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Rechtskonflikte mit politischer Dimension

Der britische Rechtswissenschaftler William A. Schabas hat die Entwicklung des internationalen Strafrechts nachgezeichnet. Entstanden ist ein Buch, das allen Juristen, Historikern und NGO-Aktivisten zu empfehlen ist, die sich mit internationalen Großverbrechen auseinandersetzen.

Von Conrad Lay | 06.05.2013
    William Schabbas resümiert die knapp 100-jährige Geschichte des internationalen Strafrechts. Es handelt sich um ein "junges" Recht, das erst nach dem Ersten Weltkrieg entstand, als man - im Rahmen des Versailler Vertrages - versuchte, den deutschen Kaiser strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, was bekanntlich scheiterte. Seitdem hat dieses Recht etliche Etappen hinter sich gebracht. Einige davon bereitet Schabas auf. Selten lässt sich so deutlich das Werden des Rechts und seine Abhängigkeit von politischen Machtverhältnissen nachverfolgen.

    30. September 1946, im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess werden die Urteile verkündet:

    - Angeklagter Hermann Wilhelm Göring, gemäß den Punkten der Anklageschrift, unter denen sie für schuldig befunden wurden, verurteilt sie das Internationale Militärgericht zum Tode durch den Strang.

    - Angeklagter Rudolf Höß, gemäß den Punkten der Anklageschrift …


    Die frühe Phase der internationalen Strafjustiz: die Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg und Tokio. William Schabas analysiert und fragt kritisch nach: Kann man das Tribunal von Nürnberg als "Siegerjustiz" bezeichnen? Warum wurde die Sowjetunion nicht für die Massaker im Wald von Katyn verurteilt? Warum könnte die Begrenzung auf die Hauptkriegsverbrecher der Achsenmächte sinnvoll gewesen sein?

    Nach diesen Prozessen geriet die internationale Strafverfolgung ins Stocken. Erst nach Ende des Kalten Krieges wurden mehrere internationale Strafgerichtshöfe eingerichtet, zunächst die Ad-hoc-Strafgerichte zu den Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda. Seit dem Jahr 2002 gibt es den permanent tagenden Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

    Mai 2011, UN-Tribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag:
    "Guten Morgen, Euer Ehren, Ich rufe den Fall Nr.IT 0992i auf, die Anklage gegen Ratko Mladic."


    Zwei Sicherheitsbeamte stützten den Angeklagten, als er den Gerichtssaal betrat. In grauem Anzug und Krawatte, eine Baseballkappe auf dem Kopf.

    "Ich bin General Radko Mladic, die ganze Welt weiß, wer ich bin."

    Auch die aktuelle Phase der internationalen Strafjustiz analysiert Schabas anhand von viel diskutierten Fragen:
    Ist der Frieden das Ziel der Strafjustiz oder ist es Gerechtigkeit? Soll man, wie im innerstaatlichen Strafrecht, noch weitergehende Rechtsziele wie etwa Vergeltung und Sühne, Resozialisierung und Prävention verfolgen? Ist ein internationales Straftribunal zugleich "Souverän der historischen Wahrheit"?

    Auch ist umstritten, in welchen Ländern und bei welchen Taten die internationale Justiz eingreifen soll und was die Großmächte dazu sagen werden. Soll die Justiz nur die obersten Politiker und Militärs verfolgen? Soll sie erst ab einer bestimmten Schwere der Tat eingreifen? Fragen über Fragen, denen sich William Schabas widmet.

    Ob die Verbrechen in Ruanda oder Ex-Jugoslawien, zu denen es Prozesse gab und gibt, oder die in Irak und Syrien, die nicht aufgearbeitet wurden. In all diesen Fällen wird deutlich, dass die internationale Strafjustiz von den politischen Rahmenbedingungen abhängig ist. Der Autor bringt eine besondere Sensibilität für das Thema mit: Seine Großeltern waren einst vor antisemitischen Pogromen in Ostgalizien geflohen; er selbst engagierte sich als Mitglied der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Sierra Leone und stand vor der Frage: Unter welchen Umständen ist eine Amnestie gerechtfertigt beziehungsweise sollte man auf eine gerichtliche Aufarbeitung verzichten?

    Bei der Lektüre entsteht der Eindruck, als würde ob man der Rechtsgöttin Justizia zusehen, wie sie mit ihrer Waage hantiert, und man sehen könnte, wie schwer die Argumente mal nach dieser, mal nach jener Seite der Waagschale ausschlagen. Schabas zitiert die Kommission von Sierra Leone mit den Worten:

    Wer argumentiert, Gerechtigkeit dürfe unter keinen Umständen gegen Frieden eingetauscht werden, muss darauf vorbereitet sein, die wahrscheinliche Verlängerung eines bewaffneten Konflikts zu rechtfertigen.

    Dagegen führt Schabas das Argument an, dass ein Konflikt weiter schwelen könnte, wenn schwere Verbrechen nicht bestraft würden und stellt somit heraus: Er unterscheidet danach, ob ein Opfer wie Nelson Mandela großzügig ein Amnestieangebot mache oder ob ein Tyrann wie Augusto Pinochet selbstgerecht eine Amnestie für sich verkünde.

    Im Einzelnen sind die Wertentscheidungen, die die Juristen zu treffen haben, durchaus strittig. So geht Schabas etwa dem Argument nach, ohne die Bestrafung der Personen, die schwere Verbrechen begangen hätten, sei ein Frieden brüchig und der ungesühnte Konflikt werde noch lange in der Gesellschaft weiterschwelen. Er schreibt:

    Im Vordergrund stehen also nicht Gerechtigkeit und Vergeltung, sondern Nützlichkeitserwägungen. Wer sich diese Perspektive zu eigen macht, lehnt eine Amnestie nicht aus grundsätzlichen Erwägungen ab, sondern weil sie nicht die erwarteten Vorteile bringt.

    Als Beispiel für ein Land, das ohne Bestrafung der Täter einen Konflikt beendete, nennt Schabas Spanien, das einen blutigen Bürgerkrieg und im Anschluss daran eine über 30-jährige Diktatur durchlebte. Der Autor kommentiert:

    Natürlich gibt es Opfer beziehungsweise ihre Nachkommen, deren Anspruch auf Gerechtigkeit unerfüllt blieb, und auch einiges Gegrummel aus juristischen und zivil-gesellschaftlichen Kreisen. Dennoch hat das Land einen nachhaltigen sozialen Frieden erreicht.

    "Gegrummel" - das ist ein verräterisch unscharfes Wort, zumindest aus dem Mund eines ansonsten sorgfältig argumentierenden Juristen. Zugleich ist es ein weiterer Beweis dafür, wie sehr Werturteile und politische Abwägungsfragen in die internationale Strafjustiz eingehen. William Schabas legt die aktuellen Rechtskonflikte um die internationale Strafgerichtsbarkeit in wünschenswerter Deutlichkeit offen und stellt dabei deren politische Dimension in den Mittelpunkt.

    Auf dieser Basis kann man sich trefflich streiten - etwa darüber, ob Spanien mit einer gerichtlichen Aufarbeitung seiner Diktatur nicht besser gefahren wäre oder ob tatsächlich ein "Zuviel an Gerechtigkeit den Frieden gefährden" kann. Ein Buch, das allen Juristen, Historikern und NGO-Aktivisten zu empfehlen ist, die sich mit internationalen Großverbrechen auseinandersetzen.

    William A. Schabas: "Kein Frieden ohne Gerechtigkeit? Die Rolle der internationalen Strafjustiz"
    Hamburger Edition, 104 Seiten, 12 Euro. ISBN: 978-3-868-54256-1