken weh, manchmal so sehr, dass sie davon Kopfschmerzen bekommt. Günther Egidi untersucht die Halswirbelsäule und zieht dann sanft den Kopf der Frau nach oben.

    " Das ist die weichere Technik und das halte ich für sinnvoll zu machen, unten Massage ist wie ein Haus mit Stroh oder mit Zeitungen heizen,
    Patientin: Doch aber wenn man das mit Wärme macht, das bringt was, ich weiß, dass ich das, ewig schon her, auch schon hatte, aber eigentlich mit Wärme bringt das was.
    Egidi: Das ist jetzt nur durch die Streckung der Halswirbelsäule, und man sollte hier oben arbeiten, hier oben arbeiten, dass Sie zum Beispiel gegenhalten gegen meinen Daumen und dann wieder locker lassen, die sogenannte Mobilisation. "

    Egidi empfiehlt der Patientin Krankengymnastin und macht Anstalten, das Rezept im Computer auszudrucken

    "Patientin: Also mir persönlich wären Massagen lieber gewesen, weil ich das wirklich auch von anderen höre, das ist ja eine Berufskrankheit auch, die wirklich durch Massage und Wärme ne Linderung reinkriegen
    Egidi Gut, ich schreib Ihnen das gegen jede Überzeugung auf jetzt, vier mal Massagen, dann machen Sie das halt.
    Patientin: 4, 0.26 Gut, Herr Doktor ja danke schön tschüss (Schritte)
    Egidi 4, 1.09 Sie hat n Befund, und es ist nicht die richtige Maßnahme, aber die Patienten müssen die richtige Maßnahme auch wollen, das muss man einfach auch abwägen, und im Zweifelsfall einen Kompromiss machen, ich hab das reduziert, ich werde das sicher auch nicht wiederholt verordnen, und sie wird selber merken, dass es wahrscheinlich wiederkommen wird und dass man was anderes machen muss, und dann kann man da einsetzen. Wenn ich jetzt die Tür zuschliesse, ist das Gespräch mit ihr beendet."