Freitag, 03. Mai 2024

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Recherche-Projekt "36566 Tage"
Schicksale im Kontext der Urkatastrophe

In Salzburg ist Hans-Werner Kroesinger mit Studierenden des Mozarteums auf Recherchereise in die Vergangenheit gegangen. Das daraus entstandene Projekt heißt "36566 Tage" - genau so viele Tage sind seit den Schüssen von Sarajewo 1914 bis zum Premierenabend gestern vergangen.

Von Sven Ricklefs | 09.08.2014
    Die zeitgenössisch colorierte Fotografie aus der deutschen Propaganda zeigt eine deutsche Maschinengewehr-Kompanie (M.G.K.) beim Vormarsch an der lettischen Ostseeküste, aufgenommen 1917.
    Die zeitgenössisch colorierte Fotografie aus der deutschen Propaganda zeigt eine deutsche Maschinengewehr-Kompanie (dpa / picture alliance / Archiv Neumann)
    Die letzte Station ist zugleich die schöne: Der kleine Raum ist nachtschwarz, man kann sich niederlegen auf einer Spiegelfläche und über einem wölbt sich der Sternenhimmel, so wie er am Firmament von Salzburg stand, am 28.Juli 1914, am Tag an dem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte. "Sternstunden" heißt diese Installation, die einen Sommerhimmel zeigt, der so schön ist wie jeder andere und der doch über einem Datum stand, das wie ein Tor war zu einem Jahrhundert von Krieg, Tod und Zerstörung im bisher nie gekanntem Ausmaß.
    "Liebste Burga, liebe Burga, liebste Burga und Franz..."
    An einer anderen Station sind es diese Briefe, mit denen man sich auseinandersetzen muss, mal chorisch, mal im Wechsel vorgetragen, setzen sie im Kaleidoskop ein Bild zusammen. Es sind Briefe von Karl Aicher, dem Sohn des Marionettentheater-Gründers von Salzburg, der 1914 wie so viele in den Krieg muss, der in russischer Gefangenschaft erkrankt, der als Austauschgefangener schließlich nach Österreich zurückkehrt und aus der Lungenheilanstalt Grafenhof Briefe an die Familie schreibt, täglich:
    "Liebste Eltern: Hast Du schon neue Puppen angefangen? Liebste Burga: Du bist auch mit Deiner Zahnlücke hübsch. Besuchen kann man mich jeden Tag. Nachmittags. Liebste Burga: Meinem Baucherl geht's schon besser, habe vom Herrn Kaplan Abführpillen bekommen."
    Parcours mit 17 Orten
    Mit nur 26 Jahren stirbt Karl Aicher an Tuberkulose. Seine Briefe haben nun Studenten des Mozarteums bei ihren Recherchen in einer Abstellkammer des Marionettentheaters gefunden. Ein Jahr waren sie im Rahmen ihres Projekts "36566 Tage" im Salzburger Raum auf der Suche nach Biografien von Menschen, die bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren so alt waren, wie sie heute. Mit dem Dokumentartheaterregisseur Hans-Werner Kroesinger als Mentor ist dabei ein Parcours von 17 Orten in der ehemaligen Salzburger Franz-Josef-Kaserne entstanden. Es sind 17 Konfrontationen mit Szenen, Monologen und mit Installationen, die im Kern immer ganz intim Schicksale im Kontext dieser Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts berühren.
    Dabei hat Kroesinger den Studierenden aus den Klassen von Regie, Schauspiel, Bühnenbild und Komposition merklich freie Hand gelassen, ihnen nicht seine spezifisch-eigene Handschrift aufgedrückt. Trotzdem haben sich die meisten für eine Art andeutenden Realismus entschieden, der die jeweiligen Biografien verortet, ohne sich im Detail zu verlieren. Während die vier Darsteller ihre Collage aus Karl Aichers Briefen unter freiem Himmel zwischen Lazarettbetten aufführen, spielen zwei andere im zweiten Stockwerk Fußball und gehen dabei der Frage nach, wie aus den ersten Salzburger Fußballern Soldaten wurden:
    "Laufen, ducken, sprinten, schießen und laufen und sprinten, ducken, schießen... Drüber."
    Kein Detail bleibt erspart
    Hier handelt es sich um Otto Dorfritz aus Hallein, er ist 25 Jahre alt. Diagnose: zerrissenes Gesicht, Oberlippe und Nase weggerissen vermutlich durch Minenwurf.
    Fotos verstümmelter Gesichter liegen an den Kopfenden der Pritschen, vor denen eine Krankenschwester in Nonnentracht nüchtern aus den Krankenakten liest. "Front/Frauen" heißt diese Station, die einem kein Detail erspart:
    "Nach Trennung aller Weichteile, vertauscht der Operateur das Amputationsmesser mit einer Amputationssäge."
    Auch und gerade im Angesicht der sehr jungen Schauspieler und ihrem jugendlichen Darstellungswillen wird einem hier noch einmal besonders deutlich - dass es gerade die Jugend ist, die Gesellschaften dem Schlachthaus mit Namen Krieg in den Rachen werfen. Sechs Stationen sieht man als Zuschauer insgesamt, während man mit seiner kleinen Gruppe über mehrere Stunden durch die Kaserne zieht, sechs Stationen und Weitem nicht alles und doch entlässt einen dieses Projekt auf eine sehr nachhaltige Weise berührt.