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Rechtsextremismus

Rechtsextremisten in Deutschland: Statistisch betrachtet schlagen sie zwei- bis dreimal zu - pro Tag. Sie verletzen oder töten Menschen, weil sie anders aussehen, anders denken oder einfach nur zufällig am falschen Ort sind. So war es im vergangenen Jahr, und so geht es in diesem Jahr nahtlos weiter. Alltag in Deutschland:

Claudia Sanders |
    1. Januar 2001: Zschadraß/Sachsen: Etwa 30 rechtsextreme Jugendliche stellen sich drei Asylbewerbern aus dem Iran in den Weg, bedrohen sie mit einer Schreckschusswaffe, schlagen und treten die Männer. Sebnitz, Sachsen: Zwei unbekannte Täter jagen in der Nacht einen 15-Jährigen durch den Ort, werfen ihn zu Boden, treten ihn mit Springerstiefeln und rufen antisemitische Parolen Bad Wilsnack/Brandenburg Eine Gruppe von Jugendlichen zieht durch die Stadt und grölt Nazi-Parolen. Ein Passant, der dagegen einschreitet, wird leicht verletzt. Gelsenkirchen/Nordrhein-Westfalen Während einer Sylvesterfeier werfen Rechtsextreme von einem Balkon Feuerwerkskörper in die auf dem Bürgersteig stehende Menschenmenge und brüllen "Sieg Heil". Karlsruhe/Baden-Württemberg: Jugendliche schießen Sylvesterraketen durch ein geöffnetes Fenster in das Haus einer türkischen Familie. Ein Kindersitz auf dem Balkon verbrennt.

    2. Januar: Essen, Nordrhein-Westfalen Drei Skinheads verprügeln einen 14-Jährigen in der Straßenbahn, weil er einen Aufkleber "Nazis verpisst euch" auf seinem Rucksack hat. Magdeburg, Sachsen-Anhalt In einer Straßenbahn beleidigt ein 20-Jähriger einen Schwarzafrikaner und schlägt ihm ins Gesicht.

    3. Januar Cottbus, Brandenburg Vier junge Männer verprügeln einen libanesischen Asylbewerber und einen ukrainischen Aussiedler. Velbert, Nordrhein-Westfalen Ein 40jähriger Mann greift im Bus einen Schwarzafrikaner an und beschimpft ihn. Als ein 18-Jähriger dem Ausländer helfen will, wird auch er attackiert.

    6. Januar Greifswald, Mecklenburg-Vorpommern Die Polizei löst eine Feier von 30 Skinheads auf. Die Jugendlichen setzen sich zur Wehr. Dabei wird ein Polizist verletzt. Potsdam, Brandenburg Auf der Straße belästigen zwei junge Männer eine 14-Jährige farbige Schülerin mit rassistischen Sprüchen und schlagen ihr mit der Faust ins Gesicht. Eine Woche später gesteht ein 16-Jähriger die Tat, als Motiv gibt er Ausländerfeindlichkeit an. 7. Januar: Postdam, Brandenburg: Unbekannte werfen einen Brandsatz auf die Trauerhalle des jüdischen Friedhofs in Potsdam. In der Nähe des Tatortes wird ein Bekennerschreiben der rechtsextremistischen "Nationalen Bewegung" gefunden. Der Generalbundesanwalt übernimmt die Ermittlungen.

    Allein aus der ersten Januarwoche sind elf Fälle bekannt geworden, in denen Rechtsextremisten Menschen verletzt haben. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und führt fort, was schon im vergangenen Jahr registriert worden ist:

    "Der Anstieg liegt grob geschätzt bei etwa 50% bei den rechtsextremen Taten, bei den fremdenfeindlichen, antisemitischen Gewalttaten ist der Anstieg nicht ganz so hoch, er liegt bei etwa 40% Anstieg."

    Klaus Neidhard, Leiter der Abteilung Staatsschutz im Bundeskriminalamt. In absoluten Zahlen bedeutet das: Im Jahr 2000 wurden 19.951 rechtsextremistisch motivierte Straftaten begangen, im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung um 59 Prozent. Fast zwei Drittel dieser Delikte zählen aber zu den sogenannten Propagandadelikten: also § 86a Strafgesetzbuch, mit ihm wird beispielsweise das Beschmieren von Häuserwänden und Autos mit Hakenkreuzen geahndet. Auch die Zahl der Gewaltdelikte ist sprunghaft angestiegen, nämlich auf 998 Vorfälle. Nur Anfang der Neunziger Jahre wurden noch mehr Gewalttaten registriert: 1992, im Jahr der ausländerfeindlichen Krawalle in Rostock-Lichtenhagen waren es knapp 2.600.

    Die Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik, kurz PKS, zeichnen dennoch kein klares Bild der rechtsextremistischen Bedrohung. Sie vermitteln eher nur eine vage Ahnung von dem, was tatsächlich in diesem Land passiert. Schließlich wird nur registriert, was auch auf dem Schreibtisch der Polizisten landet. Was nicht angezeigt wird, bleibt weiter im Dunkeln. Immerhin - so die Erkenntnis von Bundesinnenminister Otto Schily - ist die Bereitschaft in der Bevölkerung gewachsen Straftaten, von Rechtsextremisten anzuzeigen.

    Für die Erfassung derartiger Delikte in der PKS gelten bundesweit einheitliche Richtlinien. Zunächst sammelt aber jeder Polizist für sich allein die Daten und genauso selbständig bewertet er, was denn nun Rechtsextremistisch ist und was nicht. Noch bevor der Fall abgeschlossen ist, werden die Angaben zum jeweiligen Landeskriminalamt geschickt, bevor sie in Wiesbaden beim Bundeskriminalamt landen. Dort werden die Daten in der bundesweiten PKS zusammengeführt - unter der Annahme, dass sich jeder einzelne Polizist und Innenminister an die vorgegebenen, einheitlichen Kriterien gehalten hat. Für die Wiesbadener ist das aber kaum überprüfbar. Außerdem streiten sich selbst die Experten darüber, was denn nun unter "Rechtsextremistisch" tatsächlich zu verstehen ist.

    In der Justiz beispielsweise gibt es den Begriff des Extremismus überhaupt nicht. Dort wird nur von Verfassungswidrigkeit gesprochen. Für Polizei und Verfassungsschutz existierte der Begriff "Extremistisch" viele Jahre auch nicht. "Radikal" hieß bis Anfang der 70er Jahre alles das, was sich am äußersten Rand des politischen Spektrums bewegte - bis zu dem Tag, als der damalige Bundesinnenminister Werner Maihofer in einem Vorwort des Verfassungsschutzberichtes den Begriff des Extremismus prägte. Seither gilt für Polizei und Verfassungsschutzbehörden: "Radikale" werfen keine Bomben. Sie gehen zwar bis an die äußerste Grenze, aber bewegen sich noch innerhalb der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Extremisten dagegen wollen mit Gewalt die Demokratie beseitigen.

    In der Politik- und Sozialwissenschaft ist es komplizierter: Einerseits haben viele Wissenschaftler die Unterscheidung der Sicherheitsbehörden zwischen rechtsradikal und rechtsextrem nicht übernommen. Andererseits muß aus ihrer Sicht schon eine ganze Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein, bevor jemand als "Rechtsradikal" oder "Rechtsextrem" eingestuft wird. Der Politikwissenschaftler Richard Stöss, von der FU Berlin:

    "In der Sozialwissenschaft hat sich der Begriff "Rechtsextremismus" eingebürgert, damit meinen wir Einstellungen und Verhaltensweisen, die sich gegen die Demokratie richten und motiviert sind durch nationalistische, völkische, autoritäre Einstellungen, hinzu kommt in der Regel die Verharmlosung des Nationalsozialismus oder wenigstens die Entlastung des Nationalsozialismus und Antisemitismus, es ist also ein breites Spektrum von Einstellungen und von politischen Zielen, die sozusagen als Bündel unter dem Begriff "Rechtsextrem" laufen."

    Ein rechtsextremes "Einstellungsmuster" erfordert nach der Definition von Stöss sechs Kriterien. Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind nur zwei davon.

    "Wir müssen sehen, dass, wenn man mal davon ausgeht, dass rechtsextreme Einstellungen insgesamt 12, 13 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung ausmachen, dass das natürlich einen Großteil der Bevölkerung betrifft, und sich in allen gesellschaftlichen Schichten findet: Sie finden es in der Arbeiterschicht, selbst in der gewerkschaftlichen, organisierten Arbeiterschicht, sie finden es in den mittleren und oberen sozialen Schichten, dort etwas weniger als in den unteren, aber wir können schon sagen, dass alle gesellschaftlichen Gruppen im großen und ganzen davon betroffen sind."

    Noch höher seien die Werte, wenn nur einzelne Merkmale untersucht werden:

    "Wenn man jetzt nicht den Rechtsextremismus als Ganzes betrachtet, sondern nur die Fremdenfeindlichkeit nimmt, dann gehen die Werte auf bis zu 30 %, 35% hoch. Ich habe ja vorhin gesagt, Rechtsextremismus schließt alles ein, also auch Nationalsozialismus, aber wenn wir jetzt nur die Fremdenfeindlichkeit rausnehmen, dann können wir sagen, dass mindestens 1/3 ,wenn nicht sogar mehr, der wahlberechtigten Bevölkerung solche Einstellungen hat.

    Nach dem Vorbild der Politik- und Sozialwissenschaft wollen nun auch Polizei und Verfassungsschutz stärker differenzieren. Seit Monaten beraten Experten aus Bund, Ländern und Verfassungsschutzbehörden darüber, wie die Erhebungskriterien für die Polizeiliche Kriminalstatistik verändert werden können - so verändert, damit ein möglichst genaues Bild, über extremistische Aktivitäten gezeichnet werden kann. Nicht zuletzt die heftige Kritik an der PKS hat zu diesem Schritt geführt.

    So zählte das Bundesinnenministerium - auf der Basis der PKS- bis zum vergangenen Herbst 25 Menschen, die seit der Wiedervereinigung durch Rechtsextremisten getötet worden sind. Die Recherchen zweier Tageszeitungen - Frankfurter Rundschau und Tagesspiegel - kamen jedoch zu einem ganz anderen Ergebnis: Ihrer Rechnung nach sind seit 1990 insgesamt 93 Menschen Opfer rechtsextremer Gewalttäter geworden. Während der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes räumte Bundesinnenminister Otto Schily ein, dass er wohl die Zahlen nach oben korrigieren müsse: 36 Tote seien zu beklagen.

    Im Mai wollen die Innenminister der Länder über ein neues Konzept zur Datenerhebung in der PKS entscheiden. Der Trend ist eindeutig: Weil es auf ein Bündel von Kriterien ankommt, werden künftig weniger Delikte automatisch unter der Rubrik "Rechtsextrem" eingestuft. Hartwig Möller, der Chef des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes:

    "Die Polizei zum Beispiel, in ihrer Definition, beim subjektiven Tatbestand, also der Motivation, der inneren Absicht des Täters, muss der Vorsatz zur Systemüberwindung gegeben sein. Also, dass man bei einer Tat den Willen haben muß, das System Bundesrepublik mit der freiheitlichen, demokratischen Grundordnung überwinden zu wollen."

    Ausschlaggebend wird also die Motivation der Tatverdächtigen sein, ob sie als "Rechtsextremistisch" eingestuft werden oder nicht. Wer einen Ausländer durch die Stadt hetzt, würde nur dann als "Rechtsextremist" in den Akten geführt werden, wenn er die Demokratie als Solche ablehnt. So soll es wenigstens bei fremdenfeindlichen Taten in Zukunft gemacht werden, wenn es nach dem Willen der Experten von Bund und Ländern der Innenministerkonferenz geht. Einig war man sich auch noch in einem anderen Punkt: Propagandadelikte und antisemitische Straftaten sollen auch weiterhin automatisch unter "Rechtsextrem" verbucht werden.

    Diese Änderung bedeutet zwar, dass in Zukunft weniger Striche in der Rubrik Extremismus gemacht werden, aber ein "Reinwaschen" der Statistik soll es trotzdem nicht geben, das könnten neu eingeführte Kriterien in der PKS verhindern: zum Beispiel die "politisch motivierten Straftaten". Klaus Neidhard vom Bundeskriminalamt

    "Wir erfassen alles mögliche: Protest gegen Kernkraft, Umweltaktionen, Aktionen im Rahmen der Globalisierungsdiskussion, wir erfassen mit dem neuen Meldedienst alle möglichen Kategorien, die dann die Zuständigen, Polizei, Verfassungsschutz, später auswerten können."

    Damit soll vermieden werden, jeden politisch motivierten Täter gleich als Extremisten abzustempeln, ihn zu stigmatisieren und damit noch weiter an den Rand der Legalität zu treiben. Beispielsweise ein Bauer, der mit seinem Traktor eine Straße blockiert um einen Atommüll-Transport zu verhindern, hat damit eine politisch motivierte Straftat begangen. Nach dem alten Schema der PKS würde er unter "Linksextremist" verbucht werden. Damit käme seine Akte über kurz oder lang zum Verfassungsschutz. Dies halten Experten für völlig überzogen: Die Unterscheidung zwischen "Extremisten" auf der einen Seite und "politisch motivierten Straftaten" auf der anderen Seite sei da viel genauer.

    Und noch eine weitere Rubrik soll die PKS zukünftig enthalten:

    "Unter dem Begriff Hass-Kriminalität fassen wir, wie die Briten oder Amerikaner, Straftaten zusammen, die gegen Personen verübt werden, allein auf Grund ihrer Andersartigkeit, der sexuellen Orientierung, anderer politischer Meinung, weil sie vielleicht einen anderen sozialen Status haben, Obdachlose. Die Andersartigkeit als Anknüpfungsmerkmal. Wir sehen diese Straftaten als politisch motiviert, insofern, als dass die Straftäter in aller Regel auch damit verbinden, dass diese Personengruppen bestimmte Rechte nicht haben sollen: Aufenthaltsrecht, überhaupt keine Existenzberechtigung oder keine staatlichen Leistungen in Anspruch zu nehmen, insofern ordnen wir die Hasskriminalität der politisch motivierten Kriminalität unter, das ist ein kriminologischer Ordnungspunkt, um Strategien zu entwickeln, diese Typen von Straftaten zu bekämpfen."

    Wenn die Innenminister der Länder diesem Konzept im Mai zustimmen, dann könnten diese Richtlinien für die PKS rückwirkend zum Jahresbeginn 2001 in Kraft treten. Doch auch diese Regeln würden den größten Schwachpunkt der PKS wohl nicht beheben: Die Art und Weise wie die jeweiligen Polizeistationen und Landesministerien damit umgehen.

    Immerhin gibt es heute schon einheitliche Kriterien, nach denen die Daten in der PKS zusammengestellt werden sollen. Beispielsweise müssten alle Propagandadelikte unter "Rechtsextrem" abgehakt werden: Doch manche Länder machen das einfach nicht. Andere wiederum verbuchen betrunkene Täter grundsätzlich nicht unter "Rechtsextrem", ganz gleich welche Straftat sie auch begangen haben.

    Denn nicht nur ein Ministerpräsident, sondern auch jeder Streifenpolizist weiß, welche fatalen Folgen die Polizeiliche Kriminalstatistik haben kann: Jeder Strich mehr in der Spalte "Rechtsextrem", kann das Aus für eine ganze Region bedeuten. Nicht nur weil dort vielleicht Neonazis randalieren, sondern weil mit dem Ruf, eine "rechte" Stadt zu sein, das Geschäft leidet: Die Touristen bleiben aus und potentielle Investoren verzichten dankend auf solch einen schlecht beleumundeten Standort.

    Wer sich darüber klar ist, welchen politischen Sprengstoff die PKS in sich birgt, der überlegt genau, welches Delikt er welcher Rubrik zuordnet. Kein Wunder also, dass die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik immer nur vage Anhaltspunkte für das tatsächliche Geschehen sein können. Da mögen die Erfassungskriterien noch so präzise sein.

    Experten sehen aber noch eine andere Gefahr - einen schleichenden Prozess, der sich langsam, aber unaufhörlich fortgesetzt hat. Hartwig Möller, Chef des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes:

    "Ich glaube schon, dass die Toleranzschwelle in der Bevölkerung, was man bereit ist hinzunehmen, sich nach rechts verlagert hat, dass man etwas als normal befindet oder zulässig unterstützenswert, was früher auf einen offenen Widerspruch der Bevölkerung und der politischen Mitte gestoßen wäre."

    1. März 2001 München, Bayern Ein 21jähriger Skinhead schießt mit seiner Gaspistole auf eine 15jährige Schülerin, eine Punkerin.

    3. März Münster, Nordrhein-Westfalen Als ein 25-Jähriger Hitler-Parolen skandiert, wollen ihn Passanten daran hindern. Er bedroht sie daraufhin mit einem Messer.

    4. März Regensburg, Bayern Eine Gruppe von etwa 15 Neonnazis greift vor einer Gaststätte einen Türken an. Sie schlagen ihm eine Bierflasche über den Kopf, verprügeln ihn und treten immer wieder auf ihr Opfer ein. Nach Polizeiangaben, habe die Neonazis die bloße Anwesenheit des Türken gestört