Dabei liegt der Ton auf dem Wort "Rechtseinrichtung". Gefoltert wurde in Deutschland ja auch noch von den Schergen der Gestapo. Gefoltert wurde und wird auch in unserer Zeit noch unter vielen anderen totalitären und autoritären Regimen... Aber diese Folterungen geschahen und geschehen heimlich, jenseits der Gesetze... Die "peinliche Frage" beruhte dagegen auf ordnungsgemäß publizierten päpstlichen Bullen (und) kaiserlichen Privilegien... Die Folter im Sinne unserer Betrachtungen war also geltendes Recht.
Das Aufkommen der Folter im 14. Jahrhundert, ihre Rechtfertigung und Praxis, das wachsende Bewusstsein für ihre Fragwürdigkeit und endlich ihre Abschaffung am Ende des 18. Jahrhunderts werden instruktiv dargestellt. Der Autor, der Rechtsdezernent der Stadt Regensburg war, beginnt mit der Schilderung von Folterfällen aus Regensburg und gibt viele andere Beispiele.
Weil im Mittelalter ungeschriebenes Gewohnheitsrecht vorherrschte, das regional sehr unterschiedlich sein konnte, ist die Einführung der Folter nicht auf ein bestimmtes Gesetz zu datieren. Für die allmähliche Herausbildung des Rechtsinstituts nennt der Autor drei Entwicklungslinien: Die Folter fand Eingang in das kirchliche Recht, mit dem Ketzer verfolgt wurden. Daneben begann eine rechtswissenschaftliche Rezeption des spätantiken römischen Rechts, das die Folter von Sklaven, später auch von Freien kannte. Außerdem entwickelte sich im Kampf gegen so genannte "landschädliche Leute", die als Straßenräuber Handel und Verkehr unsicher machten, ein von Staats wegen betriebenes Strafverfahren.
Für eine Verurteilung forderte das herkömmliche Beweisrecht zwei Augenzeugen oder besser noch ein Geständnis. Letzteres galt als "Königin" aller Beweise. Da es aber nur selten zwei unmittelbare Tatzeugen gab und eine Verurteilung auf Grund von Indizien - und seien sie noch so schwerwiegend - unzulässig war, ging man daran, den Verdächtigen, der seine Unschuld beteuerte, "peinlich" zu befragen. Zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts wurde überall in Deutschland gefoltert – oft willkürlich und exzessiv, von schlecht ausgebildeten Richtern, die zu Tisch gingen, während ihre Delinquenten den Launen der Scharfrichter ausgeliefert waren. Um dem entgegenzusteuern, wurde 1532 die Carolina, die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. verabschiedet.
Die Carolina hat die Folter nicht abgeschafft, aber für ihren Gebrauch eine Reihe von Kautelen zu Gunsten des Angeklagten festgelegt und dadurch die herrschende Willkürpraxis erheblich eingeschränkt.
Zum Beispiel sollte die peinliche Befragung nur angewandt werden, wenn schwerwiegende Verdachtsgründe vorlagen und wenn dem Angeklagten zuvor Gelegenheit gegeben worden war, sich durch ein Alibi oder dergleichen zu entlasten.
Dass die Folter gegen Verdächtige einer vorweggenommenen Strafe gleichkommt, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten, oder dass Folter die Menschenwürde verletzt – grundsätzliche Einwände wie diese kamen erst in der Debatte um die Abschaffung der Folter auf. Der Autor zitiert einflussreiche Kritiker wie Juan Luis Vives, Michel de Montaigne oder Cesare Beccaria. Wer sich indes näher über den Prozess der Aufklärung, über die Motive informieren will, die zur Abschaffung der Folter in Europa führten, findet in der bereits vor vier Jahren erschienenen Studie "Humanität und Staatsräson" von Mathias Schmoeckel eine vorzügliche Lektüre.
Alles in allem gibt das Buch von Dieter Baldauf eine brauchbare Einführung. Etliche Schwächen sind aber nicht zu übersehen: Das Kapitel über die Hexenprozesse wirkt überdehnt und referiert nur allzu Bekanntes. Außerdem finden sich unverständliche Invektiven gegen den "großen Menschenfreund" Goethe, dem, weil er einmal die Todesstrafe befürwortete, unterstellt wird, er sei zugleich ein Sympathisant der Folter gewesen. Mit Blick auf die Gegenwart schreibt Dieter Baldauf:
Heute wird in unseren Breitengraden niemand bestreiten, dass die Anwendung physischer Gewalt zur Erzwingung von Aussagen mit der Würde des Menschen unvereinbar ist.
Niemand? Man glaubt es gern, es stimmt aber schon seit einiger Zeit nicht mehr. Der Heidelberger Staatsrechtslehrer Winfried Brugger beschäftigt sich seit Mitte der neunziger Jahre in etablierten Fachblättern mit der Frage, ob der Staat ausnahmsweise foltern dürfe. Seine Antwort lautet: In gewissen Fällen dürfe der Staat nicht nur, er müsse sogar foltern. Denn das Leben Unschuldiger sei höher zu veranschlagen als die Würde von Terroristen, die der Polizei einfach nicht verraten wollen, wo sie eine Zeitbombe versteckt haben. Auch in seiner jüngsten Publikation präsentiert sich Brugger als Vordenker der Folter. Der schmale Band "Freiheit und Sicherheit" bietet, so der Untertitel, "eine staatstheoretische Skizze mit praktischen Beispielen". Die Skizze referiert Ideengeschichte und hat die nach dem
11. September übliche Schlagseite: Sicherheit ist das höchste aller Staatsziele. Gleich mit dem ersten der "praktischen Beispiele" kommt Brugger auf sein Steckenpferd zu sprechen – es heißt jetzt "lebensrettende Aussageerzwingung". Auf fünfzehn Druckseiten fasst er noch einmal seine Rechtsansichten über die Folter zusammen. Man muss das gelesen haben. Diese juristische Rabulistik ist der schlagende Beweis dafür, wie modern die Rücknahme der Aufklärung klingen kann:
Ein Dammbruch könnte nicht nur bei Zulassung eines einzigen Falles von Aussageerzwingung drohen, sondern auch bei Versagung staatlicher Hilfe... Dann stünde der Staat in Gefahr, sein Gewaltmonopol aufgeben und Privatgewalt... wieder zulassen zu müssen - ein wahrer Rückschritt ins Mittelalter...
Dass "lebensrettende Aussageerzwingung" nicht erst gegen Terroristen, sondern bereits gegen gewöhnliche Kriminelle zu einer Versuchung werden kann, hat der ehemalige Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner erfahren. Im Entführungsfall Jakob von Metzler unter Erfolgsdruck geraten und der Situation offenbar nicht gewachsen, ordnete er an, dem Tatverdächtigen die Zufügung von Schmerzen anzudrohen: Damit dieser endlich den Aufenthaltsort des Kindes preisgebe. Daschner muss sich deswegen zur Zeit vor dem Landgericht Frankfurt wegen Nötigung verantworten. Adrienne Lochte, ehemalige Polizeireporterin der FAZ, hat über den Mord an dem Bankiersohn eine Fallstudie geschrieben. Das Buch bietet die in diesem Genre leider übliche Mischung aus Dokumentation, fiktiver Reportage und dramaturgisch aufbereiteten Dialogen. Es ist allerdings gut recherchiert und leuchtet den Hintergrund aus. Wie aber der gewiss traurige, doch gewöhnliche Kriminalfall eines Kindermörders zum einzigartigen Skandalfall eines Polizeivizepräsidenten wurde, dieser qualitative Sprung wird nicht deutlich: Weil die Autorin den Konflikt und die Sichtweise des Polizeibeamten ein bisschen zu gut versteht. Dass alsbald von Folter die Rede war, dafür macht sie nicht etwa das Versagen Daschners, sondern die Pressekampagne eines Verteidigers verantwortlich.
Inzwischen ist die deutsche Folterdebatte in einem angesehenen Kommentar zum Grundgesetz angekommen: Im Werk von "Maunz/Dürig" behauptet der Staatsrechtslehrer Matthias Herdegen, dass Folter wegen ihrer "auf Lebensrettung gerichteten Finalität" ausnahmsweise mit der Menschenwürde kompatibel sein könne. Wie hübsch und harmlos das formuliert ist. Man mag gar nicht daran denken, dass, wo immer deutsche Juristen über die Interpretation des Grundgesetzes nachsinnen, dieser Kommentar nicht fehlt.
All dies zeigt auf irritierende Weise: Wer sich mit der Geschichte der Folter beschäftigt, stößt unversehens auf ihre Gegenwart.
Horst Meier war das über: Dieter Baldauf, Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, erschienen im Böhlau Verlag. Das Buch hat 235 Seiten und kostet 24,90 Euro. Außerdem erwähnt wurden: Mathias Schmoeckel, Humanität und Staatsräson. Die Abschaffung der Folter in Europa, ebenfalls aus dem Böhlau Verlag das Buch hat 668 S. für 65 Euro. Winfried Brugger, Freiheit und Sicherheit. Eine staatstheoretische Skizze mit praktischen Beispielen, 105 S. für 24 Euro von der Nomos Verlagsgesellschaft und Adrienne Lochte, Sie werden dich nicht finden. Der Fall Jakob von Metzler, 251 Seiten für 18,90 Euro aus dem Droemer Verlag.
Dieter Baldauf: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte.
Böhlau Verlag, Köln 2004, 235 S., 24,90 Euro
Mathias Schmoeckel: Humanität und Staatsräson. Die Abschaffung der Folter in Europa.
Böhlau Verlag, Köln 2000, 668 S., 65 Euro
Winfried Brugger: Freiheit und Sicherheit. Eine staatstheoretische Skizze mit praktischen Beispielen.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2004, 105 S., 24 Euro
Adrienne Lochte: Sie werden dich nicht finden. Der Fall Jakob von Metzler.
Droemer Verlag, München 2004, 251 S., 18,90 Euro.