Samstag, 20. April 2024

Rechtsextreme Akteure
"Autonome Nationalisten" - junge Neonazis mit SA-Ambitionen

Sie geben sich urban, übernehmen Mode, Stilelemente und sogar die Aktionsformen der linken Szene: Doch ideologisch vertreten die „Autonomen Nationalisten“ rechtsextremen Positionen, verherrlichen sogar offen den Nationalsozialismus – und sind extrem gewaltbereit.

15.07.2020
    Neonazi-Demonstration von sogenannten Freien Kameradschaften und "Autonomen Nationalisten" in Wittstock (Brandenburg)
    Die "Autonomen Nationalisten" haben sich Stil und Symbole der Linksautonomen angeeignet - hier z.B. die Antifa-Fahne (imago/Christian Ditsch)
    Die "Autonomen Nationalisten" (AN) sind eine relativ junge Strömung des deutschen Neonazismus. Kenner der Szene halten sie für eine der gefährlichsten Gruppierung innerhalb des militanten rechtsextremen Spektrums.
    Wie sind die "Autonomen Nationalisten" entstanden?
    Die "AN" organisierten sich zu Beginn der Nullerjahre lokal aus den sogenannten Freien Kameradschaften heraus – zunächst in Berlin. Dabei distanzierten sie sich mehr und mehr von den alten Kameradschaften mit ihren strengen Regeln, hierarchischen Strukturen und Aktionsformen – ebenso wie von der rechtsextremen gewaltbereiten Skinheadszene.
    Statt Springerstiefel, Bomberjacke und Glatze trugen sie bei Aufmärschen und Demonstrationen schwarze Kapuzenpullover, Palästinensertuch, Cap und auch schon mal ein Che-Guevara-T-Shirt. Neben dem optischen Erscheinungsbild der Linksautonomen kopierten und verfremdeten sich auch deren Symbole, etwa die Antifa-Flagge, und eigneten sich zudem deren Aktionsformen an: Am 1. Mai 2004 versuchten die "Autonomen Nationalisten" bei einem von der NPD angemeldeten Aufmarsch in Berlin erstmals einen "Schwarzen Block" zu formieren und damit Polizeiketten zu durchbrechen – ein gewaltsames Vorgehen, das bis dahin nur die linksextreme autonomen Szene einsetzte.
    Neonazi-Demonstration von "Autonomen Nationalisten" und NPD in Berlin
    In ihrem Auftreten nur noch schwer zu unterscheiden: "Autonomer Nationalist" oder Linksautonomer? (imago/Christian Ditsch)
    Inzwischen sind "Autonome Nationalisten" in ihrem optischen Erscheinungsbild kaum noch von Linksautonomen zu unterscheiden – selbst für Angehörige der jeweiligen Gruppierung: Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen soll es schon zu versehentliche Angriffe auf die eigenen Leute gekommen sein. Im Alltagsleben geben sich Anhänger der "AN" großstädtisch-urban, greifen auf gängige Trends anderer Jugendsubkulturen zurück, um rein äußerlich als Neonazis unerkannt zu bleiben. Gerade das macht sie in den Augen von Beobachtern so gefährlich: Denn in ihrer Gewaltbereitschaft stehen die "Autonomen Nationalisten" den Skinheads der 1990er-Jahre in nichts nach – sie agieren dabei aber deutlich zielgerichteter und disziplinierter.
    Ein Demonstrant hält bei einer Kundgebung ein Banner mit der Aufschrift "NSU". München, 2018.
    Radikalisierung und Ideologisierung - Soziologe: Rechtsextreme Gewalt wird nicht ausreichend beachtet
    Die Öffentlichkeit habe 2011 auf den NSU "schockiert" reagiert, doch seitdem habe sich die Situation deutlich verschlimmert, sagte der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent im Dlf.
    Organisation ohne Organisation
    Bei den "Autonomen Nationalisten" handelt es sich um eine neue Generation von Neonazis, die sich als "politische Speerspitze" versteht. Ihre Anhänger sind meist Jugendliche oder junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Diese bilden lose lokale Zusammenschlüsse ohne erkennbare Organisationsstrukturen. Regionalen Schwerpunkte befinden sich in Bayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen. Eine Vernetzung findet in Form von Aktionsgruppen statt. Aktivisten treten zumindest öffentlich nicht in Erscheinung. Es bestehen aber offenbar persönliche Kontakte von Mitgliedern der "Autonomen Nationalisten" zu Führungskadern der deutschen Neonazi-Szene.
    Schatten von Menschen, Text: Rechtsextremismus
    Rechtsextremismus - das Dossier zum Thema (dpa / Martin Schutt)
    Zur NPD und zu Gruppierungen von Altnazis gingen die "Autonomen Nationalisten" jedoch lange Zeit bewusst auf Distanz. Die jungen Neonazis waren den alten vor, sich einem modernen, jugendaffinen und auch aktionsorientiertem Auftreten und Erscheinungsbild des Neonazismus zu verschließen. Von ihren Anhängern fordern die "Autonomen Nationalisten" nur bedingt die Einhaltung vermeintlich deutsche Tugenden wie Disziplin oder Ordnung. Vielmehr versuchen sie - durch das Anknüpfen an Trends, Moden und Musik anderer Subkulturen - ihre Attraktivität für Pubertierende, Jugendliche und junge Erwachsene zu erhöhen.
    Tatsächlich kam es durch die AN zu einer Verjüngung der Neonazi-Szene in Deutschland. Trotzdem ist die Strömung innerhalb der Szene umstritten - wegen ihrer Annäherung an andere Subkulturen, ihres Erscheinungsbildes aber auch wegen ihrer extremen Gewaltbereitschaft.
    Ideologie
    Auch wenn die "Autonomen Nationalisten" versuchen sich hip, urban und zeitgemäß zu geben – inhaltlich bleiben sie ganz ihm Rahmen bekannter rechtsextremistischer Positionen. "Die 'Autonomen Nationalisten' haben keineswegs eine eigene Ideologie, die von der des übrigen Spektrums abweicht", zitiert die Bundeszentrale für Politische Bildung den Sozialwissenschaftler Jan Schedler von der Ruhr-Universität Bochum.
    Ihre nur rudimentäre Ideologie kennzeichnet eine besonders ausgeprägte Demokratiefeindschaft und orientiert sich an einem rassenbiologisch geprägten völkischen Menschenbild und der Idee eines "Nationalen Sozialismus". Daraus abgeleitet werden ausländerfeindliche, antisemitische, antiamerikanische und auch antikapitalistische Positionen sowie Vorstellungen eines autoritären Staatsaufbaus. Die "Autonomen Nationalisten" sehen sich in diesem Zusammenhang als Kämpfer für eine "neue Ordnung".
    Neonazi-Demonstration von sogenannten Freien Kameradschaften und Autonomen Nationalisten in Wittstock (Brandenburg)
    Neonazi-Demonstration von sogenannten Freien Kameradschaften und "Autonomen Nationalisten" in Wittstock (Brandenburg) (imago/Christian Ditsch)
    Insgesamt bleiben die Positionen der "Autonomen Nationalisten" jedoch recht diffus. In Teilen sind die "Autonomen Nationalisten" sogar erheblich rückwärtsgewandter als andere Rechtsextreme, da sie unmittelbar an die NS-Ideologie anknüpfen. Im Gegensatz etwa zur NPD bekennen sich die "Autonomen Nationalisten" sogar offensiv zum historischen Nationalsozialismus bekennen. Der Begriff "Nationaler Sozialismus" dient dabei lediglich als juristisch unangreifbare Formulierung.
    Bundeskriminalamt: Erhebliches Gefährdungspotenzial
    Die "Autonomen Nationalisten" sehen den gewaltsamen Kampf gegen politische Gegner als eine ihrer Hauptaufgabe an und sich selbst als Nachfolger von Hitlers SA-Schlägertrupps. Die Anwendung von Gewalt wird als Selbstverteidigungsrecht gegen ein vermeintlich repressives staatliches System gesehen, zu dem zum Beispiel auch Polizeibeamte gehören. Gleichzeitig wird Gewalt als effektives Mittel gesehen, um die eigenen politischen Ziele durchzusetzen.
    Die hohe Gewaltbereitschaft der "Autonomen Nationalisten" zielt daher vor allem auf politische Gegner, Polizei und Journalisten. Das unterscheidet die Gruppierung nach Ansicht von Experten wesentlich von anderen Rechtsextremisten, deren Gewaltbereitschaft sich zumeist gegen Minderheiten richtet, vor allem Menschen mit Migrationshintergrund. Zudem gehen die "Autonomen Nationalisten" professionell und zielgerichtet vor: Politische Gegner und mögliche Ziele werden ausgekundschaftet, Angriffe und Aktionen meist gut geplant. Neben Sachbeschädigung und schwerer Körperverletzung werfen die Sicherheitsbehörden den "Autonomen Nationalisten" unter anderem Vorbereitung von Sprengstoff-Anschlägen vor.
    Das Bundeskriminalamt sieht inzwischen ein erhebliches Gefährdungspotenzial durch die "Autonomen Nationalisten". Laut der Bundeszentrale für Politische Bildung warnt die Behörde in einer vertrauliche Lageeinschätzung "nur für den Dienstgebrauch" explizit vor "selbstradikalisierten Einzeltätern" und der "Bildung terroristischer Kleingruppen" und stellt fest: "Mit Tötungsdelikten ist zu rechnen." Das Bundesamt für Verfassungsschutz schätzt, dass die Gruppierung deutschlandweit inzwischen rund 1000 Anhänger hat, was knapp einem Fünftel der gesamten gewaltbereiten Neonazi-Szene entspräche.
    Quellen: Dlf, Bundeszentrale für Politische Bildung, Konrad Adenauer Stiftung, Bundesamt für Verfassungsschutz